14. Kapitel

In ruhigem Schritt ritten sie auf ihren Pferden durch die glutheiße Sonne, die immer unerträglicher wurde, je weiter sie sich vom Meer entfernten und ins Landesinnere vordrangen. Kamal und Mauricio ritten vorneweg. Francesca konnte sehen, dass sie in ein freundschaftliches, vertrautes Gespräch vertieft waren. Sie achtete darauf, ihnen nicht zu nahe zu kommen, um das Einvernehmen nicht zu stören.

Jacques Méchin trottete hinter den beiden her, die nicht merkten, dass die Jahre nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren und der Franzose nicht mehr für derartige Unternehmungen geschaffen war. Aber in jeder Saison einmal zum Lager des Scheichs zu reiten, war eine Tradition, die auch Méchins Gebrechen nicht verhindern konnten. Also wischte sich der Franzose den Schweiß von der Stirn, fächelte sich mit seinem Safarihut Kühlung zu und blickte immer häufiger durch sein Fernglas zum Horizont. Aber er beschwerte sich nicht. Francesca ritt auf Nelly neben Jacques’ Pferd und versuchte, ihn aufzumuntern. Sie reichte ihm die Feldflasche und fragte ihn über Kamals Großeltern und den Stamm aus.

Den Abschluss bildete die Dienerschaft, einige zu Pferde, andere führten hochbeladene Kamele am Zügel. Obwohl Francesca fand, dass es beeindruckende, schöne Tiere waren, hielt sie gebührenden Abstand, denn Sara hatte sie gewarnt, es seien unberechenbare, hinterhältige Biester, die gerne spuckten und bissen.

Malik ritt in der Gruppe der Dienerschaft. Francesca spürte seinen Blick im Nacken wie den heißen Atem eines Raubtiers. Auf Kamals Anwesen in Dschidda waren sie sich nur selten begegnet, weil er völlig damit ausgelastet war, die Aufträge des Botschafters auszuführen. Doch die wenigen Male hatten ausgereicht, um ihr zu bestätigen, was der Chauffeur von ihr hielt. Wenn er sie ansah, schlug ihr eine Welle des Hasses entgegen. Sie fragte sich, ob er von ihrer Beziehung zu dem Prinzen wusste. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie ihn im angeregten Gespräch mit Abenabó und Kader und hatte keinen Zweifel mehr, dass er bald auf dem Laufenden sein würde, falls er es noch nicht war.

»Ist es noch weit?«, fragte sie, um den Gedanken an Malik zu verscheuchen.

»Ungefähr eine Stunde«, antwortete Jacques. »Ich lege diese Strecke seit Jahren zurück, aber zum ersten Mal macht sie mir derart zu schaffen.«

»Ich bin auch müde und wäre gerne bald da«, gab Francesca zu. »Kamal erzählte mir, dass seine Großmutter aus Paris stammt.«

»So ist es. Die D’Albignys gehören zur High Society von Paris. Es muss ein Skandal gewesen sein, als Juliette Harum heiratete. Soweit ich weiß, war sie mehr oder weniger mit einem Mitglied der feinen Pariser Gesellschaft verlobt. Aber wenn sich Juliette etwas in den Kopf setzt, bringt sie keiner von ihrer Meinung ab. Du wirst Kamals Großmutter mögen, und sie dich«, stellte Méchin fest, und zum ersten Mal seit langem hatte Francesca das Gefühl, dass er wieder der Jacques Méchin von früher war.

Eine schwarze Linie zeichnete sich am Horizont ab. Francesca hielt sie für eine Luftspiegelung, doch je näher sie kamen, desto deutlicher nahm die Linie Gestalt an. Schließlich verwandelte sie sich in eine Gruppe von Reitern, die im vollen Galopp näher kamen. Sie schwenkten ihre Waffen über den Köpfen und stießen schrille, spitze Schreie aus. Francesca gefror das Blut in den Adern. Ihre Begleiter jedoch grinsten nur.

»Keine Angst«, sagte Jacques. »Das ist das Empfangskomitee, das uns der Scheich schickt.«

Kamal und Mauricio trieben ihre Pferde an, und Méchin und Francesca folgten ihnen. Einige Minuten später kam es zur Begegnung. Kamal sprang von seinem Pferd, und zwei Beduinen, von denen nur die Augen zu sehen waren, begrüßten ihn mit einer Umarmung. Geschickt lockerten sie die Turbane und zeigten ihre vom Sand und dem glühenden Wüstenwind gegerbten Gesichter.

»Das sind Kamals Onkel«, erklärte Méchin Francesca. »Der rechts heißt Aarut, der andere Zelim.«

»Und Scheich al-Kassib?«

»Der Scheich ist nie Teil des Empfangskomitees. Er erwartet uns in seinem Zelt in der Oase, wie es die Bräuche der Beduinen verlangen.«

Jacques half ihr beim Absteigen, und gemeinsam gingen sie zur Begrüßung. Kamal sah kurz zu Mauricio herüber, als dieser Francesca als seine Mitarbeiterin vorstellte, was ihr sichtlich nicht gefiel. Sie suchte nach Kamals Blick, doch es gelang ihr nicht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, so sehr war er ins Gespräch mit seinen Onkeln vertieft. Dann saßen sie wieder auf und ritten weiter. Méchin gesellte sich nun zu Kamal, Mauricio und den Beduinen, und Francesca blieb mit der restlichen Gruppe zurück. Sie fühlte sich unwohl und allein gelassen, belauert von mehreren Augenpaaren, die sie einer genauen Prüfung unterzogen.

Die ersten Palmwipfel tauchten aus dem Dünenmeer auf, und dann erreichten sie die Oase, wo fröhlich jubelnde Männer und Frauen diesem Ort mit seinem Grün und der frischen Luft einen besonderen Zauber verliehen. Das einzig völlig weiße Zelt hob sich auch durch seine beeindruckende Größe von den übrigen ab. Vor dem Eingang standen zwei kräftige Männer mit Dolchen am Gürtel und vor der Brust verschränkten Armen. Sie grüßten ehrfürchtig, als Prinz al-Saud das Zelt des Scheichs betrat.

Francesca staunte: Nie hätte sie gedacht, dass ein einfaches, schlichtes Zelt innen so luxuriös und geschmackvoll eingerichtet sein könnte. Das Aroma von Duftessenzen schlug ihr entgegen, die in Messingschalen verbrannt wurden, während sie die goldglänzenden Wasserpfeifen bestaunte, den Atlasstoff der Kissen, das Rot, Blau und Gold der Teppiche und die Schmuckgegenstände, die auf einem Tischchen mit Marmorintarsien standen.

Kamal berührte verstohlen ihre Hand, als er vortrat, um seinen Großvater zu begrüßen. Der Junge und der Alte schlossen sich in die Arme und unterhielten sich herzlich auf Arabisch, ohne auf die alte Frau zu achten, die die Szene hinter einem Vorhang verfolgte.

»Hast du mich arme alte Frau vergessen, Kamal?«, fragte sie schließlich in perfektem Französisch und trat nach vorne zu den Männern.

»Großmutter«, murmelte Kamal und nahm sie in den Arm. »Du bist schön wie immer.«

Die Begrüßungen gingen weiter, und Mauricio stellte Francesca erneut als seine persönliche Assistentin vor. Zwei Mädchen stellten Fruchtsäfte und laban auf einen Tisch in der Mitte des Zeltes. Sofort herrschte wieder gelassene Ruhe, und während sie tranken, sprachen sie über Pferde.

