15. Kapitel

Als Sara von Francescas Verlobung erfuhr, machte sie ihr heftige Vorhaltungen.

»Das wird euer Verderben sein!«, schimpfte sie.

»Ich weiß, dass es schwierig werden wird«, räumte Francesca ein. »Für sie bin ich eine Ungläubige, und sie werden mich nicht so ohne weiteres akzeptieren. Aber sie werden sich damit abfinden müssen, denn ich werde ihn heiraten.«

Sara setzte sich auf die Bettkante und betrachtete Francesca nachsichtig. Ihr Blick war weicher geworden, und die Zornesfalten auf ihrer Stirn waren verschwunden.

»Weißt du überhaupt, wen du da heiratest?«, fragte sie schließlich und setzte angesichts von Francescas verwirrtem Schweigen hinzu: »Du bist so unbedarft und hast so wenig Ahnung von den Dingen – das ist der Grund, warum du Kamal al-Saud nicht fürchtest so wie ich. Er wird der nächste König Saudi-Arabiens sein«, erklärte Sara feierlich.

»Der nächste König?«

»Saudi-Arabien durchlebt derzeit eine seiner schwersten Krisen, und das alles wegen der Unfähigkeit von König Saud. 1958 war es ganz ähnlich. Manche behaupten, dass die Familie al-Saud damals kurz davor stand, zu zerbrechen. Dass es nicht so weit kam, ist dem Eingreifen von Prinz Kamal zu verdanken, der nach der Ernennung zum Premierminister die Kontrolle im Land übernahm und es wieder auf Kurs brachte. Zwei Jahre später trat Prinz Kamal dann trotz der Bitten seiner Onkel und Brüder wegen schwerer Differenzen mit dem König als Premierminister zurück, und seither sind die Probleme noch schlimmer geworden.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Francesca, tief getroffen von dem Gedanken, wie wenig sie Kamal kannte.

»Ich hörte damals, wie mein damaliger Arbeitgeber darüber sprach, der ein enger Freund der königlichen Familie war.«

Francesca hatte sich Kamal mit Haut und Haaren hingegeben, praktisch ohne etwas über seine Vergangenheit zu wissen. Sie bereute es nicht, aber sie musste zugeben, dass es sie beunruhigte, gar nichts über ihn zu wissen. Es wäre ihr lieber gewesen, Kamal selbst hätte ihr von seinen Problemen erzählt und nicht eine Botschaftsangestellte. Alles, was sie von ihm kannte, waren seine Geschäfte auf dem Anwesen in Dschidda. Die Geschichte von den Palastintrigen, die Sara ihr da erzählte, erschien ihr abwegig und unglaublich, aber sie passte zu einigen Details, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Kamals kurz angebundene Worte über seinen Bruder Saud kamen ihr wieder in den Sinn und gewannen durch Saras Behauptungen plötzlich an Bedeutung: »Wir sind uns in einigen politischen Fragen nicht sonderlich einig, das hat uns ein wenig voneinander entfremdet.«

»Kasem sagt, Prinz Kamals Washingtonreise habe das Ziel, sich der Unterstützung der USA zu versichern, falls er König werden sollte. Und das wird ihm mit Sicherheit gelingen«, erklärte Sara, »denn er wird von der gesamten Familie unterstützt, die das Verhalten von König Saud nicht länger hinnehmen will. Diese Stadt wird sich in ein Pulverfass verwandeln. Ich glaube nämlich nicht, dass der König kampflos das Feld räumen wird. Hast du eine Ahnung, um wie viel Geld es hier geht? Um Millionen und Abermillionen von Dollars, meine Liebe. Und für Millionen und Abermillionen von Dollars kann man sogar töten.«

»Was redest du da, Sara!«, fuhr Francesca auf. »Soll das heißen, dass Kamals Leben in Gefahr ist?«

Seit der Rückkehr aus Dschidda waren drei Wochen vergangen, und Kamal weilte immer noch im Ausland. Er rief sie oft an und schickte ihr herrliche Blumenarrangements, aber das genügte Francesca nicht: Sie wollte ihn. Jeden Morgen stand sie in der Hoffnung auf, ihn durch die Tür kommen zu sehen, doch die Tage vergingen, und Kamal erschien nicht. Am Telefon hörte er sich besorgt und distanziert an; den halben Anruf verbrachte er damit, ihr einzuschärfen, dass sie die Botschaft nur verlassen dürfe, wenn es absolut unumgänglich sei, und das nicht ohne die Begleitung ihrer beiden Leibwächter. Francesca, die seine Anrufe entgegensehnte, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte und vermisste, beschränkte sich darauf, ihn zu fragen, ob etwas vorgefallen sei, ob es ihm gutgehe, ob er Probleme habe, worauf er immer auswich mit der Entschuldigung, müde zu sein.

