9. Kapitel

Francesca ließ ihren Blick durch das Speisezimmer schweifen, wo am Abend das Essen stattfinden sollte. In der Mitte stand der Mahagonitisch mit den weißen Tischdecken, den silbernen Kerzenleuchtern und einem Blumengesteck. Sie bedauerte, dass es nicht mehr Blumen gab – lediglich ein Dutzend weißer Rosen auf der Anrichte in der Halle und Jasminblütenzweige auf dem Tisch. Sie hätte gerne auch die Vasen im Salon und im Speisezimmer gefüllt, aber in dieser Wüstengegend waren Blumen nur schwer zu bekommen.

Niedergeschlagen und lustlos ging sie langsam die Treppe hinauf, ohne sich darum zu kümmern, dass die Gäste gleich eintreffen würden und sie noch nicht fertig war, um sie zu empfangen. Sie überlegte, sich zu entschuldigen – Kopfschmerzen oder Magenschmerzen, irgendetwas, anstatt diesen Abend mit Unbekannten ertragen zu müssen. Wo sie sich doch nur ins Bett legen wollte und schlafen, die Augen schließen und vergessen, dass ihr Leben komplett aus den Fugen geraten war. Aber im Schlafzimmer angekommen, nahm sie rasch ein Bad und zog sich um. Sie wollte nicht so unhöflich sein und den Botschafter derart brüskieren.

Sie ging zum Nachttisch und nahm zum wiederholten Male Sofías Brief zur Hand, den sie am Morgen bekommen hatte.

In seiner Verzweiflung hat Aldo das Schloss meines Sekretärs aufgebrochen und deine Briefe gelesen, von den ersten, die du mir aus Genf geschickt hast, bis zum letzten, der schon aus Riad kam. Es tut mir furchtbar leid. Es ist die Hölle, Francesca. Aldo läuft wie ein Wahnsinniger durchs Haus und sucht nach dir. Er hat angefangen zu trinken und kommt jede Nacht sternhagelvoll nach Hause. Dolores hat sich im Gästezimmer verschanzt und spricht fast nicht mehr mit ihm. Manchmal höre ich sie heftig streiten. Was soll nur aus meinem armen Bruder werden? Nachdem er jetzt weiß, wo du bist, sagt er, dass er dich suchen wird, und wenn er bis zum Nordpol fahren muss.

Zum Glück war ihr Chef nicht mehr auf Aldos Akte zu sprechen gekommen, aber die Neugier nagte an ihr. Was war aus der Mappe geworden? Sosehr sie auch im Büro des Botschafters danach gesucht hatte, sie hatte sie nicht finden können. Wer würde sich um den Antrag kümmern? Malik vielleicht. Der ganzen Mutmaßungen müde, legte sie Sofías Brief in den Nachttisch zurück. Sich betrinken war alles, was Aldo einfiel? Würde er denn nie den Stier bei den Hörnern packen?, fragte sie sich, und eine verwirrende Mischung aus Mitleid und Wut bemächtigte sich ihrer. Das Bild des sanften, romantischen Jungen, der sie am Swimmingpool mit Küssen und Versprechungen überschüttet hatte, verlor sich in der Vergangenheit, und Francesca empfand den Verlust noch schmerzlicher, so als wäre er tot. Die ungeschönte Schilderung dieses anderen, weinerlichen und betrunkenen Aldo passte nicht zu ihren Erinnerungen, vielmehr befleckte und beeinträchtigte sie sie.

Die Tatsache, dass sie bei der Feier des Botschafters fröhlich und gutgelaunt sein musste, half ihr, sich zusammenzunehmen. Das elfenbeinfarbene Satinkleid, das sie trug, erinnerte sie an Marina und den Tag, an dem sie es im Schlussverkauf gekauft hatten. »Du siehst aus wie eine Meerjungfrau«, hatte das Mädchen ohne jeden Anflug von Neid festgestellt und Francescas Figur bewundert. Sie steckte das Haar zu einem tiefsitzenden Knoten auf, um das Dekolleté zu betonen, und obwohl sie Schmuck nicht sonderlich mochte, beschloss sie, die Perlenohrringe zu tragen, die Fredo ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie schminkte sich dezent: Wimperntusche, Rouge und Lipgloss, parfümierte sich jedoch großzügig mit ihrem Diorissimo, denn sie mochte den Duft nach Maiglöckchen. Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Sara und steckte den Kopf durch die Tür.

Francesca stand auf und winkte sie herein. Die Frau trat ein und zog überrascht die Augenbrauen nach oben, als sie sie sah.

»Du bist einfach wunderschön«, sagte sie.

»Danke, Sara.«

»Der Herr Botschafter lässt fragen, ob du runterkommen kannst, die Gäste treffen ein.«

Im Speisezimmer entzündete Kasem – sehr elegant in seiner Galalivree – die Kerzen in den Leuchtern, während Yamile Körbchen mit Pitabrot und Crackern auftrug. Von dem Plattenspieler im großen Salon drang die Stimme von Edith Piaf zu ihr herüber und versetzte sie in Fredos Wohnung zurück, wo sie auf einem uralten Grammophon immer und immer wieder La vie en rose und Non, je ne regrette rien gehört hatten.

Mauricio lehnte in der Verandatür, und gebannt vom Zauber der Nacht, kehrten seine Gedanken an längst vergangene Abende in der Wüste zurück. Damals hatten Kamal und er, zwei zwölfjährige Jungs, sich aus der Oase davongestohlen, wo der Stamm von Scheich al-Kassib sein Lager aufgeschlagen hatte, und waren ein ganzes Stück gelaufen, bis sie hoch oben von einer Düne die Landschaft überblicken konnten. Die endlose goldene Weite, die sie bei Tag auf ihrem Ritt geblendet hatte, erinnerte nun an ein dunkles Meer aus silbrigen, erstarrten Wellen. Sie hatten sich auf einen Teppich gesetzt und sich Geschichten von Geistern und geflügelten Pferden erzählt, während sie sich die Bäuche mit Datteln und Nüssen vollschlugen.

»Sie haben mich rufen lassen?«

Mauricio verschlug es beim Anblick von Francesca im elfenbeinfarbenen Satinkleid, die ihn erwartungsvoll ansah, die Sprache. ›Er will sie für sich haben‹, sagte er sich niedergeschlagen. ›Ich weiß es. Ich kenne ihn.‹

»Ja.« Der Botschafter räusperte sich und ging ihr entgegen. »Sie werden gleich eintreffen.« In diesem Augenblick war das Geräusch eines Motors zu hören.

Kasem trat vor die Villa. Er half einem untersetzten, etwa fünfzigjährigen Mann mit buschigem Schnurrbart und vorstehender Nase und einer sehr attraktiven jungen Frau in einem Abendkleid aus roter Seide mit weißer Federboa und langen Handschuhen aus dem Wagen. Francesca sah an ihrem Kleid aus dem Schlussverkauf herunter, das ihr jetzt wie ein billiger Fummel vorkam.

»Mauricio!«, rief der Mann und stürmte zum Eingang. »Wir haben uns so lange nicht gesehen!«

Während sich die beiden Männer umarmten, trat Francesca, die hinter ihrem Chef stand, zu der jungen Frau und bat sie herein. Mauricio bemerkte seine Unhöflichkeit und führte zu seiner Entschuldigung an, dass er überwältigt sei, nach so vielen Jahren seinen Lieblingsprofessor von der Sorbonne, Gustave Le Bon, wiederzusehen. Der Name kam Francesca bekannt vor, die nun vom Botschafter vorgestellt wurde.

»Doktor Le Bon, darf ich bekannt machen: meine Assistentin, Mademoiselle Francesca de Gecco.«

»Sehr erfreut, Mademoiselle de Gecco. Sie müssen eine intelligente, tüchtige junge Frau sein, wenn Sie für meinen früheren Schüler arbeiten. Und sehr geduldig«, setzte er mit einem Lächeln hinzu. »Das ist meine Tochter Valerie.« Er legte den Arm um das Mädchen. »Erinnerst du dich noch an die kleine Valerie, Mauricio? Tja, mittlerweile ist sie zur Frau herangewachsen.«

»Der Professor lügt nicht«, gab der Botschafter zu. »Das kleine Mädchen, das damals mit wirrem Haar ins Arbeitszimmer ihres Vaters gestürmt kam, die Hände voller Süßigkeiten, ist eine richtige Frau geworden. Herzlich willkommen.«

Valerie nickte gnädig und reichte ihm die Hand, die Mauricio leicht drückte. Dann begrüßte sie Francesca, nicht ohne mit einem raschen Blick ihr Kleid zu mustern. Kasem nahm die Stola, die Tasche und die Jacken der Neuankömmlinge in Empfang, und Mauricio bat sie in den Salon. Yamile bot ihnen Säfte, alkoholfreie Aperitifs und Kanapees an. Dr. Le Bon langte ungeniert zu. Francesca fand ihn ebenso reizend, wie sie seine Tochter Valerie eingebildet und unsympathisch fand.