»Ihr Banausen«, sagte Juliette und ließ ihren Blick über die Runde schweifen. »Da habt ihr dieses arme Mädchen den ganzen Tag der sengenden Wüste ausgesetzt, und jetzt lasst ihr sie hier sitzen, während ihr dummes Zeug daherschwatzt. Komm, meine Liebe«, sagte sie zu Francesca und stand auf. »Ich bringe dich zu dem Zelt, das ich für dich vorbereitet habe.«

Mit ihrer durchscheinenden Haut, ihren feinen Gesichtszügen und der Eleganz, mit der sie ihren zierlichen Körper bewegte, erinnerte Juliette eher an eine Märchenfee als an eine Frau aus Fleisch und Blut. Francesca konnte nicht anders, als sie immer wieder anzusehen. Abgesehen von ihrer Anmut hatte Fadila nichts mit dieser Frau gemeinsam, dachte sie. Als junges Mädchen musste sie eine Schönheit gewesen sein.

»Hier entlang, Francesca«, sagte die alte Frau einladend, während sie den Stoff vor dem Eingang eines Zeltes zurückschlug. »Dein Gepäck steht schon im Schlafraum.« Sie deutete auf einen weiteren Vorhang, der das Zelt in zwei Bereiche unterteilte. »Ich habe die Wanne mit heißem Wasser füllen lassen, damit du ein Bad nehmen kannst. Du möchtest dich sicher vor dem Abendessen frischmachen.«

»Sie sind sehr liebenswürdig. Sie hätten sich nicht solche Umstände machen sollen.«

Juliette betrachtete die lächelnde Francesca, und für einen Augenblick sah sie sich selbst vor fünfzig Jahren, als sie, jung und schön und voller Lebenslust, alles für die Liebe aufs Spiel gesetzt hatte.

Zobeida, die Beduinin, die sich für die Dauer ihres Aufenthalts um Francesca kümmern würde, schlüpfte leise ins Zelt, mit Handtüchern, Parfümfläschchen, Schminke, Essenzen und Ölen beladen.

»Meine Liebe«, sagte Juliette, »ich lasse dich jetzt mit Zobeida allein. Sie wird dir alles bringen, was du brauchst. Wir sehen uns beim Abendessen.« Damit ging sie.

Francesca stand mitten im Zelt und betrachtete ihre Umgebung, hörte die Geräusche von draußen – die arabischen Stimmen, das Wiehern der Pferde, das Blöken der Schafe – und fühlte sich wie ein Eindringling. Was machte sie in dieser Oase mitten in der Wüste, bei einem Beduinenstamm? Sie trieb durch einen Tunnel aus Erinnerungen, und obwohl die Bilder ungeordnet auf sie einströmten, konnte sie die Gesichter deutlich erkennen. »Es gibt keinen Zufall«, hatte ihr Onkel Fredo einmal gesagt. »Wir alle sind ein winziger Teil eines gewaltigen, unendlichen Plans, dessen Linien sich nach dem Willen des Architekten, der ihn entworfen hat, kreuzen oder auseinanderstreben.« Sie hatte einen weiten Weg zurücklegen müssen, um die wahre Liebe zu finden, und sie hatte viel gelitten. An diesem Ort, der so anders war und so weit entfernt von allem, was ihr vertraut war, fragte sie sich nun, ob dies wirklich ihr Schicksal war. Sie flüsterte Aldos Namen, und eine wehmütige Sehnsucht nach seiner ruhigen, überschaubaren Liebe erfüllte sie, eine Sehnsucht nach diesem Mann aus ihrer Welt, der dieselben Grundsätze und Prinzipien besaß. Manchmal fürchtete sie sich vor der vereinnahmenden, beunruhigenden Männlichkeit des Arabers, der sie von dem Ort weggebracht hatte, an den sie gehörte, und sie zu seiner Frau gemacht hatte, ohne sie auch nur zu fragen.

Zobeida fasste sie beim Arm und gab ihr, da sie kein Wort Französisch sprach, durch Gesten zu verstehen, dass sie in den Nebenraum gehen solle, wo eine Messingwanne mit heißem Wasser auf sie wartete, dessen Dampf den Raum mit dem Duft von Badesalzen und Ölen erfüllte. An einer Seite stand ein Bettgestell mit einer dicken Matratze, die mit Rosen- und Jasminblättern bestreut war. Dieses Detail überraschte sie.

»Vielen Dank«, sagte sie zu der Dienerin, die mit einem Lächeln antwortete.

Zobeida stellte alles, was sie noch auf dem Arm trug, auf einem kleinen Schemel ab und ging zu Francesca, um ihr die Jacke abzunehmen. Sie setzte sie auf das Bett, zog ihr Stiefel, Strümpfe und Hose aus und massierte ihre Füße so gekonnt, dass Francesca schläfrig wurde. Dann entkleidete Zobeida sie vollständig und führte sie zu der Wanne, in die Francesca nun eintauchte, entspannt vom warmen Wasser.

Die Beduinenfrau rieb ihren Körper mit Geißblattseife ein und verpasste ihr eine energische Massage, die ihre Durchblutung anregte und ihre Haut rosig schimmern ließ. Sie begann mit den Händen und arbeitete sich dann die Arme hinauf bis zu den Schultern. Trotz der kräftigen Bewegungen empfand Francesca die Massage als wohltuend und entspannend. Der Duft des Öls, das Zobeida ihr schließlich in die Kopfhaut einmassierte, überlagerte den Lavendel- und Geißblattgeruch. Das alles ging schweigend vor sich, nur Zobeidas gleichmäßiger Atem war zu hören, der über ihre feuchte Haut strich, und die Geräusche von draußen, die sich in die Stille mischten. Wohlig müde stieg sie aus der Wanne, und Zobeida führte sie zum Bett, wo sie, nur in ein Handtuch gehüllt, einschlief.

Als sie eine Stunde später wieder aufwachte, hatte Zobeida ein Kleid am Fußende des Bettes ausgebreitet. Daneben lag ein Kärtchen von Madame D’Albigny, auf dem stand: »Das ist für Dich. Ich hätte gerne, dass Du es heute Abend trägst.« Nach wie vor lag der Duft von Essenzen und Ölen in der Luft, die trotz der sengenden Sonne kühl war. Erfrischt stand sie auf, und Zobeida machte sich daran, sie für das Essen herzurichten. Sie rieb ihre Hände mit einer Mischung aus Glyzerin und Zitronensaft ein, die die Haut weich und makellos weiß machte, betupfte sie mit Jasminwasser und trug ein dezentes Make-up auf, das ihre mandelförmigen Augen betonte. Dann nahm sie schwelendes Sandelholz aus einer Räucherpfanne, legte es auf einen Teller und bedeutete Francesca, die Arme anzuheben, damit der stark duftende Rauch unter ihre Achseln dringen konnte. Das weiße Seidenkleid mit Brüsseler Spitze am Dekolleté stand ihr ausgezeichnet; es fiel weit schwingend bis auf die Knöchel und ließ Schultern und Arme frei. Sie beschloss, die feinen Lederschuhe zu tragen, die Kamal ihr in Dschidda gekauft hatte. Zobeida steckte ihr Haar auf und formte mit der Brennschere kleine Löckchen, die ihr Gesicht umrahmten und den Alabasterton ihrer Haut unterstrichen.

Jacques Méchin kam sie abholen, und gemeinsam gingen sie zum Zelt von Scheich Harum al-Kassib. Als sie eintraten, entstand unter den anwesenden Gästen ein Schweigen, das Francesca verunsicherte. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter schweifen und sah sich verzweifelt nach Kamal um, der am anderen Ende des Zeltes ins Gespräch vertieft war.

»Gelobt sei Allah, der Barmherzige und Allmächtige, der die schönste Frau der ganzen Wüste in mein Zelt geführt hat!«, rief Scheich Harum begeistert, um gleich darauf seiner Gattin zu versichern: »Mit Ausnahme von dir natürlich, Scheherazade.«

Kamal unterbrach sein Gespräch und sah hingerissen zu Francesca herüber, wieder einmal vom Zauber ihrer Schönheit gebannt. Der Scheich stellte das Mädchen den übrigen Gästen vor, untergeordnete Anführer seines Stammes, und verkündete dann überschwänglich, dass er vor Hunger sterbe. Er reichte Francesca seinen Arm und lud sie ein, zu seiner Rechten an einem niedrigen Tisch Platz zu nehmen, der sich unter den mannigfaltigsten Speisen bog. Auch die Übrigen ließen sich nieder, und Kamal setzte sich zur Linken seines Großvaters, Francesca gegenüber, die unsicher und nervös wirkte.