Die angespannte Stimmung bei den Gesprächen mit den Vertretern der US-Regierung, deren Ergebnisse über die Zukunft Saudi-Arabiens entscheiden konnten, hatte ihn in die ernüchternde Realität zurückgebracht. Der krasse Gegensatz zu den Tagen, die er mit Francesca auf dem Anwesen in Dschidda und in der Oase verlebt hatte, machte ihm den Aufenthalt nicht angenehmer. Aber dies war seine Bestimmung: Das, was sein Vater mit großer Willenskraft gegen alle Widerstände aufgebaut hatte, vor der Zerstörung zu bewahren. Jetzt, in der Finanzkrise, musste er erneut, wie einst sein Vater, an die Amerikaner appellieren, wobei er sich seiner zahlreichen Schwächen und seiner einzigen Stärke bewusst war: des Erdöls. Doch der Verhandlungsspielraum, der ihm zur Verfügung stand, war gleich null, wenn er die negativen Seiten nicht geschickt umging und die Pluspunkte unterstrich. Saudi-Arabien brauchte die Vereinigten Staaten, aber diese waren nicht im gleichen Maße auf Saudi-Arabien angewiesen.

Die Vereinigten Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Vormachtstellung auf der Welt beanspruchten, präsentierten sich als wichtigster und mächtigster Verbündeter, der stark im Nahen Osten engagiert war, insbesondere im Iran. Aber auch Libyen unter König Idris hatten sie als zuverlässigen Lieferanten für Erdöl bester Qualität in der Tasche. Die USA verfügten also über zwei sichere Ölquellen. Kamal musste umsichtig verhandeln.

In Gedenken an das historische Gespräch zwischen König Abdul Aziz und Präsident Roosevelt an Bord der Quincy auf dem Roten Meer wollte Kamal versuchen, die Allianz mit den Amerikanern zu erneuern und so die Türen wieder aufzustoßen, die Saud durch die Gründung des Ölkartells OPEC zugeschlagen hatte. Kamal wusste sehr wohl, dass das Erdöl, das es in der arabischen Wüste im Überfluss und in bester Qualität gab, das Blut der Erde, das durch die Adern der Industrie strömte und sie am Leben erhielt, so wertlos sein würde wie der Sand, wenn man sich für die falsche Marschrichtung entschied und auf Konfrontationskurs mit den wahren Herren der Welt ging. Er brauchte die Amerikaner, um sich die Kredite und Investitionen zu sichern, die Saudi-Arabien aus der Misere helfen würden. Ohne finanzielle Mittel und ohne eigene Industrie würde das saudische Königreich immer ein Operettenstaat bleiben, mit importierten Autos und ultramodernen Jets, bis die Ölquellen versiegten, das Geld verschwand und Saudi-Arabien wieder die trockene, unzivilisierte Einöde werden würde, die es jahrhundertelang gewesen war.

Doch Kamal hatte noch ein Ass im Ärmel: die Mitgliedschaft Saudi-Arabiens in der OPEC. Ohne die Unterstützung der Saudis würde das Kartell keinen grundlegenden Wandel durchsetzen können. Al-Saud wollte mit den Amerikanern über die Vormachtstellung Saudi-Arabiens in der OPEC sprechen, mit anderen Worten darüber, das gefürchtete Embargo zu verhindern. Denn wer garantierte dem Westen, dass seine arabischen Verbündeten – aufbrausende und streitlustige Völker mit vielen Gesichtern – den jetzigen Zustand für alle Zeiten respektieren würden? Niemand, aber al-Saud konnte ihnen garantieren, dass kein Mitglied der OPEC erneut mit dem Schreckgespenst des Ölembargos drohen würde – zumindest nicht ernsthaft –, solange sie ihm ihre Unterstützung zusicherten.

Auf der Fahrt zum Weißen Haus, wo sie vom Außenminister und dem Handelsminister der Regierung Kennedy erwartet wurden, lasen Kamal al-Saud und Ahmed Yamani die neuesten Studien über die Erölvorkommen in Texas. Kamal verzog spöttisch den Mund, als er die armseligen siebzehn Barrel, welche die Amerikaner täglich aus ihren texanischen Quellen förderten, mit den zwanzigtausend verglich, die Saudi-Arabien im gleichen Zeitraum produzierte, von den himmelweiten Qualitätsunterschieden nicht zu sprechen.