Als erneut ein Wagen zu hören war, verschwand Mauricio in Richtung Eingangshalle. Francesca, die gerade eine Frage von Le Bon beantwortete, folgte ihm kurz darauf und traf ihn mit drei Männern an, zwei von ihnen im eleganten Smoking, einer mit der traditionellen Kopfbedeckung und in Dishdasha. Der größere der beiden Gäste im Smoking bemerkte sie und kam auf sie zu. Francesca betrachtete ihn aufmerksam und stellte fest, dass es sich um Kamal handelte. Ohne die landestypische Kleidung hätte sie ihn fast nicht wiedererkannt.

»Francesca«, begann Mauricio, »darf ich vorstellen: mein bester Freund, Kamal al-Saud, Prinz von Saudi-Arabien und ein Sohn des großen Königs Abdul Aziz.«

Francesca wurde immer unwohler, je länger der Botschafter immer weitere Titel dieses Mannes aufzählte. Ein Prinz aus der Herrscherdynastie. Erde, verschlinge mich, flehte sie. Bei dem Gedanken daran, wie sie mit dem »Sohn des großen Königs Abdul Aziz« umgesprungen war und was sie ihm alles an den Kopf geworfen hatte, schien absehbar, dass das Ende ihrer kurzen diplomatischen Karriere gekommen war. Das Auswärtige Amt hatte besonderen Wert auf einen angemessenen Umgang mit den Mitgliedern der Familie Saud gelegt und betont, dass dem komplizierten Protokoll des Landes genauestens zu folgen sei. Jetzt würde er sie aus dem Land werfen lassen. Er würde sich darüber beschweren, wie sie ihn behandelt hatte. Sie hatte sich unmöglich benommen! Sie hatte ihm gesagt, er solle die Klappe halten! Mein Gott, es durfte einfach nicht wahr sein, dass ihr so etwas passierte, dachte sie am Boden zerstört.

Sie stand völlig neben sich, als der Araber ihre Hand ergriff und leicht mit den Lippen berührte. Völlig sprachlos, hörte sie ihn sagen: »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen … richtig kennenzulernen.«

Nachdem sie diese Peinlichkeit überstanden hatte, wandte sich Francesca den beiden anderen Gästen zu. Der Botschafter stellte sie ihr vor, aber sie gab sich keine Mühe, die Namen zu behalten. Kamal al-Saud, das war der einzige Name, der in ihrem Kopf widerhallte.

Im Salon schwirrte es von Begrüßungen und Umarmungen. Professor Le Bon scherzte mit Kamal und dem anderen Mann im Smoking, den er Jacques nannte. Der Gast in arabischer Kleidung, ein schmächtiger, zurückhaltender Mann um die dreißig mit einer runden Brille, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh, grüßte Le Bon respektvoll. Er bekannte, dass er ihn schon lange hatte kennenlernen wollen, denn Kamal habe ihm viel von ihm erzählt. Valerie kannte Kamal und Jacques; sie begrüßte sie vertraut und nahm erfreut die Komplimente über ihre Schönheit und Eleganz entgegen.

Kasem erkundigte sich bei Francesca nach der Sitzordnung, und sie ging erleichtert mit ihm, um ihm Anweisungen zu geben. Sie brauchte einen Augenblick Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen und innerlich zur Ruhe zu kommen. Verwirrt von all den unbekannten Menschen, eingeschüchtert von Valeries überheblicher Art und vor allem beschämt über ihr Verhalten gegenüber Prinz Kamal, hielt sie sich auch weiterhin abseits, als Kasem schon wieder in der Küche verschwunden war.

Schließlich bat Mauricio Dubois seine Gäste ins Speisezimmer. Jacques legte Le Bon die Hand auf die Schulter, und laut lachend gingen sie davon. Valerie nahm missmutig den Arm des jungen Arabers, während sie Kamal, der sich noch im Salon mit dem Botschafter unterhielt, verstohlene Blicke zuwarf.

»Gehen wir zu Tisch, Francesca«, forderte Mauricio sie schließlich auf, und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ihrem Chef und dem Prinzen anzuschließen.

»Ich sagte dir doch, dass es sich um ein zwangloses Abendessen handelt«, bemerkte Mauricio zu Kamal. »Du hättest nicht im Smoking kommen müssen.«

»Ich dachte, in westlicher Kleidung sähe ich nicht ganz so unzivilisiert aus«, erklärte der Araber, und Francesca merkte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Sie sah zu Boden und dachte, den Rest des Abends nicht mehr aufblicken zu können.

»Ganz und gar nicht«, widersprach Valerie, die die Bemerkung gehört hatte. »Ich finde die arabische Tracht viel reizvoller und verführerischer als die langweiligen westlichen Anzüge.«

Kamal lächelte ihr zu und neigte höflich den Kopf. In Francesca stiegen Wut und ein unbegreifliches Gefühl von Rivalität auf. Verstimmt nahm sie links von Mauricio Platz, Kamal gegenüber, der angeregt mit Valerie plauderte. Diese erzählte ihm gerade, dass sie dabei sei, Arabisch zu lernen, und Kamal setzte die Unterhaltung in seiner Muttersprache fort. Valerie versuchte, ihm zu antworten, und er half ihr, die richtigen Worte zu finden.

Francesca läutete die Glocke, und Sara und Yamile trugen Tabletts und Platten herein. Kasem servierte alkoholfreie Getränke, wie es die strengen Regeln des Koran verlangten. Sie aßen und tranken mit Genuss; Yamile war eine hervorragende Köchin, die sich mit den landestypischen Speisen auskannte. Francescas Nervosität legte sich, als sie sah, dass das Essen nach Plan verlief. Sie versuchte, sich zu entspannen und den Gesprächen zu folgen, aber dass Kamal al-Saud ihr genau gegenübersaß, verunsicherte sie und zwang sie, seinen Blicken auszuweichen.

Kamal hörte zu, aß und beobachtete. Er mochte Francescas Parfüm, das hin und wieder zu ihm herüberwehte; er mochte ihr Haar und wie sie es trug. Er mochte ihre großen schwarzen Augen und ihre vollen, schimmernden Lippen. Ihr rundes Gesicht, ihre feingliedrigen Hände und das leuchtende Weiß ihrer Haut, das sich von ihren Brauen und ihrem Haar abhob. »Sie ist ein junges Mädchen, gerade mal einundzwanzig.« Aber dieses junge Mädchen von gerade mal einundzwanzig gefiel ihm außerordentlich gut. Vielleicht hatte Mauricio recht und er sollte sie in Ruhe lassen. Oder wollte Mauricio sie für sich? Er sah unauffällig zu ihm herüber und stellte fest, dass auch dieser sie verzaubert betrachtete. Würde er nach all den Jahren mit Mauricio aneinandergeraten, und das wegen einer Frau, eines jungen Mädchens?

Er begehrte Francesca, und er nahm sich immer, was er wollte. In ihren Augen war er wahrscheinlich ein alter Mann, aber das war ihm egal. Valerie wäre mit ihren fast dreißig Jahren und ihrer unverhohlen frivolen Art der perfekte Typ Frau für eine leichte, flüchtige Eroberung. Außerdem wirkte sie willig und hatte ihn die ganze Zeit provoziert. Aber es war dieses junge Mädchen, das er für sich haben wollte.

»Wann waren Sie das letzte Mal in Paris, Monsieur Méchin?«, fragte Valerie den Mann, den alle Jacques nannten.

»Im Juli war ich zu Besuch bei meiner Schwester und meinem Neffen, aber nicht sehr lange. Kamal und ich mussten noch in andere Städte reisen und sind nur zwei Wochen geblieben. Ich versichere Ihnen, nachdem ich so viele Jahre nicht dort war, fand ich es schöner denn je. Kennen Sie Paris, Mademoiselle?«, fragte er Francesca, die überrascht zusammenzuckte.

»Nur von der Durchreise nach Genf«, antwortete sie so selbstbewusst wie möglich. »Aber diejenigen, die das Glück hatten, dort gewesen zu sein, sagten mir, dass es eine der schönsten Städte der Welt sei.«

»Zurzeit ist ja Genf en vogue«, bemerkte Valerie.

»Oh, da kennt Francesca sich aus!«, rief Mauricio.

Kamals Gesichtszüge verhärteten sich, und er runzelte die Stirn. Nur er, der Mauricio so gut kannte, merkte, dass sich dieser entgegen seiner sonst so zurückhaltenden, ruhigen Art wie ein verliebter Teenager aufführte.

»Ach ja?«, fragte Jacques interessiert.

»Bevor ich nach Riad kam, habe ich fünf Monate für das dortige argentinische Konsulat gearbeitet. Ja, man könnte schon sagen, dass ich die Stadt recht gut kenne. Ich habe sogar …«

»Sie müssten Genf doch auch kennen«, unterbrach Valerie und wandte sich an Kamal. »Wegen der OPEC, meine ich.«

»Lasst uns nicht über die OPEC sprechen!«, bat Le Bon. »Ich bin gar nicht begeistert von dieser Idee deines Bruders, Kamal.«

»Dahinter steckt weniger Saud selbst als sein Minister Tariki«, warf Ahmed ein, der intellektuell aussehende junge Mann.