Juliette ließ auftragen, und nachdem die Gäste alles in Augenschein genommen hatten, ließen sie sich nicht lange bitten und sprachen den verschiedenen Gerichten und Getränken ordentlich zu. Sie kannten sich seit vielen Jahren, unterhielten sich angeregt und erzählten sich alte Geschichten, über die sie herzlich lachten. Mauricio lächelte in einem fort, als hätte er endlich etwas gefunden, das ihn glücklich machte, und Méchin war noch gesprächiger als sonst, ermuntert vom Scheich, der seit geraumer Weile seine guten Umgangsformen vergessen hatte und zwischen zwei Bissen lauthals seine Ansichten und Meinungen herausposaunte.

Die ausgelassene Stimmung und die Freundschaft dieser Menschen machte Francesca ihre Einsamkeit und ihr Heimweh noch deutlicher bewusst. Sie fühlte sich als Fremde, sie verstand nicht einmal ihre Sprache. Sie wünschte, dass das Essen bald vorüber wäre und sie in ihr Zelt zurückkehren konnte.

»Es wird kein Arabisch mehr gesprochen«, ordnete Juliette an. »Sonst kann sich unser Gast nicht an den Gesprächen beteiligen.«

»Verzeihung, Mademoiselle«, entschuldigte sich der Scheich und küsste ihre Hand. »Wie unhöflich von uns.«

Francesca schaute auf und begegnete Kamals Blick, der sie aufmerksam beobachtete. Seine unbewegte Miene ärgerte sie. Die undurchdringliche Art ihres Geliebten begann sie zu stören; es fiel ihr schwer, einen Zugang zu ihm zu finden, wenn er immer so reserviert und ernst war. Sie hielt seinem Blick stand und gab sich keine Mühe, ihren Unmut darüber zu verbergen, dass sie nicht als seine zukünftige Frau vorgestellt worden war. Ein Lächeln, eine liebevolle Geste, das war es, was sie brauchte, um sich wohlzufühlen.

»Deine Mutter«, sagte der Scheich, an seinen Enkel gewandt, »wollte nicht in die Oase kommen, um dir nicht zu begegnen. Sie sagte, sie sei wütend und wolle dich nicht sehen.«

Francesca horchte auf, Dubois und Méchin tauschten besorgte Blicke.

»Wieder eine Weibergeschichte?«, fragte Scheich Harum und lachte schallend.

»Du kennst doch deine Tochter, Großvater«, sagte Kamal. »Man kann es ihr nie recht machen.«

»Wie geht es Faisal?«, beeilte sich Juliette zu fragen. »Wir haben lange nichts mehr von ihm gehört.«

Die Erwähnung von Kamals Bruder führte zu neuen Meinungsverschiedenheiten. Den Rest des Abends diskutierten sie über die Regierung, Erdöl und die Lage der Beduinen.

***

Kamal warf zielsicher einen Stein in die Pferdekoppel, um die Wache abzulenken, die reglos vor Francescas Zelt stand. Als er sah, wie der Mann, angelockt von dem Wiehern, davonging, schlüpfte er rasch hinein. Hinter dem Vorhang, durch den das Licht fiel, entdeckte er die dunklen Umrisse von Francesca, die auf der Bettkante saß, und die von Zobeida, die ihr das Haar bürstete. Als er den Stoff zur Seite schlug, schraken die Frauen zusammen.

»Du hast uns erschreckt«, sagte Francesca vorwurfsvoll.

Kamal wandte sich auf Arabisch an die Dienerin, die ohne einen Blick die Bürste beiseitelegte und ging.

»Was willst du?«

»Was ich will?«, fragte Kamal überrascht. »Bei dir sein, das will ich.«

Kamal fasste sie an den Schultern und zog sie vom Bett hoch.

»Lass mich«, beschwerte sich Francesca.

»Was hast du denn?«

»Ich will allein sein.«

»Aber ich will mit dir zusammen sein.«

»Wird das jetzt immer so sein?«, fragte sie bissig. »Wenn Ihre Hoheit nach mir gelüstet, muss ich zu seinen Füßen niedersinken, und wenn Ihre Hoheit nicht nach mir gelüstet, muss ich mich einsam und traurig von ihm fernhalten?«

»Weshalb sprichst du so mit mir?«

»Ich bin müde, lass mich, ich will schlafen.«

»Ich lasse dich nicht!«, fuhr Kamal auf und erschreckte sie damit. »Sag mir, was los ist!«

Er packte sie erneut bei den Schultern und schüttelte sie heftig. Sie sahen sich lange an. Als sie die Ratlosigkeit im Gesicht des Arabers sah, wurden Francescas Züge weicher.

»Warum hast du deinen Großeltern nicht gesagt, dass ich deine Verlobte bin?«

»Du Dummerchen«, seufzte Kamal beruhigt. »So viel Ärger wegen nichts.« Und er umarmte sie.

»Für mich ist es wichtig. Ich habe den Eindruck, dass ich dir egal bin, dass du nur an mich denkst, wenn du nachts zu mir kommst. Die restliche Zeit existiere ich für dich nicht.«

»Sag so etwas nicht«, flehte Kamal, und die Traurigkeit in seiner Stimme besänftigte sie endgültig. »Ich habe dir doch gesagt, dass du für mich das Einzige bist, was zählt im Leben. Wenn ich nicht bei dir bin, denke ich so sehr an dich, dass ich glaube, dass du mich spüren kannst. Wenn du nicht bei mir bist, sterbe ich vor Eifersucht auf die Menschen, die um dich herum sind, die dich lächeln sehen, die deinen Duft riechen, die es wagen, deine Schönheit zu begehren, die nur mir gehört. Heute Abend hätte ich dich am liebsten aus dem Zelt meines Großvaters geschleift, um dich mit niemandem teilen zu müssen. Und wenn ich ihnen nichts von meinem Entschluss gesagt habe, dich zu heiraten, dann deshalb, damit sie dich in Ruhe lassen. Du kennst sie nicht – sie hätten dich ausgefragt und begutachtet wie bei einem Verhör. Außerdem will ich, dass sie dich erst einmal kennenlernen, um ihnen dann in Ruhe von unserer Hochzeit zu erzählen.«

»Ach, Kamal!«, schluchzte Francesca und schlang ihre Arme um ihn. »Du verwirrst mich. Warum bist du so verschlossen und reserviert? Weshalb redest du nicht mit mir? Ich kann dir nicht näherkommen, wenn du so schweigsam und abweisend bist.«

»Es tut mir leid, Liebling, aber das ist einfach meine Art. Ich mag es nicht, wenn die anderen meine Gedanken kennen und zu viel über mich wissen. Auch deswegen habe ich nichts von uns erzählt; du bist das Wichtigste in meinem Leben, und wenn ich dich mit den anderen teile, habe ich das Gefühl, dich vorzuführen und bloßzustellen. Aber bei dir werde ich mich ändern, ich verspreche es! Ich werde mich dir öffnen wie ein Buch, damit du darin lesen und deine Neugier befriedigen kannst.«

»Es geht nicht um Neugier. Es geht darum, etwas über den Mann zu erfahren, mit dem ich für immer zusammen sein will. Ich liebe dich, wie ich nie geglaubt hätte, einen Mann zu lieben. Aber ich weiß so wenig über dich, dass ich manchmal Angst bekomme und mich frage, wem ich mich da hingebe. Manchmal denke ich, es ist ein Fehler.«

»Nein!«, widersprach er verzweifelt. »Sag das nie wieder! Es ist kein Fehler. Sag einfach, dass du mich liebst. Sag es noch einmal.«

»Ich liebe dich, Kamal. Du bist die Liebe meines Lebens.«

»Francesca«, flüsterte er und küsste sie.