Der Chauffeur nahm einen Anruf entgegen und gab ihn an Kamal weiter.

»Es ist für Sie, Majestät«, sagte er und reichte ihm den Hörer. »Tiffany’s aus New York.«

»Ja, am Apparat. Nein, Perlen aus Bahrain, sagte ich. Vierreihig. Ja, ein Solitär. Nein, ganz in Platin. Ich will den größeren, den mit sieben Karat. Sehr gut. Bis dann.«

Kamal gab dem Chauffeur den Hörer zurück und widmete sich wieder der Lektüre. Ahmed sah ihn lange an, ratlos, wie er ein so privates Thema anschneiden sollte, zu dem ihm al-Saud sonst keinerlei Zugang gewährte.

»Deine Mutter sagte mir, dass du vorhast, Mauricios Sekretärin zu heiraten«, wagte Yamani schließlich zu sagen.

»Meine Mutter täte gut daran zu schweigen«, erklärte Kamal, ohne von dem Bericht aufzusehen.

»Wie alt ist sie?«

Al-Saud warf Ahmed einen durchdringenden Blick zu.

»Zweiundzwanzig.«

»Ich hätte sie für älter gehalten.«

»Willst du mir auch sagen, dass ich für sie ein alter Mann bin?«, stichelte er. »Es beginnt mich allmählich zu langweilen.«

»Es war reine Neugier.« Nach einem kurzen Schweigen nahm er seinen Mut zusammen und sagte: »Sie ist wunderschön und sehr attraktiv, aber sie ist aus dem Westen und eine Christin. Wenn du sie zur Frau nimmst, machst du sie zur Zielscheibe der Angriffe. Sie wird deine größte Schwäche sein.«

›Meine Schwäche‹, dachte Kamal bei sich und lächelte, sehr zur Verwirrung seines Freundes.

»Als dein Freund, aber auch als dein Ratgeber sage ich dir: In naher Zukunft wirst du vor allem Mitglied des saudischen Königshauses sein und erst dann ein Mann. Du solltest sie dir aus dem Kopf schlagen, zu deinem eigenen und auch zu ihrem Besten. Du weißt, dass deine Familie sie niemals akzeptieren wird. Sie werden sie eher in Stücke reißen, als einer Hochzeit zuzustimmen.«

***

Angesichts der schlechten Nachrichten, die aus Argentinien eintrafen, war Dubois in den vergangenen Tagen immer schweigsamer geworden. Militärattaché Barrenechea berichtete, dass die Armee unzufrieden sei. Und bekanntlich konnte diese »Unzufriedenheit« nur bedeuten, dass ein Staatsstreich unmittelbar bevorstand. Mauricio sprach täglich mit dem Auswärtigen Amt, um über die Politik der Regierung auf dem Laufenden zu sein. Aber die Nachrichten waren konfus, und es schien sich eher um Gerüchte als um Verlautbarungen von offizieller Stelle zu handeln. Die Wahrheit war, dass niemand genau wusste, was passieren würde.

Während also in der Botschaft eine angespannte Stimmung herrschte, erfuhr Francesca, dass sie ein Kind erwartete. Die morgendliche Übelkeit, die unerklärliche Müdigkeit tagsüber und die Stimmungsschwankungen waren erste Anzeichen, die sich einige Tage später durch das Ausbleiben der Regel bestätigten. Ein Glücksgefühl durchströmte sie, von dem sie nicht wusste, ob sie es sich überhaupt erlauben durfte. Denn ein Kind von Kamal würde die ohnehin schon schwierige Beziehung noch weiter komplizieren. Sie hatte Angst, dass Kamal selbst die Nachricht schlecht aufnehmen und ihr vorwerfen würde, dass sie nicht gut genug aufgepasst habe. Trotzdem war sie glücklich und wollte sich diesem Glück nicht widersetzen. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass in ihr ein winzig kleines, zerbrechliches Wesen heranwuchs, ein Kind der Liebe zwischen ihr und Kamal.