»Aber ohne Sauds Einverständnis hätte Tariki das niemals geschafft«, entgegnete Le Bon. »Trotz seines Einflusses in der Regierung ist er nun mal nur Minister und Saud der König. Auch Venezuela ist sehr angetan von der Idee eines Kartells.« Er schüttelte missbilligend den Kopf und setzte hinzu: »Pérez Alfonzo sagte, die OPEC sei das mächtigste Instrument, das der Dritten Welt je zur Verfügung gestanden habe. Vor ein paar Monaten erklärte er der Presse, dass die OPEC mit aller Härte gegen den Westen vorgehen werde. Das ist doch Selbstmord! Ist er verrückt geworden? Was hat er vor? Sich von den Ölgesellschaften zerreißen zu lassen?«

»Die Idee mit dem Embargo ist genauso ein Fehler«, bemerkte Jacques Méchin. »Die westliche Welt kann auf die Ölquellen in Saudi-Arabien und Venezuela verzichten, weil sie weiß, dass sie auf zwei Verbündete zählen kann, die weiterhin Tanker voller Öl schicken werden: Iran und Libyen.«

»Libyen?«, fragte Le Bon erstaunt.

»Vergangenes Jahr«, ergriff Ahmed das Wort, »haben die Bohrtrupps der British Petroleum Ölfelder von höchster Qualität entdeckt, die mit unserem vergleichbar ist. König Idris wird sich als langjähriger englischer Verbündeter dem Embargo nicht anschließen, auch wenn er damit seine arabischen Brüder verrät.«

»Was werden die Konsequenzen sein, wenn die OPEC weiterhin Druck ausübt?«, wollte Dubois wissen.

»Die Erdölgesellschaften handeln ebenfalls als Kartell, wenn auch nicht offiziell«, erklärte Ahmed. »Und zieht man das zuvor Gesagte in Betracht, laufen wir Gefahr, von einem Tag auf den anderen keine einzige Erdölkompanie mehr im Land zu haben. Wir riskieren, dass die Bohrungen gestoppt, die Förderanlagen und Raffinerien geschlossen und die Verteilungs- und Transportnetze stillgelegt werden. Am Ende würde alles stillstehen und wir stünden ohne das Geld da, mit dem man uns derzeit entschädigt. Und wir verfügen weder über die Technologie noch das Know-how, um die Raffinerien wieder in Betrieb zu nehmen.«

»Mag sein, dass im Moment nicht die entsprechenden Voraussetzungen herrschen«, warf Francesca ein. Die Männer wandten die Köpfe. »Aber die Gründung der OPEC musste früher oder später kommen. Man muss sich nur die Statistiken ansehen, um das zu erkennen.«

Es wurde still im Speisezimmer, und Francesca dachte, die Gäste würden über sie herfallen, so ungläubig starrten sie sie an. Sie sah zu Kamal, der ernst und unbewegt dasaß. Sie vermutete, dass sie ihn verärgert hatte, und fuhr in ihren Ausführungen fort.

»1914 wurden sechs Millionen Tonnen fossile Brennstoffe verbraucht. Im letzten Jahr waren es schätzungsweise 300 Millionen, und die Prognose für 1975 liegt bei 500 Millionen. Wenn man bedenkt, dass Erdöl ein knappes Gut ist, das nicht unbegrenzt zur Verfügung steht, würde ohne die Gründung der OPEC – von der politischen Aufregung einmal abgesehen, die sie verursacht hat – das Barrel weiterhin für zwei Dollar verschleudert, bis es zur Katastrophe kommt und auf der ganzen Welt kein Tropfen mehr zu finden ist. Natürlich verfolgen die Förderländer mit der Gründung dieses Kartells vor allem wirtschaftliche Interessen, aber es ist trotzdem zum Wohle der Menschheit, die mit jedem Tag stärker vom Erdöl abhängig ist.«

Erneut herrschte Stille im Raum. Francesca griff nach ihrem Glas, und schaute, während sie daran nippte, über den Rand hinweg zu dem saudischen Prinzen, als hinge alles von seiner Reaktion ab. Insgeheim hoffte sie, ihn mit ihrem Einwurf beeindruckt zu haben, den er sicherlich als Dreistigkeit empfand. Schließlich war sie nur eine Frau, ein minderwertiges Wesen, nur dazu nutze, Kinder zu bekommen und dem Mann zu Diensten zu sein, das nur dann reden sollte, wenn man das Wort an sie richtete.

»Ich wusste gar nicht, dass du so gut informiert bist«, brach Mauricio schließlich das Schweigen.

»Was Mademoiselle de Gecco sagt«, ergriff Kamal zum ersten Mal das Wort, »ist ebenso gewiss wie die Tatsache, dass Allah existiert. Aber wie sie ebenfalls feststellte, sind die Voraussetzungen zum Handeln noch nicht gegeben.«

»Irgendwann«, erklärte Francesca und sah Kamal in die Augen, »wird dieser Zeitpunkt gekommen sein, und die arabischen Völker werden ihn erkennen müssen, um nicht ihre einzige Gelegenheit zu verpassen.«

»Das werden wir«, versicherte ihr Kamal, »da können Sie sicher sein.«

»Ich frage mich«, setzte Francesca hinzu, »ob die Leidenschaft und die Begeisterungsfähigkeit Ihres Volkes, die es in früheren Zeiten zum Gipfel des Ruhms führten, in der heutigen Welt den gleichen Effekt haben. Ich fürchte, in den Schaltzentralen der Macht kennt man diese Wesensart der Araber und bedient sich ihrer, um sie unauffällig unter Kontrolle zu halten.«

»Der Orient kämpft mit völlig anderen Waffen als der Okzident, aber er kämpft und ist als Gegner zu fürchten, denn er wird entweder siegen oder bei dem Versuch sterben. Der Westen begreift das nicht; das gereicht uns zum Vorteil.«

Die Übrigen verfolgten gebannt den Wortwechsel zwischen dem Prinzen und der Sekretärin, die sich einen Schlagabtausch mit Kamal al-Saud lieferte, den niemand am Tisch anzufangen gewagt hätte.

»Du hast offensichtlich viel über diese Fragen gelesen«, schaltete sich der Botschafter ein. »Wenn ich gewusst hätte, dass du dich mit den Problemen des Mittleren Ostens so gut auskennst, hätte ich dich öfter um Rat gefragt.« Die Übrigen lachten, mit Ausnahme von Kamal, der sich wieder dem Essen widmete. Als sie sah, wie ernst und schweigsam er war, bereute Francesca ihre Worte. Sie begriff immer noch nicht, warum sie so hart und sogar unverschämt gewesen war. Sie hatte ihn beleidigt, indem sie sein Volk als leidenschaftlich und enthusiastisch bezeichnete, wo doch nur einem Idioten entgangen wäre, dass sie eigentlich überschwänglich und fanatisch meinte. Aber sie hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt, die Worte waren einfach so aus ihr herausgesprudelt, und die Abneigung, die sie gegenüber den Arabern empfand, hatte sich gegen ihn gerichtet.

»Wo hast du das alles gelesen?«, fragte Mauricio, der nicht aus dem Staunen herauskam.

»Ich muss zugeben, dass mein Onkel Alfredo und ich bei unseren langen Unterhaltungen oft auf dieses Thema zu sprechen kamen. Er hat mir nicht nur eine Unmenge von Büchern empfohlen, sondern mir auch diese ganze Geschichte mit dem Erdöl erklärt und seine Meinung darüber gesagt.«

»Francescas Onkel«, erklärte Dubois, »Alfredo Visconti, ist ein bekannter argentinischer Journalist und Schriftsteller. Er leitet eine Zeitung in Córdoba und schreibt Kolumnen für zwei der auflagenstärksten Tageszeitungen von Buenos Aires.«

»Ein Bruder Ihrer Mutter, nehme ich an«, erkundigte sich Jacques.

»Wir sind eigentlich nicht verwandt. Er ist mein Taufpate, und das ist für uns Sizilianer von großer Bedeutung.«

»Aber Sie sind doch Argentinierin?«, fragte Le Bon.

»Ich schon, aber meine Eltern stammen aus Sizilien.«

»In der Antike hielt mein Volk die Insel Sizilien acht Jahrhunderte lang besetzt«, bemerkte Ahmed.

»Und das hinterließ bedeutende Spuren«, setzte Le Bon hinzu. »In meinem Buch Die Kultur der Araber widme ich mich eingehend dieser Frage.«

Ah, daher kam ihr der Name bekannt vor. Gustave Le Bon, Autor von La Civilisation des Arabes, das sie in Genf gelesen hatte.

»Ein hervorragendes Buch«, versicherte Francesca. »Und sehr unterhaltsam obendrein.«

»Sie haben es gelesen?«, fragte der Franzose stolz.