Sie sanken aufs Bett, wo sie sich leidenschaftlich liebten, gedrängt von dem Verlangen, das in ihren Körpern brannte.

Als Kamal später Francescas Körper an seinen drückte und das fieberhafte Verlangen einer stillen Befriedigung wich, war das so völlig anders als alles, was sie bislang erlebt hatte. Denn obwohl er sie besessen hatte, begehrte er sie weiterhin leidenschaftlich.

»Deine Mutter ist wegen mir böse mit dir, stimmt’s?«

»Ja.«

»Will sie mich nicht als Frau für dich, weil ich katholisch bin?«

»Sie möchte ein junges Mädchen aus der feinen Gesellschaft von Riad.«

»Der feinen Gesellschaft von Riad?«, sagte Francesca missgestimmt. »Ich sehe schon, die feine Gesellschaft verfolgt mich.«

Kamal wusste, worauf sie anspielte, sagte aber nichts. Sein Gesicht jedoch verdüsterte sich vor Eifersucht, weil Francesca ihre frühere Liebe erwähnte, obwohl sie in seinen Armen lag.

»Wer ist Faisal?«

»Mein Bruder.«

»Bruder oder Halbbruder?«

»Halbbruder. Fatima ist meine einzige Schwester. Aber das macht keinen Unterschied für mich. Außerdem ist Faisal ein guter Freund. Du wirst seine Frau Zora mögen, sie ist wunderbar. Sie leitet die erste Mädchenschule, die hier im Land gegründet wurde. Sie und Faisal haben sie ins Leben gerufen. Ich werde Zora fragen, ob sie dir Arabisch beibringen kann.«

Francesca dachte darüber nach. Sie war bisher so gut mit Französisch zurechtgekommen, dass sie Arabisch nie gebraucht hatte. Sie fragte sich, was sie noch würde lernen müssen, um zu Kamals Welt zu gehören. Den Koran auswendig lernen, fünfmal am Tag beten, das Gesicht zum Boden gewandt, und die Waschungen befolgen? Hinter den Mauern eines Harems leben und jedes Mal die abaya anlegen, wenn sie das Haus verließ? Den Fastenmonat Ramadan einhalten? Sie sah zu Kamal auf, um bei ihm Ruhe zu finden.

»Mit deinem Bruder Saud verstehst du dich nicht sonderlich, oder?«

»Warum fragst du?«

»Als du ihn mir neulich abends in der französischen Botschaft vorgestellt hast, habe ich eine gewisse Spannung zwischen euch bemerkt.«

»Es hat mich gestört, dass er dir in den Ausschnitt gestarrt hat«, behauptete Kamal.

»Es kam mir nicht wie Eifersucht wegen eines aufdringlichen Blicks vor. Eher wie eine jahrelange Abneigung.«

»Wir sind uns in einigen politischen Fragen nicht sehr einig. Das hat uns ein wenig voneinander entfernt, aber er ist immer noch der Sohn meines Vaters, und ich respektiere ihn als König.«

»Warum hast du so viele Monate gewartet, bis du mir gestanden hast, dass du es warst, der mich nach Saudi-Arabien gebracht hat?«

»Du stellst zu viele Fragen«, beklagte sich Kamal.

»Du sagtest, du würdest dich öffnen wie ein Buch«, gab Francesca zurück.

»Das stimmt.« Nach einem kurzen Schweigen erklärte er: »Es gibt gewisse Umstände, die mich dazu bewegt haben, das mit uns langsam anzugehen. Zunächst einmal die Vorbehalte, die du uns gegenüber hattest.«

»Das ist nicht wahr«, protestierte Francesca.

»Doch, es ist wahr, und ich mache dir keinen Vorwurf deswegen. Du hast Erfahrungen gemacht, die dein schlechtes Bild der Araber weiter beschädigt haben. Das mit dem Kunstband zum Beispiel, als du in Riad angekommen bist.«

»Ich hätte mir denken können, dass du es warst, der ihn mir zurückgegeben hat.«

»Dann der Zwischenfall mit der Religionspolizei auf dem Bazar. Was hättest du wohl gesagt, wenn ich dir an diesem Nachmittag in deinem Zimmer offenbart hätte, dass ich dich begehre?«

»Ich hätte dich zum Teufel gejagt«, gab Francesca lachend zu.

»Außerdem hatte ich einige unerwartete Geschäftsreisen und war nicht viel in Riad. Dass Mauricio in Dschidda zu tun hatte, kam mir da gerade recht. Apropos Reisen, morgen begleite ich meinen Großvater nach Dschidda.«

»Kann ich mitkommen?«

»Nein. Mein Großvater wäre nicht damit einverstanden. Wir reiten nach Dschidda, um Wolle und Pferde zu verkaufen, und er wird sagen, dass die Anwesenheit einer Frau schlecht fürs Geschäft ist. Es ist fast eine Tradition für ihn, dass ich ihn jedes Jahr begleite, wenn er seine Erzeugnisse verkauft. Mauricio und Jacques kommen auch mit.«

»Seid ihr abends wieder zurück?«

»Wir bleiben drei Tage.«

»Drei Tage! Drei Tage allein! Drei Tage ohne dich. Warum tust du mir das an?«, klagte sie niedergeschlagen.

»Aber meine Großmutter ist da. Du wirst gar keine Zeit haben, an mich zu denken, du wirst sehen.«

***

Am vierten Tag kehrte Kamal zurück. Am Zügel führte er ein Pferd, das unruhig neben Pegasus hertrottete. Die Karawane – Männer, Pferde und hochbeladene Dromedare – ritt zur Koppel. Dort übergab Kamal die Pferde einem Burschen und ging dann in das Zelt seiner Großmutter, die gerade einen Brief las. Die alte Frau schob die Brille auf die Nasenspitze und lächelte ihm verschwörerisch zu.

»Sie ist nicht hier«, sagte sie.

»Ich wollte zu dir«, antwortete Kamal, setzte sich zu ihr und umarmte sie.

»Sie ist in ihrem Zelt und ruht sich aus.«

»Du weißt Bescheid, stimmt’s?«

»Wenn du sie nicht lieben würdest, müsste ich denken, dass mein Enkel entweder blind sein muss oder ein Idiot. Dieses Mädchen ist wie ein warmes, strahlendes Licht. Du hast eine gute Wahl getroffen, mein Sohn. Und hör nicht auf das Genörgel deiner Mutter.«

Kamal schwieg, gerührt über die Worte seiner Großmutter. Juliette streichelte ihm über die Wange und sah ihn lächelnd an, während sie daran zurückdachte, wie er als Kind gewesen war, als er seine Sommer in der Oase verbracht hatte.

»Sie ist in ihrem Zelt und ruht sich aus«, sagte sie noch einmal. »Sie fühlt sich heute nicht gut. Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes!« Sie fasste ihn beim Handgelenk und zwang ihn, sich wieder zu setzen. »Es wird die Hitze sein; sie ist nicht daran gewöhnt.«

Tatsächlich hatte sich Francesca die ganzen vier Tage, die Kamal weg gewesen war, nicht gut gefühlt. Zuerst hatte sie die Erschöpfung und die starken Kopfschmerzen auf ihren Kummer und die Traurigkeit zurückgeführt und dem keine weitere Bedeutung beigemessen. Aber heute hatte sie sich nach einem leichten Mittagessen hinlegen müssen, weil sie Probleme mit ihrem Kreislauf hatte.

