16. Kapitel

Nachdem sie am Telefon mit ihrer Mutter gesprochen hatte, verbrachte Francesca den letzten Tag im April in Tränen aufgelöst. Antonina hatte ihr Wörter entgegengeschleudert, wie sie sie noch nie zuvor von ihrer Mutter gehört hatte. Alles in allem hatte sie ihrer Tochter strikt untersagt, einen Muslim zu heiraten. Am Ende hatte Antonina den Hörer einfach beiseitegelegt, und Fredo war an den Apparat gegangen.

»Deine Mutter ist sehr aufgebracht, Kleines, aber mit der Zeit wird sie sich an den Gedanken gewöhnen, du wirst sehen. Ich werde sie umstimmen.«

Francesca wusste, dass es nicht so sein würde: Antonina würde niemals einen Muslim als Schwiegersohn akzeptieren. Warum all diese Probleme? Was tat die Religion zur Sache, wenn sie sich aufrichtig und von Herzen liebten? Was ihr, Francesca, wichtig war, schien keinen zu interessieren, weder ihre noch Kamals Familie. Sie konnte nicht aufhören zu weinen, und in ihren Tränen verschwammen der Kummer über die Worte ihrer Mutter und die Sehnsucht nach Kamal. Er hatte ihr versprochen, in ein paar Tagen wieder da zu sein, und nun war er seit Wochen weg. Francesca fragte sich, ob es von nun an immer so sein und ihr Leben nur aus Warten bestehen würde.

Später am Tag rief Sofía an, die durch Fredo von Francescas Heiratsplänen erfahren hatte. »Ruf sie an«, hatte er gesagt, »es wird ihr guttun.« Nach so langer Zeit die Stimme ihrer Freundin zu hören, hellte Francescas Stimmung ein wenig auf. Sofía erwähnte Aldo mit keinem Wort, teils um sie zu schonen, teils, weil ihr die Vermählung ihrer Freundin mit einem saudischen Prinzen interessanter erschien als die traurige Existenz ihres Bruders.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Genf, wo er Gespräche wegen der OPEC und des Ölgeschäfts geführt hatte, war Kamal nach Paris weitergereist, um wichtige Privatgeschäfte zu regeln. Ungeduldig sehnte er die Abende herbei, an denen er Francesca anrufen und sich nach dem Baby erkundigen konnte. Gesprächig wie selten zählte er auf, was er bereits alles gekauft hatte: eine komplette Erstausstattung, außerdem eine Wiege und einen Stubenwagen, so viele Spielsachen, dass er nicht mehr wisse, wohin damit, und darüber hinaus einen Kinderwagen, ein Goldkettchen mit Anhänger, wie es ihm schon sein eigener Vater zur Geburt geschenkt habe, und einen Laufstall für die Zeit, wenn es seine ersten Schritte machte. Francesca hörte ihm geduldig zu, um dann zu fragen: »Wann kommst du zurück?«, worauf Kamal jedes Mal antwortete: »Bald.« Aber an diesem Tag rief Kamal tatsächlich an, um ihr zu sagen, dass er am nächsten Tag zurück sein würde.

Abends gegen zehn setzte sie sich hin, um einen Brief von Marina zu beantworten und ihr von der bevorstehenden Hochzeit und der Schwangerschaft zu erzählen. Sara kam wie immer mit leisen Schritten ins Zimmer und legte ihr die Hand auf den Bauch.

»Wie fühlst du dich?«, fragte sie flüsternd, um die Stille nicht zu stören.

»Jetzt, wo Kamal zurückkehrt, besser. Aber ich bin so aufgeregt, dass ich die ganze Nacht kein Auge zutun werde.«

»Das ist gar nicht gut fürs Baby«, stellte die Algerierin fest. »Ich koche dir einen Kamillentee, das beruhigt.«

Sara ging in die Küche und traf dort auf Malik, der am Tisch saß. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu und ging dann wortlos an ihm vorbei. Sie wusste, dass Malik als fanatischer Anhänger der wahhabitischen Lehre ein enthaltsames Leben führte: Er lehnte Luxus und Ausschweifungen ab, aß nur maßvoll, rauchte und trank nicht, wettete nicht, verabscheute Musik und Tanz, hielt sich streng an die täglichen fünf Gebete und den Fastenmonat Ramadan und pilgerte regelmäßig nach Mekka. Häufig saß er mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden in seinem Zimmer und meditierte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er alles hasste, was aus dem Westen kam, insbesondere die Frauen, die er »Konkubinen des Teufels« nannte. Nach seiner Ansicht lockten diese die Männer mit ihren halbnackten Körpern, reizten mit ihren bemalten Gesichtern, betörten mit schweren Parfüms und stellten schamlos ihre Sinnlichkeit zur Schau.