Es entspann sich ein Gespräch über Bücher, Schriftsteller und Schreibstile, das man im Salon fortsetzte, während der Kaffee serviert wurde. Gelangweilt von einer Unterhaltung, zu der sie nichts beizutragen hatte, nahm Valerie sich vor, die Aufmerksamkeit des attraktiven Prinzen zu wecken, der seit dem Schlagabtausch mit der Sekretärin nichts mehr gesagt hatte. Sie nahm neben ihm auf dem dreisitzigen Sofa Platz und schlug lasziv die Beine übereinander. Francesca sah unauffällig zu ihnen herüber und gesellte sich dann zu Jacques, der trotz Le Bons Einspruch hartnäckig daran festhielt, dass Marlowe höher einzuschätzen sei als Shakespeare.

Mit einer brüsken Bewegung, die Valerie verwirrte, erhob sich Kamal vom Sofa und trat an die Verandatür, wo er sich eine Zigarette anzündete und rauchte, den Blick in den Sternenhimmel gerichtet. ›Ein junges Mädchen‹, dachte er und lächelte. Er wandte sich um und sah sie an. Nichts an ihr ließ auf ihre erst einundzwanzig Jahre schließen, weder ihre Figur noch ihr Auftreten, noch ihre Klugheit. Vielleicht ihr zartes, empfindsames Gesicht.

»Leben Sie schon lange in Saudi-Arabien?«, fragte Francesca Jacques gerade.

»So lange, dass ich mich gar nicht mehr als Franzose fühle. Ich bin nach Saudi-Arabien gekommen, als es noch gar nicht Saudi-Arabien war, sondern eine Ansammlung von Stämmen, die durch die Wüste zogen und häufig erbitterte Kämpfe um ihre Territorien austrugen.«

Die Stimme des Mannes nahm sie gefangen. Sie fand die Geschichten von Beduinen, Kriegen, Karawanen und Scheichs unglaublich spannend, nicht zuletzt, weil sie an Märchen aus Tausendundeiner Nacht erinnerten. Sie musste zugeben, dass die Araber ebenso rätselhaft wie faszinierend waren. Ein bisschen brutal, ein bisschen aufbrausend, voller Leben und Leidenschaft, stolz wie kaum ein anderes Volk, aber nicht eitel, selbstbewusst und ihrer Tradition verbunden. Unbewusst drehte sie sich zu Kamal um, der sie seit einer Weile reglos beobachtete, und erwiderte seinen Blick. Es war das erste Mal, dass sie sein Haar sah, stellte sie fest, während sie seine kastanienbraunen Locken betrachtete. Wie viele Frauen er wohl in seinem Harem hatte? Sie kehrte ihm wieder den Rücken und tat so, als würde sie Méchin und Le Bon zuhören.

»Mademoiselle de Gecco«, hörte sie plötzlich Kamal sagen, der unbemerkt hinter sie getreten war. »Was genau meinten Sie, als sie von der Leidenschaft und der Begeisterungsfähigkeit meines Volkes sprachen?«

Nun würde sie für ihren Zynismus und ihr freches Mundwerk zahlen müssen. Sie hatte mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt. Ein Mann, der viel älter war als sie, intelligent und geistreich, würde ihre Unverschämtheit nicht hinnehmen, ohne sich angemessen zu rächen.

»Na ja, ich …«, stotterte sie.

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie dieses Gespräch über Erdöl, Kartelle und all diese Dinge fortführen, von denen eine Frau nichts versteht.«

Zum ersten Mal an diesem Abend war Francesca dankbar für Valeries Einmischung. Le Bons Tochter stand auf, trat zu Kamal und fasste ihn beim Arm, wobei sie darauf achtete, ihr ausladendes Dekolleté zur Schau zu stellen.

»Bitte, Kamal, sprechen Sie nicht länger über Politik. Erzählen Sie mir lieber von Ihren Pferden. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie zu den besten der Welt gehören.«

Sie nahmen wieder auf dem Sofa Platz und plauderten angeregt. Der Abend verlief ohne weitere Zwischenfälle. Francesca tat so, als lauschte sie interessiert den Ausführungen von Méchin und Le Bon, während Kamal Valerie mit Geschichten von seinen Vollblütern unterhielt.

Trotz des Widerstands seiner Tochter war Gustave Le Bon der Erste, der sich verabschiedete. Als Francesca in den Salon zurückkam, bot sie auf einem silbernen Tablett ein weiteres Mal Kaffee und Baklava an, was Ahmed, Jacques und Mauricio gerne annahmen. Kamal entfernte sich schweigend von der Gruppe und stöberte in der Schallplattensammlung. Es war eine gute Gelegenheit, zu ihm zu gehen und sich aufmerksam und höflich zu zeigen.

»Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee, Hoheit?«, fragte Francesca.

»Nein, danke«, sagte Kamal knapp.

Francesca seufzte entmutigt. Sie wollte gerade in die Küche gehen, als Kamal sich rasch umdrehte und sie am Handgelenk packte. Francesca warf einen verzweifelten Blick zu der Gesellschaft im Salon, die in ihr Gespräch vertieft war, ohne die Szene zu bemerken.

»Ich gehe«, sagte Kamal.

Seine Stimme war leise wie immer, aber sie verriet eine Erregung, die Francesca als Drohung interpretierte. Außerdem war da etwas in seinen Augen, ein Blitzen, das ihr den Atem raubte. Gleich würde er ihr sagen, dass sie eine ungezogene Göre war, ein gedankenloses freches Ding, das ihn vor seinen Freunden und einer Dame bloßgestellt und beleidigt hatte. Er würde ihr sagen, dass sie es nicht verdient habe, saudischen Boden zu betreten.

Doch al-Saud küsste die Innenseite ihres Handgelenks. Hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben, sie wäre nicht weiter erstaunt gewesen. Aber mit einem Kuss hätte sie niemals gerechnet, einem Kuss aufs Handgelenk mit geschlossenen Augen, so lange, bis sie seinen heißen Atem auf der Haut spürte. Kamal ließ ihren Arm los und ließ sie stehen, als sei sie ein Möbelstück. Sie hörte ihn sagen, dass er gehen müsse, etwas von Onkeln und Geheimtreffen, das sie nicht verstand, und bevor ihr Chef nach ihr rufen konnte, verschwand sie in Richtung Küche.

***

In den Tagen nach dem Abendessen war Francesca aus mehreren Gründen völlig aufgewühlt.

Zum einen wollte sie Kamal al-Saud wiedersehen. Die Intensität ihrer Sehnsucht beschämte sie und machte sie wütend. Die Stunden, die sie ihm bei Tisch gegenübergesessen hatte, gingen ihr genauso wenig aus dem Sinn wie sein unerklärliches Verhalten am Ende: dieser Kuss aufs Handgelenk, der sie in der Seele berührt hatte. Er will mit dir spielen, sagte sie sich. Und plötzlich wurde ihr klar, dass dieser Kuss die beste Rache für all ihre Unverschämtheiten gewesen war. Er wusste, dass sie ihn nicht würde vergessen können und sie noch tagelang seinen Atem auf ihrer Haut spüren würde. Sie hatte es nicht anders verdient: In ihrer dummen Eitelkeit hatte sie sich mit einem Löwen eingelassen, und der Löwe hatte sie zunächst gewähren lassen, um dann zuzupacken und sie in seinem Griff zu halten, ohne dass sie ihm etwas entgegenzusetzen hatte. Mit diesem Kuss hatte er sein Revier markiert und ihr wortlos zu verstehen gegeben, wer hier das Sagen hatte.

Aber offensichtlich war er nicht allzu wütend, denn die Tage vergingen, und sie war immer noch nicht abberufen worden. An den Tagen nach dem Abendessen zitterte Francesca jedes Mal, wenn ihr Chef sie zu sich rufen ließ. Sie stand vor der Tür zu seinem Büro, die Hand erhoben, um anzuklopfen, und dachte: »Jetzt wirft er mich raus.« Aber Mauricio sprach von der Arbeit und fragte sie nach anstehenden Terminen; nur einmal erwähnte er das Essen, und das nur, um sie zu loben. Francesca stotterte ein Danke und wechselte rasch das Thema.

Nachdem die Befürchtung, gefeuert zu werden, aus der Welt geschafft war, wanderten ihre Gedanken weiterhin mit beunruhigender Regelmäßigkeit zu Prinz Kamal.

Was ihre Sorgen komplett machte, waren Aldo und sein Einfall, nach Saudi-Arabien zu reisen. Es hätte sie beruhigt zu wissen, wer den Einreiseantrag bearbeitete. Es musste Malik sein. Aber ihr Verhältnis zu Malik war nicht das Allerbeste; unerklärlicherweise hatte der Araber etwas gegen sie, zu Unrecht, wie sie fand, denn in den Augen dieses Mannes konnte ihr einziger Fehler nur darin bestehen, dass sie eine Frau war. Er redete praktisch nicht mit ihr, grüßte nur knapp, und wenn sie sich im Flur begegneten, warf er ihr ungnädige Blicke zu.