Am Abend vor Kamals Abreise war Francesca in seinen Armen eingeschlafen, aber als sie am nächsten Morgen vom Plätschern des Wassers wach wurde, das Zobeida in die Wanne füllte, war sie allein gewesen. Sie hatte mit Juliette gefrühstückt, die sie bis zum Mittagessen zu einem Ausritt einlud. Abenabó und Kader begleiteten sie. Als sie das wadi erreichten, einen Flusslauf, der sich bei Regen mit Wasser füllte, um Wochen später völlig auszutrocknen, stiegen sie von den Pferden ab und setzten sich ans Ufer in den Schatten einer Palme, die voller Datteln hing.

»Mein Enkel hat sich in dich verliebt, Francesca«, sagte Juliette und sah sie an. »Er ist wie ein Sohn für mich, und ich kann dir versichern, dass er wie ausgewechselt ist. Es ist deinetwegen, das weiß ich.« Sie hütete sich zu erwähnen, dass Zobeida ihre Vermutungen bestätigt und ihr erzählt hatte, dass sich Kamal am Abend zuvor in ihr Zelt geschlichen hatte. »Er versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber er sieht dich mit einer Zärtlichkeit an, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Mein Junge liebt dich wirklich. Warum diese Tränen?«

Francesca fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen und versuchte zu lächeln. Sie war angespannt. Es war das erste Mal, dass sie über ihre Beziehung zu Kamal sprach, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass es mit seiner Großmutter sein würde, auch wenn sie freundlich und verständnisvoll war.

»Komm schon, Francesca, es gibt keinen Grund dafür.«

»Entschuldigung, Madame. Auch ich liebe ihn, aber ich glaube nicht, dass die Sache eine Zukunft hat. Wenn ich bei ihm bin, fühle ich mich sicher und habe das Gefühl, dass alles gutgehen wird und nichts uns trennen kann. Doch dann schaue ich mich um und sehe, wie anders alles ist, und dann weiß ich nicht mehr, was ich davon halten soll. Ich bin verunsichert, nicht wegen seiner oder meiner Liebe, sondern wegen dem, was uns bevorsteht.«

»Ich weiß genau, wie du dich fühlst, und ich weiß, wie du leidest. Der Gedanke, nicht mit dem Mann zusammen sein zu können, den du liebst, bricht dir das Herz. Aber lass dir auch gesagt sein, dass in Kamals Adern ein edles und starkes Blut fließt. Er ist der intelligenteste, tatkräftigste und entschlossenste Mann, den ich je kennengelernt habe – und das sage ich nicht, weil er mein Enkel ist, sondern weil es die Wahrheit ist. Er sollte König werden.«

»Genau deswegen habe ich Angst, dass wir keine Zukunft haben. Er gehört seinem Volk und seinem Land. Ich weiß um seine Verantwortung und seine Pflichten. Er ist nicht irgendjemand, der frei über sein Privatleben entscheiden kann. In seinem Fall hat es Konsequenzen. Kamal gehört der Herrscherfamilie dieses Landes an. Sie werden niemals zulassen, dass er eine Frau aus dem Westen heiratet.«

»Was du sagst, stimmt, da kann ich dir nicht widersprechen. Aber mein Enkel ist so stolz auf dich und hat das Gefühl, dass er mit dir die ganze Welt erobern kann. Lass nicht zu, dass eine Handvoll verknöcherter alter Männer die Liebe zerstört, die ihr füreinander empfindet.«

Juliette begann, ihr Geschichten aus Kamals Kindheit und Jugend zu erzählen, die ihr Facetten von ihm zeigten, die sie nicht kannte. Obwohl seit damals Jahre vergangen waren, beteuerte Juliette, dass ihr Enkel nach wie vor eine einfühlsame, romantische Seite besitze, die er jedoch verberge, um nicht verletzt zu werden. »Mein Junge hat kein einfaches Schicksal«, sagte die alte Frau immer wieder, aber Francesca traute sich nicht zu fragen, von welchem Schicksal sie sprach.

Ja, Kamals Großmutter schaffte es, sie abzulenken, und dennoch vermisste Francesca ihn mit einer Intensität, die ihr Angst machte. Seine Abwesenheit wurde ihr manchmal unerträglich, und vor lauter Sehnsucht nach seinem Körper, seiner Stimme, seiner Leidenschaft und Zärtlichkeit lag sie lange wach und konnte nur schwer einschlafen. Als Zobeida am Morgen des vierten Tages ins Zelt kam, um ihr beim Bad zu helfen, und ihr mitteilte, dass der Scheich und seine Karawane immer noch nicht eingetroffen seien, war Francesca so niedergeschlagen, dass Juliette ihr zu einem Mittagsschläfchen und einer Tasse starkem, gezuckerten Tee riet.

Als Kamal hereinkam, schlief Francesca noch. Er schob einen Hocker ans Kopfende des Bettes und betrachtete sie. Sie schlief tief und fest, völlig geräuschlos, nicht einmal ihr Atem war zu hören. Er war erschrocken über ihre bleichen Wangen und darüber, wie reglos sie dalag. Er beugte sich über sie, um sich zu vergewissern, dass sie noch atmete. Als sein Kopftuch ihre Lippen streifte, begann sich Francesca zu bewegen.

»Ruh dich noch ein wenig aus«, flüsterte Kamal ihr ins Ohr und küsste ihre schlafwarme Wange.

»Bist du es wirklich oder träume ich?«, murmelte Francesca schlaftrunken.

»Ich bin gerade angekommen.«

Francesca öffnete die Augen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Dann küsste sie ihn auf Wangen, Augen, Mund und Stirn, während sie immer wieder beteuerte, wie sehr sie ihn vermisst habe und dass er sie nie wieder so lange allein lassen dürfe.

»Warum bist du so außer dir?«, fragte Kamal schließlich. »Meine Großmutter sagte mir, ihr hättet eine schöne Zeit miteinander gehabt.«

»Ja, deine Großmutter ist wirklich sehr nett, aber ich kann nun mal nicht ohne dich leben.«

Al-Saud löste sich ein wenig von ihr, nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie mit diesem unergründlichen Gesichtsausdruck an, den Francesca nie durchschaute.

»Stimmt das? Du kannst nicht ohne mich leben?«

»Ja, es stimmt. Du bist alles für mich. Du bist der Sinn meines Lebens geworden.« Und da Kamal sie immer noch so sonderbar ansah, fragte sie: »Zweifelst du an dem, was ich sage?«

»Nein, nie. Ich hatte so sehr gehofft, dass du das sagen würdest. Schließlich habe ich dich aus deinem Leben herausgerissen und hierhergebracht. Nein, ich zweifle nicht an dir. Ich würde nie an dir zweifeln«, beteuerte er, um dann rasch zu fragen: »Wie fühlst du dich? Meine Großmutter sagte mir, dass es dir heute nicht gutgeht.«

»Jetzt, wo du wieder bei mir bist, fühle ich mich wunderbar.«

Kamal lächelte und küsste sie auf den Mund. Dann sagte er, ein wenig ungeduldig: »Zieh deine Reitsachen an und komm mit. Ich habe eine Überraschung für dich.«

In einem kleineren Pferch neben der Hauptkoppel wurde gerade ein Pferd von einem Burschen gestriegelt, während ein anderer ihm einen neuen Sattel aus glänzendem schwarzem Leder auflegte, in den mit goldener Farbe der Name Francesca al-Saud geprägt war.

»Wo ist denn meine Überraschung?«, fragte sie, und Kamal deutete auf das Pferd.