»Guten Abend, Sara«, grüßte er sie ungewohnt freundlich, doch der Algerierin entging nicht, dass er nervös wirkte. »Was machst du da?«

Sara warf ihm erneut einen misstrauischen Blick zu, bevor sie antwortete. »Ich koche einen Tee für Francesca.«

Malik stand auf und lief ziellos in der Küche auf und ab. Nervös knetete er seine Hände und biss sich auf die Unterlippe. Als er hörte, wie sie den Tee in die Tasse goss, blieb er wie angewurzelt stehen.

»Kasem sucht dich«, sagte er plötzlich. »Los, Sara, geh schon, Kasem will dich sprechen«, drängte er sie zur Eile. Als die Frau die Küche verlassen hatte, zog er eine karamellfarbene Ampulle aus der Hosentasche. »Allah sei gepriesen für diese Gelegenheit«, stieß hervor. Den ganzen Tag hatte er bereits auf solch einen Moment gewartet. Er brach die Glasampulle auf, schüttete den Inhalt in den Kamillentee und rührte um. Dann sammelte er die Reste der Ampulle zusammen, steckte sie in die Tasche und sah sich noch einmal um, bevor er die Küche durch die Hintertür verließ.

Sara, die verblüfft festgestellt hatte, dass Kasem gar nichts von ihr wollte, blieb überrascht in der Küchentür stehen, als sie sah, dass Malik verschwunden war.

»Dieser Idiot«, murmelte sie und zuckerte den Tee, bevor sie ihn Francesca brachte. »Trink schön aus, meine Liebe, dann kannst du schlafen.«

Francesca beendete den Brief an Marina. Während sie darauf wartete, dass der Kamillentee abkühlte, zog sie sich aus und schlüpfte in Nachthemd und Morgenmantel. Dann setzte sie sich wieder an den Frisiertisch, wo sie einen Brief an ihre Mutter begann. »Wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin«, schrieb sie in der ersten Zeile und trank einen Schluck Tee. Er schmeckte bitterer als sonst. Vielleicht hatte Sara ihn länger ziehen lassen, dachte sie und schrieb weiter.

Nach einer Weile verschwammen die Buchstaben, und Francesca merkte, dass sie die Augen nur mühsam offen halten konnte. Ihre Arme wurden schwer, ein Kribbeln lief durch ihre Beine bis in die Zehenspitzen, und ihr wurde klar, dass sie unmöglich würde aufstehen können. Sie versuchte gegen die Müdigkeit anzukämpfen, die sie überkam, aber ihre Muskeln waren schlaff, und ihr Kopf fühlte sich an wie Watte. Der Füllhalter glitt ihr aus der Hand und verspritzte dicke blaue Flecken, als er zu Boden fiel. Sie betrachtete den Saum des Morgenmantels, der mit Tinte bespritzt war, und beugte sich vor, um ihn zu reinigen. Doch ihr Kopf sank nach vorn, als führte er ein Eigenleben, und schließlich fiel Francesca zu Boden. Sie hatte das Gefühl, von einem endlosen Schlund verschluckt zu werden. Bevor sie das Bewusstsein verlor, empfand sie eine beklemmende Einsamkeit.

Minuten später schlüpfte Malik in Francescas Zimmer. Lautlos war er durch die dunkle Botschaft geschlichen. Er wusste genau, wie viele Schritte er machen musste und wo die Möbel standen. Seit Tagen hatte er sich den Weg durch den langen Korridor eingeprägt, der den Dienstbotentrakt mit den Zimmern verband.

Das Bett im Schlafzimmer war unberührt, die Nachttischlampe brannte. Leise ging er vorwärts, bis er Francesca bewusstlos auf dem Boden liegen sah. Er tippte sie mit dem Fuß an und stellte fest, dass sie tief und fest schlief und in den nächsten Stunden nicht aufwachen würde. Er schulterte sie und trat auf den Flur hinaus; falls er Stimmen oder Geräusche hörte, würde er sie einfach liegen lassen und verschwinden.

Mit seiner Beute, die schwer wie ein Sack war, ging Malik zum Hinterausgang, der in den Hof führte. Bevor er hinausschlüpfte, vergewisserte er sich, dass auch der Wächter schlief. Vorsichtig durchquerte er den Park; hier drohte zwar keine Gefahr, aber der Haupteingang wurde von Kader bewacht, al-Sauds Leibwächter. Ein paar Häuser weiter entdeckte er den Mercedes, der wie besprochen dort parkte. Der Kofferraum öffnete sich, und jemand im Wagen ließ das Fenster auf der Fahrerseite einen Spaltbreit herunter.