Eine Woche später erhielt sie einen Brief von Aldo – den ersten von vielen. Die schöne, gleichmäßige Handschrift, mit der Francescas Name geschrieben war, entsprach ihrem Bild von dem romantischen, leidenschaftlichen Aldo, den sie geliebt hatte und der so gar nichts mit diesem anderen Mann, diesem unentschlossenen Trinker, gemein hatte. Sie öffnete den Umschlag, doch als sie den Brief herausnehmen wollte, sagte sie sich: ›Wenn ich ihn lese, werde ich Hals über Kopf nach Córdoba zurückkehren und mich in seine Arme werfen.‹ Daher zerriss sie ihn und warf ihn in den Papierkorb. Die Qual wurde immer größer, je mehr Briefe eintrafen. Obwohl es ihr schwerfiel, warf Francesca sie jedes Mal ungelesen weg.

»Du bist so dünn«, stellte Sara schließlich besorgt fest, und Yamile brachte ihr Nüsse und Datteln, die ihre Appetitlosigkeit nur noch verstärkten.

Regelmäßig trafen Briefe von ihrer Mutter und ihrem Onkel ein. Nach ihrem letzten Brief schien Antonina bemerkt zu haben, dass ihre Tochter im selben Haus lebte wie der Botschafter, was sie ganz und gar nicht guthieß. »Es ist ein Unding, dass ein junges Mädchen mit einem alleinstehenden Mann unter einem Dach wohnt«, schrieb sie empört und war nicht davon abzubringen, obwohl Francesca ihr erklärte, dass in Saudi-Arabien niemand einer Frau eine Wohnung vermieten würde und dass sie nicht allein dort wohnte, sondern zusammen mit den übrigen Angestellten und dem Hauspersonal. Erst als Francesca ihr schrieb, dass Marta, eine Argentinierin um die vierzig, als Sekretärin beim Militär- und Finanzattaché angefangen habe, schien sie sich zu beruhigen.

Fredo erkundigte sich nach ihrem Befinden und betonte immer wieder, er könne mit seinem Freund, dem Außenminister, sprechen und ihn um eine Versetzung bitten, wenn sie sich in der Botschaft nicht wohl fühle. Von hier fortgehen? Die Vorstellung erschien Francesca absurd. Sie fühlte sich wohl in Riad: Mauricio respektierte und schätzte sie, Sara und Kasem verwöhnten sie wie eine Tochter, und das übrige Personal mit Ausnahme von Malik mochte sie und war nett zu ihr. Außerdem waren da noch Jacques Méchin und Professor Le Bon, die nach der Abendeinladung häufig vorbeikamen und ihr das Gefühl gaben, dass sie sich gerne mit ihr unterhielten. Bei einem dieser Besuche erzählte ihr Jacques, dass er Wesir von König Abdul Aziz gewesen sei und augenblicklich als Kamals Berater fungiere.

»Wie lange kennen Sie den Prinzen al-Saud schon?«, erkundigte sie sich bei ihm.

»Seit dem Tag seiner Geburt«, antwortete Méchin. »Sein Vater und ich waren damals eng befreundet, und als Kamal sechs Jahre alt wurde, betraute mich Abdul Aziz mit der Erziehung seines Sohnes.«

Le Bon unterbrach Méchin mit einer Bemerkung über die Sorbonne und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Francesca wollte wieder auf das Thema zurückkommen, schwieg dann aber. Damit war die Gelegenheit vertan und es ergab sich keine weitere, etwas über den geheimnisvollen Araber herauszufinden.

Le Bon, der gerade den zweiten Band von Die Kultur der Araber vorbereitete, nahm Mauricio in Beschlag und überhäufte ihn mit Fragen. Er bat ihn um detaillierte Schilderungen der Städte, Oasen und Wüsten, die er kennengelernt hatte. Dabei galt sein besonderes Interesse den Bräuchen der Beduinen, und vor allem begeisterte ihn das innige Verhältnis zu ihren Pferden. Francesca verfolgte diese Gespräche aufmerksam, sicher, dass hin und wieder der Name Kamal al-Saud fallen würde.

Eines Abends, als Méchin und Le Bon sich in der Halle verabschiedeten, erkundigte sich Mauricio, wann Kamal aus Washington zurückkehren würde. ›Washington …‹, dachte Francesca. Unerklärlicherweise war sie froh zu wissen, dass er nicht in Riad war. Hunderte Male hatte sie sich gefragt, warum er seine Freunde nicht bei ihren Besuchen in der Botschaft begleitete. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass Kamal nicht mehr an sie dachte oder sie bestenfalls als unhöfliche, kleine Sekretärin in Erinnerung hatte, und nahm sich vor, ihn zu vergessen. Und dieser Kuss? Sie betrachtete ihr Handgelenk und spürte erneut seine Lippen auf ihrer Haut.

***

»Wo ist Kasem?«, rief Francesca aus der Küche.

»Er ist mit dem Botschafter weggefahren. Er sagte, dass es spät wird.«

»Und Malik?«

»Ich bin hier, Mademoiselle«, antwortete der Araber und erschien in der Küche.

Francesca hatte den Eindruck, als besäße Malik die Gabe, allgegenwärtig zu sein. Im einen Augenblick sah sie ihn im Büro des Botschafters, in Papiere und Akten vertieft, und im nächsten Augenblick begegnete sie ihm im Flur, fast so, als hätte er seine Augen und Ohren überall.

»Ich brauche dich«, sagte sie knapp und bestimmt. »Du musst mich zum Markt fahren.«

Der Mann senkte zustimmend den Kopf und ging hinaus.

»Kann ich deine abaya anziehen, Sara? Meine ist noch nicht trocken.«

»Du bist viel größer als ich. Sie wird deine Beine nicht vollständig bedecken.«

»Ach, Sara, es ist doch nur für einen Augenblick! In dem Gewühl auf dem Markt wird niemand sehen, ob meine Beine bedeckt sind oder ob ich einen Mini trage.«

»Einen Mini?«, fragten Sara und Yamile wie aus einem Mund.

»Einen Mini. Einen Rock, der bis hierhin reicht.« Sie deutete auf den Oberschenkel.

»Bei Allah, dem Barmherzigen!«, rief die Algerierin aus. »Willst du nicht lieber Yamile oder mich schicken? Was brauchst du denn?«

»Ich muss selbst fahren. Heute Morgen hat mich der Botschafter gebeten, ein Geschenk für die Frau des italienischen Botschafters zu besorgen. Er wusste ganz genau, was er wollte. Ich muss selbst los«, betonte sie noch einmal.

Francesca zog die Tunika über und ging zum Auto. Als sie das Diplomatenviertel verließen, zeigte die Stadt ihr orientalisches, pittoreskes Gesicht. Grüppchen vollverschleierter Frauen gingen vorüber, den Kopf gesenkt, die Hände auf Höhe des Gesichts, um den Schleier zurechtziehen zu können, gefolgt von Kindern und Hunden.

Malik hielt an und ließ einen Ziegenhirten mit seinen Tieren passieren. Ein paar Meter weiter kämpfte ein Mann mit einem widerspenstigen Ochsen. Vor einem Haus sah sie Hühner und Truthähne zwischen den Pflastersteinen picken; dazwischen krabbelten zwei schmutzige Babys, die nichts als Windeln trugen. Francesca riskierte es, ihr Gesicht zu entschleiern, um deutlicher ein Augenpaar hinter einem Fenstergitter sehen zu können, das sie traurig ansah. Tränen glitzerten darin. Malik setzte den Wagen wieder in Fahrt und fuhr rasch die Straße entlang. Dieser Blick ging ihr zu Herzen. Wer war diese Frau? War es das Fenster eines Harems? Schlief ihr Ehemann, geliebt und gefürchtet, in diesem Augenblick mit einer anderen seiner Frauen? Weshalb begehren sie nicht auf?, fragte sich Francesca wütend.

In der Ferne tauchte aus einer Staubwolke der zinnenbewehrte Turm des Fort Masmak auf, wo König Abdul Aziz seine langjährigen Gegner, den Clan der Ibn Raschid, besiegt hatte. Mauricio hatte ihr erzählt, dass dieses Fort das Symbol der Überlegenheit und Macht der Männer aus der Familie al-Saud war, denen die Liebe zu ihrem Land, die Traditionen und Wagemut über alles gingen und die deshalb bereit waren, stolz zu sterben und so den Ruhm ihres Namens und den ihrer Nachfahren zu mehren. »Der Orient kämpft mit völlig anderen Waffen als der Okzident, aber er kämpft und ist als Gegner zu fürchten, denn er wird entweder siegen oder bei dem Versuch sterben.« Francesca erinnerte sich an die Worte Kamals, die allmählich Sinn ergaben, je mehr sich die einzelnen Stücke des arabischen Rätsels zusammenfügten und sie ihre Bedeutung begriff, die so komplex war in ihrer Andersartigkeit und doch so faszinierend. Dieses Volk hatte Invasionen, Besatzungen, Kriege und Plünderungen ertragen und sich mit bewundernswerter Kühnheit Armeen entgegengestellt, die ihrer eigenen um ein Vielfaches überlegen waren. Waren die Kreuzzüge nicht Beweis genug dafür? Aber sie konnte nicht so einfach den traurigen Blick hinter dem Fenster vergessen. Francesca stieß einen Seufzer aus und drehte die Scheibe herunter, um frische Luft zu bekommen. ›Ich werde diese Menschen nie verstehen‹, gab sie sich schließlich geschlagen.