»Es sieht aus wie Rex.«

»Es ist Rex. Ich habe ihn Martínez Olazábal abgekauft.«

Francesca sah mit großen Augen zwischen Kamal und dem Pferd hin und her. Dann rannte sie zu dem Hengst und schlang ihre Arme um seinen Hals. Auf ein Zeichen von Kamal entfernten sich die Burschen. Francesca küsste Rex auf die Nüstern und flüsterte ihm zu, wie sehr sie ihn vermisst habe. Rex nun so fern der Heimat bei sich zu haben, gab ihr einen Teil dessen zurück, was sie zurückgelassen hatte und nie mehr wiederhaben würde. Sie schmiegte sich an das Pferd, als könnte sie mit dieser Umarmung gleichzeitig ihre Mutter, Fredo und Sofía umarmen. Der würzige Geruch des Tieres rief Erinnerungen an die Gerüche auf dem Land und in der Stadt wach, an die Küche der Villa, den Garten, die Wohnung ihres Onkels. Denn Rex gehörte zu dieser Welt und trug ein wenig von all diesen Dingen in sich. Heimweh überwältigte sie, und als ihr das Herz schwer zu werden begann von all den glücklichen Erinnerungen, wandte sie sich zu Kamal um, der am Gatter lehnte. Er kam langsam auf sie zu und lächelte sie an.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Liebling.«

»Du hast daran gedacht«, flüsterte sie gerührt.

Zum ersten Mal ritten sie gemeinsam durch die Oase. Als sie feststellten, dass die verschwiegene Stille der Wüste die Geräusche aus dem Lager verschluckt hatte, hielten sie die Pferde an. Gegen den rauen Stamm einer Palme gelehnt, liebten sie sich. Kamal hob sie kraftvoll hoch, und sie umschlang seine Hüften. Ganz alleine inmitten der Oase, fernab von allem, ließen sie ihrer Lust freien Lauf. Während der Orgasmus ihre Sinne vernebelte und ihre Körper entflammte, schrien sie laut und ohne Hemmungen, verzehrt von diesem lodernden Feuer, das nur der andere zu löschen vermochte. Schließlich hielt Kamal inne, um die letzten Wellen dieser Sinnlichkeit zu genießen, die von Francesca ausging und die ihn um den Verstand brachte. Er hielt sie immer noch fest, ihren Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, die Beine um seine Hüften geklammert, und gestand ihr keuchend: »Allah steh mir bei, ich bin rettungslos verloren deinetwegen. Du hast mir den Verstand geraubt, und nichts hat mehr Bedeutung für mich, außer, dich zu besitzen.«

Schweigend zogen sie sich wieder an.

»Ich habe mich noch nicht für Rex bedankt«, sagte Francesca dann und hielt ihn am Handgelenk fest. »Es ist für mich, als hättest du mit einem Fingerschnipsen eine der schönsten Erinnerungen herbeigezaubert, die ich in Argentinien zurückgelassen habe.«

»Da gibt es andere, die ich gerne mit einem Fingerschnipsen aus deinem Kopf verschwinden lassen würde«, bemerkte Kamal.

»Das hast du längst getan.«

Sie saßen wieder auf und ritten wortlos weiter, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.

»Wie bist du eigentlich an Rex gekommen?«, fragte Francesca nach einer Weile. »Sag nicht, dass du nach Argentinien geflogen bist.«

»Du weißt ja, dass mein Hauptgeschäft der Handel mit Pferden ist. Ich bin es gewohnt, überall auf der Welt Tiere zu kaufen und zu verkaufen. Als ich das Foto von Rex auf deinem Nachttisch sah, habe ich mich sofort mit meinem Agenten in Paris in Verbindung gesetzt und ihm aufgetragen, ihn zu kaufen. Er ist dann nach Córdoba gereist und hat den Vertrag mit Martínez Olazábal gemacht. Anfangs hat der Vorarbeiter des Landguts ein wenig Widerstand geleistet.«

»Don Cívico!«, rief Francesca. »Sobald ich wieder in Riad bin, werde ich ihm schreiben und alles erklären. Er wird es nicht glauben! Kamal, du weißt gar nicht, wie glücklich du mich gemacht hast. Endlich gehört Rex mir, und ich brauche mich nicht mehr zu verstecken, um ihn zu reiten.«

Auf dem Rückweg zum Lager waren beide bester Laune.

An diesem Abend nahmen der Scheich und seine Begleiter nur einen kleinen Abendimbiss zu sich und sprachen wenig. Dann gingen sie schlafen, ohne noch länger zusammenzusitzen oder genussvoll eine Wasserpfeife zu rauchen. Kamal brachte Francesca zu ihrem Zelt, wo sie sich in den Eingang setzten und den Sternenhimmel betrachteten. Francesca schmiegte sich in Kamals Arme und ließ sich von seiner Stimme einlullen, während er ihr Geschichten von geflügelten Pferden, fliegenden Teppichen und Flaschengeistern erzählte. Irgendwann war sie fest eingeschlafen, und Kamal hob sie hoch und trug sie zum Bett, wo Zobeida auf sie wartete, um sie auszuziehen und mit den duftenden Laken zuzudecken.

***

Am nächsten Tag war Kamal bis in den späten Nachmittag mit seinem Großvater auf der Falkenjagd, eine Kunst, die er seit seiner Jugend meisterhaft beherrschte. Am Abend wollte der Stamm den Erfolg beim Verkauf der Wolle und der berühmten Al-Kassib-Pferde feiern. Außerdem wollten sie dem Enkel des Scheichs und Kronprinzen, der bald die weiße Frau heiraten würde, die mit ihm gekommen war, ihre Ehrerbietung zollen, weil sie glaubten, dass er ihnen wie immer Glück bei den Geschäften in Dschidda gebracht habe.

Auf dem Weg in die Stadt hatte Kamal Gelegenheit gefunden, seinem Großvater und seinen Onkeln die Nachricht von seiner Verlobung mit Francesca mitzuteilen. Jacques und Mauricio hatten schweigend zugehört und nichts gesagt. Er hatte ihnen nichts von seinen Absichten erzählt.

Der Scheich und seine Söhne waren aufrichtig überrascht gewesen und hatten sich besorgt gezeigt, insbesondere, weil eine junge Christin aus dem Westen eine wenig geeignete Lebensgefährtin für den zukünftigen saudischen König war. Aber sie hatten ihre Bedenken für sich behalten und ihm von Herzen gratuliert. Nicht einmal die Paradiesjungfrauen seien Francesca an Schönheit ebenbürtig, versicherten sie. Zurück in der Oase, hatte sich die Nachricht unter den Mitgliedern des Stammes wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und in allen Zelten hatte große Freude geherrscht.

Nach dem Abendessen traten der Scheich, seine Familie und die Gäste vor das Zelt, um die Ehrenbekundungen entgegenzunehmen. In der Mitte des Lagers brannte ein großes Feuer, um das sich die Beduinen mit ihren Frauen und Kindern scharten. Als der Anführer erschien, wurde es still. Ein Mann trat einen Schritt vor und wies dem Scheich und Kamal die Ehrenplätze zu. Juliette, Francesca, Mauricio, Jacques und die Söhne des Scheichs bat er, daneben Platz zu nehmen. Dann wandte er sich an die Zuschauer und kündigte die Vorstellung an.

Als die Musik erklang, eine langsame Abfolge einförmiger, klagender Töne, die sich für Francesca unharmonisch anhörten, drehten sich die Tänzer um die eigene Achse und schwangen mit äußerster Präzision ihre Dolche durch die Luft. Francesca stockte der Atem bei der Vorstellung, einer könnte aus Versehen seinem Nebenmann den Kopf abschlagen. Während die Übrigen weiter ihre gefährlichen Bewegungen vollführten und sich die getragene Melodie wiederholte, trat einer der Tänzer vor und trug ehrenhafte Verse auf den Scheich und den Prinz der al-Saud vor.

»Das ist einer der ältesten Tänze Arabiens, die Ardha«, flüsterte Jacques Méchin Francesca zu.

»Sehr interessant«, entgegnete das Mädchen.