»Leg sie in den Kofferraum«, befahl eine tiefe Stimme, und Malik beeilte sich, den Auftrag auszuführen. »Jetzt geh zur Botschaft zurück und verhalte dich ganz normal.«

Malik wurde blass. Er hatte geglaubt, dass er auch an der eigentlichen Entführung beteiligt sein würde. Von boshafter Neugier getrieben, konnte er es kaum erwarten, mit eigenen Augen zu sehen, welches grausame Schicksal die »Hure aus dem Westen« erwartete, wie er Francesca seit ihrem Verhältnis mit dem saudischen Prinzen nannte. Er wusste genau, was für ein verdorbenes, teuflisches Wesen sich hinter ihrer zuckersüßen Fassade verbarg. Ihn hatten ihr unschuldiges, mädchenhaftes Betragen, ihre sanfte Stimme, ihre freundliche Art und ihre betörende Schönheit nie täuschen können.

Seit er sie kennengelernt hatte, konnte er Allahs Stimme hören, die ihn vor ihrer verborgenen Schlechtigkeit warnte und ihm auftrug, den Islam und sein Volk vor den Machenschaften dieser Ungläubigen zu retten, die in der klaren Absicht gekommen war, den Glauben zu beschmutzen und mit Füßen zu treten. Beinahe wäre ihr es auch gelungen, und das bei keinem Geringeren als dem Lieblingssohn von König Abdul Aziz. Es würde ihm, Malik, ein Vergnügen sein, sie leiden zu sehen. Aber er war nicht dumm und wusste, dass die Untersuchungen bald auf ihn als Verbindungsmann hindeuten würden, der sie ihren Entführern ausgeliefert hatte. Es konnte unmöglich länger in der Botschaft bleiben.

»Man hatte mir gesagt, ich würde mit euch kommen«, versuchte er zu argumentieren.

»Geh in die Botschaft zurück«, sagte die Stimme noch einmal, »und halt den Mund.«

»Aber …«

»Tu, was ich dir sage!«

Der Mercedes fuhr los, und Malik blickte ihm nach, bis er hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war.

***

Mauricio Dubois saß neben Méchin im Fond seines Wagens. Er versuchte zu verstehen, wie es so weit hatte kommen können, welcher böse Plan hinter all dem steckte. Aber was auch immer die Gründe waren, die Lage war eindeutig: Francesca war entführt worden, daran gab es keinen Zweifel. Während sie nun zum Flughafen von Riad fuhren, um Kamal abzuholen, fragte er sich, wie er es ihm beibringen sollte. Denn trotz anfänglicher Zweifel war er mittlerweile sicher, dass es seinem Freund mit Francesca wirklich ernst war. Er würde ihm die Schuld geben – schließlich hatte er vor seiner Abreise nach Genf zu ihm gesagt: »Pass gut auf sie auf, Mauricio.« Die Schuldgefühle, die Scham und die Ungewissheit machten ihn beinahe wahnsinnig.

»Erzähl mir noch einmal, wie es passiert ist«, verlangte Jacques Méchin.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Mauricio. »Heute Morgen hat Sara, die Haushälterin, bemerkt, dass Francesca nicht da war. Wir vergewisserten uns, dass sie nicht mit Abenabó und Kader oder mit unserem zweiten Chauffeur Malik unterwegs war, aber keiner hatte sie gesehen oder wusste etwas von ihr. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Wäre es nicht möglich, dass Francesca aus freien Stücken weggegangen ist?«

»Unmöglich«, beteuerte Mauricio. »Das steht außer Frage. Francesca würde Saudi-Arabien auf gar keinen Fall verlassen, das kann ich dir versichern. Und wie gesagt, die Türen wurden nicht aufgebrochen.«

Kader, der am Steuer saß, teilte ihnen mit, dass der Privatjet Seiner Majestät soeben gelandet war. Méchin, Dubois und die beiden Leibwächter stiegen aus und gingen auf das Flugzeug zu, das langsam auf der Bahn ausrollte. Kamal wechselte am Ende der Gangway ein paar Worte mit dem Piloten und der Flugbegleiterin, dann sah er sich nach seinem Jaguar um. Er war überrascht, Méchin und Dubois zu sehen, die in Begleitung von Abenabó und Kader auf ihn zueilten. Die Überraschung wich einer bösen Vorahnung, die ihm die Kehle zuschnürte. Mit zwei Schritten war er bei ihnen und fragte hastig: »Wo ist Francesca?«

Jacques war der Einzige, der einen Ton herausbekam. »Wir glauben, dass sie gestern Nacht entführt wurde.«

Mit der Schnelligkeit einer Raubkatze stürzte sich Kamal auf Abenabó und Kader, packte sie beim Kragen und begann sie wüst zu beschimpfen. Es gelang Jacques und Mauricio, den Prinzen festzuhalten und in den Wagen zu schieben. Mauricio sprang hinters Steuer, fuhr mit quietschenden Reifen los und ließ die beiden erschütterten Leibwächter auf der Landebahn stehen.