Malik hielt wenige Meter vom Markt entfernt, und ein Dutzend schmutziger Kinder drängte sich um die Wagentür und rief etwas auf Arabisch. Malik stieg aus und verjagte sie mit Drohungen und Fußtritten.

»Was wollten diese Kinder?«, fragte Francesca, ohne ihren Unmut darüber zu verbergen, wie er sie behandelt hatte.

»Sie wissen, dass der Wagen einer Botschaft gehört, und kommen, um zu betteln. Manche bieten sich auch als Führer über den Markt an.«

»Ich hätte einen Führer gut gebrauchen können. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Ich kenne mich bestens aus.«

»Dann bring mich zu einem Goldschmiedeladen.«

Auf dem Markt kam man kaum vorwärts. Der größte Bazar von Riad bestand aus Hunderten von schmalen Gassen, beschattet von den Sonnensegeln der belebten Geschäfte, in denen Waren angepriesen und um Preise gefeilscht wurde. Der Geruch nach Abfall mischte sich mit Essensdünsten und dem Duft der Essenzen, die in Räucherpfannen verbrannt wurden. Sie nahm ein Parfümfläschchen aus der Tasche und gab ein paar Tropfen auf die abaya, dorthin, wo sich ihre Nase befand. Mit revoltierendem Magen folgte sie Malik, der sich mit einer solchen Geschwindigkeit einen Weg durch die Menge bahnte, dass sie kaum hinterherkam. Es ging treppauf und treppab, dann um eine Ecke herum – der Markt schien gar kein Ende zu nehmen. Hin und wieder umklammerte ein Kind ihre Tunika und streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. Ladenbesitzer stellten sich ihr in den Weg und nötigten sie so höflich zum Eintreten, dass Francesca es nicht wagte, zu widersprechen. Sie rief nach Malik, der daraufhin kehrtmachte und missmutig vor dem Eingang wartete. Es fiel ihr schwer, die Verkäufer abzuschütteln und weiterzugehen. Einer Frau, die hartnäckiger war als die anderen, musste sie ein Dutzend Rosen abkaufen, die zwar schon ein wenig verblüht waren, aber sie dufteten und würden ihr Zimmer zieren.

»Das ist der beste Schmuckladen«, versicherte Malik, als sie die Gasse der Goldschmiede erreichten. »Gute Preise und gute Ware.« Dann lehnte er sich an einen Pfeiler, um zu warten.

Die Auslagen funkelten in den Sonnenstrahlen, die durch die Löcher in der Markise fielen. Die Vielfalt an Schmuckstücken – aus Gold und aus Silber, mit eingelegten Edelsteinen, aus Onyx, bunte Emailarbeiten, Ketten aus roséfarbenen und grauen Perlen – verwirrte sie, und sie ging im Geist noch einmal Mauricios Vorgaben durch. Der Ladenbesitzer legte ihr händeweise Schmuckstücke vor, aber Francesca konnte sich für keines entscheiden. Ihr Blick fiel auf einen goldenen Anhänger mit Aquamarinen in einer höheren Auslage. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn eingehend. Der Verkäufer machte sie ganz durcheinander, wie er so wortreich seine Waren anpries, während er mit den Händen fuchtelte und ihr immer wieder ein zahnloses Lächeln schenkte, so als hinge sein ganzes Glück von Francesca ab.

Als sie sich streckte, um das Schmuckstück in die Auslage zurückzulegen, durchfuhr sie plötzlich ein stechender Schmerz, der von der Ferse bis zur Hüfte hinaufschoss, ihr die Sinne vernebelte und sie zu Boden sinken ließ. Die Tränen schossen ihr vor Schmerz in die Augen, und sie biss sich heftig auf die Lippen, um nicht zu schreien. Die wenigen Sonnenstrahlen verschwanden im Handumdrehen, als sie von einer Menschenmenge umringt wurde, die den Geruch ungewaschener Körper verbreitete. Sie versuchte nach Malik zu rufen, aber ihr Hals war trocken, und es kam nur ein unverständliches Krächzen heraus. Wo war Malik?, fragte sie sich verzweifelt, aber sie konnte ihn nicht in der Menge entdecken. ›Die Rosen …‹, dachte sie bedauernd, als sie sah, wie die Blumen zertrampelt wurden. Die Männer schrien und gestikulierten, aber keiner half ihr. Die stickige Luft und der Gestank machten sie benommen, und der Schmerz im Bein wurde immer stärker.

Ein Araber, der die anderen übertönte, zerrte an ihrer abaya, packte sie am Arm und zwang sie aufzustehen. Aber Francesca konnte sich nicht auf den Beinen halten und fiel wieder hin. Jetzt weinte sie hemmungslos und rief laut nach Malik, während der Mann sie erneut hochzerren wollte und dabei einen Knüppel über ihrem Kopf schwang. Die Gesichter begannen sich zu drehen, das Atmen fiel ihr schwer, und sie hatte ein Gefühl im Magen, als ob sie sich übergeben müsse.

Plötzlich verstummten die Stimmen, die Menge wich zurück, und jemand hob sie mühelos vom Boden auf und hielt sie in seinen Armen. Sonnenlicht fiel auf das Gesicht ihres Helfers.

»Kamal … Gott sei Dank!«, stammelte sie auf Spanisch.

Sie umklammerte seinen Hals und lehnte sich mit geschlossenen Augen an seine Brust. Sie hörte Maliks Stimme, sie hörte Kamal auf Arabisch diskutieren und die Stimme des Mannes, der sie mit dem Knüppel bedroht hatte. Das Gemurmel der Verkäufer und Schaulustigen verstummte nicht.

»Bringen Sie mich bitte von hier weg!«, flehte sie, und Kamal gehorchte.

Als sie zum Wagen der Botschaft kamen, öffnete Malik rasch die Tür, und Kamal ließ sie auf den Sitz gleiten. Er herrschte den Chauffeur an, der sich eilig hinters Steuer setzte und losfuhr. Francesca richtete sich auf und beobachtete durch die Rückscheibe, wie der Prinz mit raschen Schritten zum Markt zurückging.

***

Nachdem der Arzt gegangen war, half Sara Francesca in einen Sessel und lagerte ihren Fuß auf einem Schemel. Der enge Verband drückte auf die entzündete Achillessehne, und ein schmerzhaftes Pochen zog sich das Bein hinauf bis zur Leistengegend. Sara reichte ihr ein Glas Wasser, und Francesca nahm das Schmerzmittel ein.

»Malik sagt, die Religionspolizei habe dich gezüchtigt, weil man deine halben Waden sehen konnte. Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht meine abaya nehmen, die ist zu klein für dich. Das hast du jetzt davon.«

»Komm mir nicht mit dieser abaya!«, brach es aus Francesca heraus. »Man sollte dieses ganze unzivilisierte Land in Brand setzen!«

»Pst! Sag das nicht mal im Scherz«, schimpfte die Algerierin. »Wenn das ein Saudi hört, dann bleibt es nicht bei ein bisschen Prügel! Man würde dich ohne Erbarmen steinigen. Sag so etwas nie wieder, solange du dich auf islamischem Boden befindest.«

Die Angst und die deutlichen Worte der sonst so ruhigen und besonnenen Sara machten sie sprachlos. Wie weit ging der Fanatismus dieses Volkes? Sie steinigen, weil sie schlecht über die Araber redete? Der traurige Blick hinter dem Fenster fiel ihr wieder ein und erfüllte sie mit Mitleid.

Mauricio klopfte an und kam herein. Wortlos stand er vor ihr, mit einem bedauernden Lächeln und flehendem Blick, als wollte er sie um Verzeihung bitten.

»Es tut mir so leid, was dir passiert ist«, sagte er schließlich. »Ich hätte dich nicht zum Bazar schicken sollen.«

»Ich muss mich entschuldigen. Es war unvernünftig von mir, Saras abaya zu benutzen. Ich hoffe, dieser Zwischenfall hat keine Konsequenzen.«

»Ich habe vor, mich zu beschweren«, versicherte Mauricio.

»Nein, bitte, lassen Sie es gut sein. Was würde eine Beschwerde bringen? Sie könnten Probleme bekommen, und das ist wirklich das Letzte, was ich will.«

»Wir werden sehen«, lenkte Mauricio ein und wechselte dann das Thema. »Dr. al-Zaki sagt, dass die Sehne entzündet ist.«

Es klopfte, und Sara öffnete rasch die Tür. Mit wutentbrannter Miene kam Kamal hereingestürmt, sein dunkles, finsteres Gesicht, dem sonst nur selten anzusehen war, was er dachte, verriet in diesem Moment deutlich, dass er bereit war, jeden, der sich ihm in den Weg stellte, in Stücke zu reißen. Francesca hielt seinem Blick stand. Sie würde nicht klein beigeben. Ein ungehobelter Araber würde nicht den Anstand und die Manieren zerstören, die sie von Geburt an mitbekommen hatte. Sie hätte ihm so richtig die Meinung gesagt, doch was dann kam, nahm ihr jeglichen Wind aus den Segeln: »Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass der Religionswächter, der Ihnen das angetan hat, bestraft und entlassen wird, Mademoiselle. Ich gebe Ihnen mein Wort«, setzte er hinzu, die rechte Hand auf dem Herzen.