»Es war bestimmt eine riesige Überraschung für dich, dein Pferd hier zu sehen.«

»O ja, Jacques, Sie können es sich nicht vorstellen!«

Méchin lachte, als er sah, wie Francescas schwarze Augen vor Freude funkelten. Sie war schöner denn je mit ihrem vollen schwarzen Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, und dem rosafarbenen Kleid, das ihr hervorragend stand. Während er sie eingehend betrachtete, versuchte er herauszufinden, was genau es war, das den nüchternen, verkopften Mauricio so verzaubert und Kamals verschlossenes Herz erobert hatte. Er kam zu dem Schluss, dass es diese seltsame Mischung aus Unschuld und Sinnlichkeit war, ihre Unbekümmertheit, wo man doch hinter diesem so weiblichen, aufreizenden Körper eine selbstbewusste, erfahrene Frau vermutete.

»Kamal hätte keine bessere Wahl treffen können«, sagte er schließlich.

Francesca sah ihn glücklich an und bedankte sich. Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Beziehung zu Kamal war Méchin wieder offen und freundlich zu ihr gewesen und nicht so ausweichend wie in letzter Zeit.

»Ihr seid jung und mutig«, sprach der Franzose weiter, mehr an sich selbst gerichtet. »Ihr werdet die Hindernisse überwinden, ich weiß es.«

»Welche Hindernisse, Jacques?«

Die Unbedarftheit des Mädchens erfüllte ihn mit Mitleid. Francesca war wie ein Schaf unter Wölfen, dachte er. Kamal würde sein kleines Lämmchen schützen müssen, damit es nicht zerfleischt wurde. Sie werden sie zerfleischen, dachte er, und bei diesem Gedanken überlief es ihn kalt.

»Francesca, du bist ein kluges, verständiges Mädchen, und zu behaupten, dass zwischen dir und Kamal alles einfach sein wird, wäre eine Beleidigung deiner Intelligenz.« Er machte eine Pause und entzündete seine Pfeife, um seine Gedanken zu sortieren. »Die Araber sind wunderbare Menschen, höflich, großzügig, vertrauenswürdig, die besten und treuesten Freunde, die man sich wünschen kann, aber sie sind auch impulsiv, streitlustig und unnachgiebig. Ihre religiösen Überzeugungen sind ihnen wichtiger als ihr eigenes Leben – und glaub mir, Francesca, sie sind bereit zu sterben, um sie zu verteidigen. Sie nehmen ihre Liebsten in Schutz und lassen nur selten zu, dass sich jemand in ihre Angelegenheiten einmischt. Kamal ist einer von ihnen, auch wenn er etwas Besonderes ist. Er hatte Gelegenheit, die Welt und andere Denkweisen kennenzulernen. Außerdem fließt in seinen Adern westliches Blut. Sein Aufenthalt im Ausland war ein Fenster, durch das er schauen konnte, um den anderen Teil seiner Herkunft kennenzulernen. Er könnte frischen Wind nach Saudi-Arabien bringen und seine Heimat damit zu einem der mächtigsten Länder der Erde machen. Ich weiß, dass er es schaffen kann. Er hat den Mut und die Klugheit dazu. Aber auf seinem Weg werden ihm Feinde begegnen, die versuchen werden, alles zu untergraben, was er erreicht.« Er schwieg einen Moment, und sein Blick wurde weich. »Und du bist einer seiner größten und wertvollsten Erfolge. Du bist die Auserwählte, die er zu seiner Frau erkoren hat.«

Francesca sah ihn sprachlos und ein wenig verwirrt an. Einerseits waren Méchins Worte besorgniserregend, andererseits erschienen sie ihr wie eine Liebeserklärung. Sie wollte das Gespräch nicht weiter vertiefen, weil sie Angst vor der Wahrheit hatte, die darin lag, und beschränkte sich darauf, ihm zu danken. Sie wusste genau, dass niemand in Riad sie mochte.

Der aufbrandende Applaus verriet ihr, dass die Ardha zu Ende war. Der Ansager verabschiedete die Tänzer und kündigte die nächste Vorführung an. Kamal und die übrigen Ehrengäste schienen es zu genießen, ganz besonders der Botschafter, der sich ungewöhnlich angeregt mit Juliette und dem Scheich unterhielt, applaudierte und über alles lachte. Dennoch beschloss Francesca angesichts der Tatsache, dass sie früh am nächsten Morgen in die Stadt zurückkehren würden, sich zurückzuziehen und zu versuchen, trotz des Lärms zu schlafen.

In der Einsamkeit ihres Zeltes fand sie die Ruhe, nach der sie sich sehnte. Sie war völlig erschöpft und schien wieder Probleme mit dem Kreislauf zu haben. Sie schlüpfte in ihr Nachthemd und zog den Morgenmantel über. Da Zobeida nicht da war, die ebenfalls auf dem Fest weilte, kämmte sie sich selbst, nachdem die Beduinin das in den letzten Tagen mit größter Sorgfalt und Gründlichkeit übernommen hatte. Sie würde sie ganz sicher vermissen – ihr beruhigendes Schweigen, ihre geschickten Hände, den Geruch ihrer kupferfarbenen Haut. Auch das Frühstücken mit Juliette würde ihr fehlen, die Ausritte in die Oase, die Gespräche über Kamal, während sie am wadi saßen und die Füße im Wasser baumeln ließen. Sie dachte an die Tage, die sie in Dschidda verlebt hatte, und die unmittelbar bevorstehende Rückkehr zur Arbeit und in den Alltag machte sie traurig. Sie war fasziniert von Kamals Welt und wollte nicht nach Riad zurück, als bedeute die Rückkehr das Ende des Zaubers, das Erwachen aus einem schönen Traum. Ihr wurde klar, dass sie nun hierhergehörte.

Kamal betrat das Zelt und schlang seine Arme von hinten um ihre Taille.

»Komm, ich möchte dir etwas zeigen.«

»Ich muss mich nur schnell anziehen.«

»Nein, komm so mit. Wir werden alleine sein.«

Hand in Hand schlüpften sie aus dem Zelt. Sie liefen unter Palmen hindurch und am wadi entlang, spürten das kühle Wasser an ihren nackten Füßen. Sie folgten dem Licht des Mondes, der einen schmalen Streifen Erde beleuchtete. Auf einer Düne hielten sie an, und Francesca betrachtete staunend dieses Tal aus silbrig schimmerndem Sand, das sich wundersam und schier endlos zu ihren Füßen erstreckte. Schweigend standen sie da, den Blick auf den schwarzen Horizont gerichtet. Hinter ihnen lag das Zeltlager, in einen rötlichen Schimmer und wehmütige Klänge gehüllt. Vor ihnen lag die Weite der Wüste, die sie bereits in ihren Bann gezogen hatte. Francesca blickte zu ihrem Geliebten, um etwas zu sagen, und sah, dass er ganz in die Betrachtung der nächtlichen Landschaft vertieft war.

»Du liebst dieses Land wirklich, Kamal. Ich sehe es in deinen Augen.«

»Ich bin hier geboren, meine Eltern sind hier geboren, ich kenne diese Landschaft von klein auf und habe gelernt, sie zu lieben und zu achten. Während meines Studiums in England gab es keinen Tag, an dem ich nicht davon geträumt hätte, in die Wüste zurückzukehren. Ich hatte solche Sehnsucht nach meinen Pferden, ich wollte spüren, wie sich ihre Hufe tief in den Sand graben, ich wollte sie reiten bis zur völligen Erschöpfung. Ich vermisste mein Zuhause, meine Mutter, meinen Vater. Was ich hier zurückgelassen hatte, war das Wertvollste, was ich besaß, und ich wünschte nichts sehnlicher, als zurückzukehren.«

Francesca nahm sich vor, diesen Augenblick als eine ihrer kostbarsten Erinnerungen in ihrem Herzen zu bewahren. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass Kamal ihr sein Herz öffnete und sie in sein Innerstes blicken ließ.