»Und ein Beduine hält immer Wort«, bemerkte der Botschafter mit einem Lächeln.

Francesca sah Kamal unverwandt an, ohne zu erröten. Sie war wie gebannt von seiner Stärke und der Männlichkeit, die er ausstrahlte. Ihre Wut war verraucht, die Schmerzen im Bein vergessen. Sie hörte den Botschafter reden, ohne zu verstehen, was er sagte. Und es war ihr auch egal, so konzentriert war sie auf den Anblick dieses Mannes im weißen Gewand mit seinen Jadeaugen, der ihren Blick ungeniert erwiderte.

»Danke, dass du Dr. al-Zaki hergeschickt hast«, sagte Mauricio, und Francesca kam wieder zur Besinnung. »Wie ich dir schon sagte, hat der Arzt eine heftige Entzündung der Achillessehne diagnostiziert, die sich aber mit einigen Tagen Ruhe und Medikamenten auskurieren lässt. Er sagt, es grenze an ein Wunder, dass der Schlag keine Knochen im Fuß zerschmettert hat.«

Kamal trat ans Fenster und sah schweigend in den Garten hinaus. Francesca wartete ungeduldig, dass er sich wieder umdrehte und mit ihr sprach. Sie wollte sicher sein, dass er ihr keine Schuld an dem Vorfall auf dem Markt gab und wirklich glaubte, dass das Verhalten des Religionswächters grausam und unangemessen gewesen war.

»Wann bist du aus Washington zurückgekehrt?«, erkundigte sich Mauricio.

»Heute Morgen.«

»Ein Glück, dass du auf dem Bazar warst. Was hast du eigentlich dort gemacht?«, wunderte sich Dubois.

»Vor meiner Abreise hatte ich Fatima versprochen, ihr bei meiner Rückkehr einen Ring und eine Halskette zu kaufen. Du kennst sie ja, sie hatte mich kaum gesehen, als sie mich auch schon zum Bazar schleifte, ohne mir Zeit zum Auspacken zu lassen.«

Fatima, dachte Francesca enttäuscht. So verändert, wie der Prinz auf einmal wirkte, musste es sich um seine Lieblingsfrau handeln.

Bevor Mauricio das Zimmer verließ, um einen dringenden Anruf entgegenzunehmen, bat er Kamal, ihn in sein Büro zu begleiten. Kamal nickte, machte aber keine Anstalten, ihm zu folgen. Stattdessen trat er zum Nachttisch, wo er das Porträt von Antonina und die letzte Aufnahme von Rex und Don Cívico zur Hand nahm und sie eine ganze Weile aufmerksam betrachtete. Sara, die in der Nähe der Tür stand, sah ihn misstrauisch an, während Francesca überlegte, ob sie etwas sagen sollte. Gleich würde er sie ermahnen, dass in seinem Land die Darstellung von Menschen verboten sei. Sie würde das nicht hinnehmen. Zum Teufel würde sie ihn schicken – ihn, den Koran und Mohammed höchstpersönlich. Sie würde Saudi-Arabien verlassen und nach Argentinien zurückkehren. Also gut, nur zu, sie war bereit.

Den Bilderrahmen in der Hand, drehte sich Kamal mit einem Lächeln zu ihr um und schaffte es erneut, sie zu entwaffnen.

»Das auf dem Foto ist Ihre Mutter, nicht wahr?« Francesca nickte. »Eine schöne Frau. Und das ist Ihr Pferd, nehme ich an«, stellte er dann fest.

»So sollte es eigentlich sein.«

»Wie das?«

»Eigentlich gehört Rex der Tochter des Arbeitgebers meiner Mutter, aber sie ist ein solcher Angsthase, dass sie sich nie getraut hat, ihn zu reiten. Als ich zwölf war, habe ich mich seiner angenommen. Es ist, als ob er mir gehörte. Rex und ich haben uns gleich verstanden. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, und ich weiß auch nicht, ob Sie mich verstehen können – uns eint etwas sehr Starkes, fast so etwas wie Blutsbande. Er schlägt bei allen aus, außer bei mir und Don Cívico, dem Mann auf dem Foto. Don Cívico sagt, dass Rex sich bei ihm benimmt, weil er weiß, dass er mein Freund ist.« Francesca sah zu Boden und setzte dann leise hinzu: »Vielleicht sehe ich ihn nie wieder, jetzt, wo ich so weit weg bin. Vielleicht verkauft ihn der Patrón. Aber ich will Sie nicht mit meinen Geschichten langweilen.«

»Dem Foto nach zu urteilen«, meinte Kamal, »ist es ein muniqui.« Er lächelte, als er Francescas ratloses Gesicht sah. »Sie haben fast zehn Jahre lang ein muniqui besessen und wussten es nicht? Muniquis sind eine der drei Araberrassen und berühmt für ihre Schnelligkeit. Sie werden hauptsächlich bei Rennen eingesetzt. Araberpferde sind die besten der Welt und von hoher Symbolkraft für mein Volk, wissen Sie? Ein Sinnbild der Stärke, Treue und Freundschaft. Wir Beduinen züchten sie seit Jahrhunderten und haben die Reinrassigkeit auf ein hohes Niveau geführt.«

Kasem unterbrach al-Saud, um ihm mitzuteilen, dass der Botschafter ihn in seinem Büro erwarte. Kamal stellte die Bilder auf den Nachttisch zurück, verabschiedete sich mit der traditionellen arabischen Verbeugung und verließ den Raum.

»Es gefällt mir nicht, wie dieser Kerl dich ansieht«, sagte Sara. »Nimm dich vor den Arabern in Acht, Francesca. Sie sind Jäger, und der hier starrt dich mit seinen Augen an wie ein Tiger eine Gazelle. Nimm dich in Acht, meine Liebe! Wenn er dich erst mal gepackt hat, entkommst du ihm nicht mehr.«

***

Als Kamal ohne anzuklopfen das Büro betrat, war der Botschafter gerade dabei, Malik zu befragen. Dieser gab sich keine Mühe, seine Zufriedenheit über die Prügel zu verhehlen, die Francesca erhalten hatte.

»Sie ist sehr leichtsinnig«, beteuerte er, »obwohl ich ihr immer rate, sich züchtiger zu bewegen. Vergessen Sie nicht, Herr Botschafter, man konnte ihre Knöchel sehen!«

»Und wo waren Sie, als das alles passierte?«, schaltete sich Kamal ein, ohne darauf zu achten, dass er damit Mauricios Autorität überging.

»Wissen Sie, Hoheit, also ich … Ich war da, ich bin ihr gleich zu Hilfe gekommen.«

»Das ist nicht wahr«, behauptete Kamal. »Ich bin auf Mademoiselle de Gecco aufmerksam geworden, weil sie verzweifelt nach Ihnen gerufen hat. Und Sie sind erst nach mir eingetroffen.«

»Ehrlich gesagt, Hoheit, war ich für einen Moment weggegangen, um mit einem befreundeten Ladenbesitzer zu sprechen, nur ein paar Schritte entfernt.«

»Wie konnten Sie sie auch nur eine Sekunde allein lassen!«, regte Kamal sich auf. Dubois ging dazwischen, weil er dachte, sein Freund würde sich auf Malik stürzen.

Über seinen eigenen Ausbruch verärgert, machte al-Saud auf dem Absatz kehrt und ging in den Nebenraum, wo er sich wütend aufs Sofa setzte und eine Zigarette anzündete. Er hörte Mauricios Stimme, der Malik ohne großen Nachdruck bat, nicht noch einmal einen Botschaftsangehörigen allein zu lassen, sobald sie das Botschaftsgelände verließen. Dann schickte Mauricio den Chauffeur hinaus und ging zu Kamal.

»Was ist denn nur mit dir los, Kamal? Ich habe dich noch nie so außer dir gesehen.«

»Wer ist dieser Kerl?«

»Mein Chauffeur. Malik bin Kalem Mubarak.«

»Und wie ist er an die Arbeit hier gekommen?«

»Er wurde mir von deiner Familie empfohlen. Er kam mit einem Brief, der nur lobende Worte für ihn fand, unterschrieben vom Privatsekretär deines Bruders, König Saud.«

Kamal stand auf. Seine beeindruckende Gestalt schüchterte Mauricio ein, der sich beeilte zu erklären, dass er sich nicht habe weigern können, ihn anzustellen. Er sei kein schlechter Angestellter und arbeite fleißig. Kamal zog Mauricio nach draußen und eröffnete ihm im Flur, wo sie vor versteckten Mikrophonen sicher waren: »Er ist ein Spion von Saud.«

Der Botschafter wollte es zunächst nicht glauben, doch schließlich brachten die Argumente seines Freundes sein Vertrauen ins Wanken. Es war kein abwegiger Gedanke, dass Saud davon ausging, Kamal und er würden wertvolle Informationen austauschen, die ihm beim Kampf um seinen wankenden Thron von Nutzen sein konnten.

»Die Tage meines Bruders sind gezählt«, flüsterte Kamal, »und er weiß das. Er weiß auch, dass die Familie mich an seiner Statt sehen möchte. Glaubst du nicht, dass er da alles unternehmen wird, um seine Macht zu verteidigen? Ich kenne ihn besser als du. Er hat keine Skrupel, und er wird mit allen Mitteln kämpfen, die ihm zur Verfügung stehen. Glaub mir, Malik ist hier, um mir nachzuspionieren.«

»Dann werde ich ihn entlassen«, versicherte Mauricio empört. »Ich will keine Spitzel in meiner Botschaft.«

»Nein, ihn zu entlassen würde zeigen, dass wir seine wahre Aufgabe kennen. Wenn er ein guter Angestellter ist, wie du sagst, mit welcher Begründung willst du ihn dann entlassen? Lass ihn lieber in dem Glauben, dass wir weiterhin ahnungslos sind, und wir bedienen uns seiner nach Gutdünken.«

Mauricio mochte Kamal sehr und hätte alles für ihn getan. Doch es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass die Botschaft in die internen Kämpfe der Herrscherfamilie al-Saud hineingezogen wurde. Trotzdem nickte er, weil er nicht den Mut fand, seinem Freund zu widersprechen.

»Halte Francesca von diesem Mann fern«, sagte Kamal nach kurzem Schweigen. »Ich will nicht, dass sie noch einmal mit ihm ausgeht oder die beiden zusammenarbeiten. Wenn du keinen anderen Chauffeur hast, schicke ich dir einen, der mein Vertrauen genießt.«

»Da wäre noch Kasem. Er ist vertrauenswürdig, und ich weiß, dass er Francesca vergöttert.«

»Gut.«

Kamal hing erneut seinen Gedanken nach. Mauricio wartete ungeduldig ab.

»Ich bin mir ganz sicher«, sagte der Prinz schließlich. »Malik selbst war es, der Francesca der Religionspolizei ausgeliefert hat.«

***

Zwei Tage darauf erhielt Francesca einen Strauß mit vierundzwanzig Kamelien. Sie hatte noch nie zuvor eine Kamelie in Händen gehalten. Sie waren unglaublich weiß und unglaublich schön. Francesca war bezaubert von ihren zarten Blütenblättern und ihrer vollkommenen Form. Sie musste an den Roman von Alexandre Dumas denken und war zutiefst gerührt. Mit fliegenden Händen öffnete sie das beiliegende Kuvert: »Meine Entschuldigung, Mademoiselle de Gecco. Kamal al-Saud.« Sie hätte am liebsten mit dem Blumenstrauß in der Hand einen Luftsprung gemacht und das Kärtchen an die Brust gedrückt, hätte Sara sie nicht mit diesem empörten Gesichtsausdruck angesehen.

»Er ist von Prinz Kamal, stimmt’s?«

»Ja, er entschuldigt sich für den Vorfall mit der Religionspolizei.«

»So, so, entschuldigen …«, betonte die Algerierin hintergründig.

Francesca überhörte den Kommentar. Sie wollte nicht diskutieren, nur die Blumen bewundern und an den Mann denken, der auch nach zwei Tagen noch an sie dachte und sich Sorgen um sie machte.

Wo mochte er die gekauft haben?, fragte sie sich, nachdem sie selbst Mühe gehabt hatte, ein paar welke, fast verblühte Rosen aufzutreiben.

»Ich sag’s dir«, bemerkte Sara nachdrücklich, »wenn sich ein Araber etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bekommt er es auch, um jeden Preis, und wenn er Himmel und Hölle in Bewegung setzen muss. Und dieser Mann will dich für sich, Francesca, ich weiß das.«

»Sara, was redest du denn da!«

»Du solltest meine Worte nicht auf die leichte Schulter nehmen«, schimpfte diese. »In diesem Land braut sich ein Sturm zusammen, und Prinz Kamal befindet sich mitten im Auge des Hurrikans. Du solltest dich von ihm fernhalten und ihn nicht weiter beachten, sonst weiß ich nicht, wohin das führen wird.«

Nach diesen Worten verließ Sara das Zimmer. Francesca setzte sich auf die Bettkante und betrachtete die Kamelien. Wie schön sie waren! Sie nahm die Blumenvase von der Kommode, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen hinein. Es war ein trauriger Gedanke, dass sie schon bald verblühen würden. Wie konnte es sein, dass sie sie eines nicht allzu fernen Tages in den Mülleimer werfen musste? Alles Schöne und Gute ist so vergänglich, dachte sie und sah das Gesicht ihres Vaters vor sich, so voller Leben und mit diesem strahlenden Lächeln, das ihn wie eine Aura zu umgeben schien. Dov’è la mia principessa? Nie würde sie diese Worte vergessen, mit denen er jeden Abend von der Arbeit gekommen war. Auch wenn sie gerade in das Spiel mit ihrer Lieblingspuppe vertieft gewesen war, sobald sie dieses Dov’è la mia principessa? hörte, hatte sie alles stehen und liegen lassen, weil sie wusste, dass ihr Vater sie an seine Brust drücken und dann mit ihr auf dem Arm in die Küche gehen würde, um ihre Mutter zu begrüßen. Sie klammerte sich verzweifelt an diese Erinnerung, weil sie keine anderen an ihren Vater hatte.

Dann folgten der langsame Verfall, die Tränen ihrer Mutter, die Totenwache, der unerträgliche Geruch von Magnolien und Kerzen, das Schluchzen der Nachbarn, die schwarze Kutsche und die Pferde, der Friedhof mit den unheimlichen Grabnischen und der schweigende Trauerzug durch die engen Gassen. Ihr Vater war dahingewelkt, wie es die Kamelien bald tun würden, und hatte eine Leere in ihrer Welt hinterlassen. Gab es etwas Gutes und Schönes, das für immer währte? Auch Aldos Liebe war vergangen und hatte eine nur halb verheilte Wunde hinterlassen, die zuweilen immer noch schmerzte und schwärte.

Am nächsten Morgen klingelte ein Junge an der Botschaft und verkündete, dass er einen Brief für Francesca habe. Kasem wollte ihn entgegennehmen, aber der Junge bestand darauf, noch einmal wiederzukommen, um ihn Fräulein de Gecco persönlich zu überreichen. Widerstrebend bat Kasem ihn herein und bat ihn, zu warten. Auf Sara gestützt, kam Francesca mit verbundenem Fuß zum Eingang gehumpelt.

»Ich bin Francesca de Gecco«, stellte sie sich vor. Sara übersetzte ihre Worte ins Arabische. »Man hat mir gesagt, du hättest etwas für mich.«

»Ja, Fräulein.« Und er reichte ihr einen Umschlag aus Büttenpapier mit ihrem Namen darauf.

Francesca öffnete ihn und zog eine grüne Mappe heraus, die sie sofort als Aldos Visumsantrag erkannte. Auf dem Deckblatt prangte auf Englisch ein großer roter Stempel: »Abgelehnt«.

»Wer hat dir das gegeben?«, fragte sie.

»Mein Chef.«

»Wer ist dein Chef?«

»Jalud bin Malsac. Er arbeitet in der Einwanderungsbehörde.«

Francesca drückte dem Jungen ein paar Münzen in die Hand und schickte ihn weg. Bevor sie die Akte an den Botschafter weitergab, blätterte sie sie aufmerksam durch, ohne jedoch einen triftigen Grund für die Ablehnung zu finden. Es waren nur ein paar Schreiben auf Arabisch mit dem Wappen mit der Palme und den gekreuzten Krummsäbeln im Briefkopf, die zwischen Aldos Unterlagen geheftet waren, und zum Schluss eine Mitteilung auf Französisch an den Botschafter, unterzeichnet von Jalud bin Malsac, in der dieser erklärte, dass einer Einreise des argentinischen Staatsbürgers Aldo Martínez nicht stattgegeben werden könne, da das Kontingent für Ausländer für 1961 bereits ausgeschöpft sei. Sie schloss die Mappe und ging zu Mauricios Büro, während sie sich fragte, was sie empfand. Einerseits Erleichterung, obwohl sie Aldo im Grunde gerne wiedergesehen hätte, weit weg von allem. Sie malte sich einige Tage alleine in Riad aus, am anderen Ende der Welt, ohne Dolores oder Señora Celia im Hintergrund, ohne das bedrückende Schuldgefühl, einen verheirateten Mann zu lieben, der sie darüber hinaus feige verraten hatte. Das alles würde in Riad nicht zählen. Aldo wäre kein Feigling und sie keine verkommene Frau, sondern sie wären einfach nur die Verliebten aus Arroyo Seco.

Der rote Stempel mit dem »Abgelehnt« brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.