»Als ich an der Sorbonne anfing«, erzählte er weiter, »war ich wie geblendet. Das altehrwürdige Gebäude, die Gelehrtheit der Professoren, die eindrucksvolle Bibliothek, Leute aus aller Herren Länder … Kurzum, ich dachte darüber nach, nicht nach Arabien zurückzugehen.« Er lächelte traurig und setzte hinzu: »Mauricio und Jacques glaubten mir nicht, aber es dauerte tatsächlich fünf Jahre, bis ich zurückkehrte. Anlass war das Attentat auf meinen Vater. Mein Bruder Saud hatte sich schützend vor ihn geworfen und war selbst verletzt worden.«

Nach dieser Bemerkung verstummte Kamal und blickte wieder zum Horizont. Erst als Francesca seinen Unterarm drückte, drehte er sich um und sah sie an.

»Wie schön du bist!«, sagte er und küsste sie auf die Lippen, den Hals, das Dekolleté.

Sie sanken in den warmen Sand, und der freie Himmel, die Sterne und der Vollmond waren die einzigen Zeugen ihrer Liebe.

»Ich habe so etwas noch nie empfunden«, gestand Kamal und lehnte seinen Kopf an ihre Brust.

Es war kühl geworden, und Francesca fror. Kamal hüllte sie in seinen Mantel und drückte sie an sich. Sie betrachteten den mit Sternen übersäten Himmel. Francesca konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Sterne gesehen zu haben, nicht einmal in Arroyo Seco. Sie fühlte sich lebendig wie nie, voller Frieden, und sagte sich, dass Glück genau das bedeutete.

»Francesca …«, flüsterte Kamal. »Du hast einen wunderschönen Namen.« Er dachte daran, wie dieser Name auf ihn gewirkt hatte, als der Privatdetektiv, den er in Genf engagiert hatte, ihn zum ersten Mal aussprach.

»Mein Vater hieß Vincenzo Francesco. Ich bin nach ihm benannt worden.«

»Erzähl mir von ihm.«

Francesca fühlte sich unwohl. Sie sprach nicht oft über Vincenzo. Mit ihrer Mutter hatte sie einen stillschweigenden Pakt geschlossen, das Thema nicht zu berühren. Antonina schossen schon die Tränen in die Augen, wenn man ihren Mann nur erwähnte, und Francesca ertrug es nicht, sie leiden zu sehen.

»Er starb, als ich sechs Jahre alt war«, sagte sie nach einer Weile. »Aber das weißt du ja schon. Ich habe nur wenige Erinnerungen an ihn: die Totenwache und später die Beerdigung. Meine Mutter hat so viel geweint. Ich habe mir die Augen zugehalten und gebetet, dass die Tränen aufhören würden, aber sie hörten nie auf. Es gab Momente, in denen ich meinen Vater gehasst habe, weil sie so viel wegen ihm weinte. Und ich habe ihn gehasst, weil er uns allein gelassen hat.« Sie hatte einen schmerzhaften Kloß im Hals, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Sie schluckte und sprach dann weiter. »Meine Mutter spricht nur selten von ihm. Eine Erinnerung habe ich an meinen Vater, so verschwommen, dass sie fast ein Traum zu sein scheint. Ich lag schlafend in meinem Bett, und als ich die Augen aufmachte, sah ich sein Gesicht hinter den Gitterstäben. Er sah mich liebevoll an, und als er merkte, dass ich wach war, lächelte er und strich mir über den Kopf. Ich frage mich, wie lange er schon dort gestanden und mich betrachtet hatte. Vielleicht war es wirklich nur ein Traum, und er hat mich nie durch die Gitterstäbe des Bettes angesehen. Ich werde es nie erfahren. Er hat mich sehr geliebt, das weiß ich, das spüre ich. Ich erinnere mich noch an das Rasseln seiner Schlüssel, wenn er nach Hause kam. Er fragte dann immer: ›Dov’è la mia principessa – wo ist denn meine kleine Prinzessin?‹, und ich rannte zu ihm. Dann hob er mich hoch, warf mich in die Luft und ging mit mir in die Küche, um meine Mutter zu begrüßen. Oh, Kamal, ich wäre so froh, wenn er noch lebte und dich kennenlernen könnte!«

Ihre Tränen tropften auf den nackten Arm des Prinzen, der sie ganz festhielt und versuchte, sie zu trösten.

»Weine nicht, Kleines, bitte! Ich kann alles ertragen, außer wenn du weinst. Entschuldige, ich wusste nicht, dass die Erinnerung an deinen Vater dich so traurig machen würde. Nichts soll dich betrüben, und ich werde immer bei dir sein, um sicherzustellen, dass es so ist. Ach, Liebste! Ich weiß nicht, was ich sagen kann, damit dein Kummer verschwindet und du wieder lachst.«

Francesca beruhigte sich, und Kamal trocknete ihre Wangen mit seinem Hemd.

»Es hat mich sehr berührt, dir von meinem Vater zu erzählen, aber du musst nicht glauben, dass mein ganzes Leben von seinem Tod überschattet war«, versicherte Francesca, als sie sich wieder im Griff hatte. »Onkel Fredo hat seinen Platz eingenommen und war mir ein sehr guter Vater.«

»Dein Onkel scheint ein großartiger Mann zu sein«, stellte Kamal fest.

»Ja. Auch er hat viel gelitten. Er verließ Italien, nachdem sein Vater sich umgebracht hatte, weil er alles verspielt hatte. Die Viscontis gehörten dem Adel an, musst du wissen. Ihnen gehörte ein Schloss, das seit Jahrhunderten in ihrem Besitz war. Villa Visconti hieß es. Mein Onkel hat ein Ölgemälde in seinem Büro hängen, das er oft betrachtet. Es macht ihn sehr traurig, wenn er an seine Heimat und seine geliebte Villa denkt. Irgendwann würde ich sie gerne einmal sehen, am liebsten mit ihm zusammen.«

»Weshalb bist du aus Córdoba weggegangen?«, wollte Kamal nach einem kurzen Schweigen wissen.

»Aus Feigheit. Ich bin weggegangen, um Aldo Martínez Olazábal nicht mehr zu sehen. Er hatte mir die Ehe versprochen, aber er hat mich betrogen. Seine Familie ist eine der reichsten von Córdoba, er gehört zur Oberschicht und ist eine angesehene Persönlichkeit. Ich hingegen bin die Tochter der Köchin.«

Sie war überrascht, wie leicht ihr dieses Geständnis über die Lippen gekommen war. Froh darüber, dass sie über die Vergangenheit sprechen konnte, ohne traurig zu werden, erzählte sie weiter.

»Er hat mich verlassen, um eine Frau aus seiner Schicht zu heiraten. Ich weiß, dass er sie nicht liebt, aber es war seine Entscheidung. Das Leben stellt einen immer wieder vor die Wahl. Manchmal entscheiden wir richtig, andere Male irren wir uns. Ich finde, ganz gleich, wie eine Entscheidung ausfällt, ob sie richtig ist oder falsch, sie sollte von Herzen kommen, aus der eigenen Überzeugung, und nicht aus Angst getroffen werden, findest du nicht?«

»Du bist die mutigste Frau, die ich kenne, und auch die aufrichtigste. Das sagen mir deine Augen. Du wirst niemals vor mir verbergen können, was sie mir sagen; sie verraten dich, mein Herz. Du bist mutig, weil du entschieden hast, von diesem Mann wegzugehen, um nicht länger zu leiden. Wegzulaufen, um nicht länger zu leiden, ist keine Frage von Feigheit, sondern von Mut. Alles zurückzulassen, was einem lieb und vertraut ist, um Ruhe und Frieden zu finden, ist eine weise Entscheidung.«

»Die Tage mit dir, Kamal al-Saud, sind die glücklichsten meines Lebens.«