Entgegen aller Vermutungen nahm Sara Francescas Schwangerschaft mit Begeisterung auf. Sie überschüttete sie mit Aufmerksamkeit und guten Ratschlägen, kochte ihr Lammfleisch zum Mittag und zum Abendessen und gab ihr einen Liter Ziegenmilch am Tag zu trinken. Sie rührte ihr eine widerliche Tinktur an, damit die Zähne nicht litten und die Knochen sich nicht auflösten, und rieb ihre Beine mit einer Mischung aus Honig und Zitrone ein, die die Venen zusammenzog und für eine gute Durchblutung sorgte. »Bei deinen Beinen wäre es eine Sünde, wenn du Krampfadern bekämst«, sagte sie. Francesca ließ sie gewähren, denn inmitten all der Einsamkeit erinnerte Sara sie an ihre Mutter.

Sie dachte oft an Antonina und Fredo, aber obwohl sie in regem Briefwechsel mit ihnen stand, hatte sie noch keinen Weg gefunden, ihnen die Neuigkeit mitzuteilen. Vor Fredos Reaktion hatte sie keine Angst, so offen und liberal, wie er eingestellt war, aber vor der ihrer Mutter, die fest in den christlichen Riten und Traditionen verwurzelt war. Schließlich fasste sie sich ein Herz und gestand ihnen in einem Brief, dass sie Kamal al-Saud heiraten würde.

Abgesehen von ihrer Fürsorge, war Sara nach Feierabend auch eine hervorragende Gesellschafterin. Francesca hörte ihr gerne zu, denn sie wusste viel über die arabischen Sitten und Gebräuche. Irgendwann fragte Francesca sie, warum sie jetzt so rührend um sie besorgt war, wo sie doch am Anfang so empört und ablehnend reagiert hatte.

»Jetzt ist es etwas ganz anderes«, beteuerte die Frau. »Du trägst sein Kind unter dem Herzen. Die Araber sind durchtrieben und brutal, aber wenn es um Kinder geht, wird ihr Herz weich. Durch dieses Baby wird Prinz Kamal dich niemals verlassen.«

Sie erzählte ihr von dem islamischen Brauch der Beschneidung und dass diese nicht wie bei den Juden unmittelbar nach der Geburt durchgeführt werde, sondern erst im Alter von acht Jahren und mit einem dreitägigen Fest gefeiert werde. Francesca hatte nicht gewusst, dass Muslime beschnitten waren, was Sara sehr lustig fand, wo sie doch ein Kind von einem Muslim erwartete. »Die Frauen aus deinem Kulturkreis finden es sehr reizvoll, mit einem beschnittenen Mann zu schlafen. Sie behaupten, dass es mehr Spaß macht.« Dann hörte sie auf zu lachen und stellte klar: »Er hat dich entjungfert, deswegen macht er dich zu seiner Frau. Wärst du keine Jungfrau mehr gewesen, würde er dich niemals heiraten.«

Es fiel Francesca schwer, sich vorzustellen, dass Kamal so rückschrittlich sein sollte, aber sie wagte es auch nicht, Saras Bemerkungen ganz von sich zu weisen, wo ihr doch selbst Zweifel hinsichtlich der Überzeugungen ihres Geliebten gekommen waren. Sie zweifelte nicht an seiner Liebe, derer war sie sich sicher. Aber sein häufiges Schweigen, seine undurchdringlichen Blicke, die Geheimnisse, die er vor ihr hatte, die bedrückende Erkenntnis, dass er vor allem Araber war, schienen Kamals wahren Charakter zu offenbaren: einen eher harten und unsensiblen, wenngleich leidenschaftlichen und weltoffenen Mann, manchmal glutheiß wie die Wüste, dann wieder kalt wie die klaren Vollmondnächte, so als hätte die Landschaft, in der er geboren war, sein Wesen nach ihrem Ebenbild geformt.

Francescas Zweifel wurden noch verstärkt, als Sara sie darauf hinwies, dass die Araber der Vielehe frönten und bis zu vier Frauen heiraten durften. Sie rezitierte aus dem Gedächtnis den entsprechenden Vers der Sure, in der es um die Ehe ging: »Heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, ein jeder zwei, drei oder vier. Und wenn ihr fürchtet, so viele nicht gerecht zu behandeln, dann nur eine oder was ihr an Sklavinnen besitzt.« Der Vers erschien ihr von einer so offenkundigen Frechheit und Unverschämtheit, dass es ihr für den Rest des Tages schlechtging.

Eines Tages Ende März unterhielten sich Sara und Francesca gerade in der Küche der Botschaft, als Malik mit einem Telegramm erschien.

»Das ist für Sie, Mademoiselle«, sagte er in diesem falschen respektvollen Ton, der Francesca so auf die Palme brachte.

»Ich mag Malik nicht«, stellte Sara fest, nachdem der Chauffeur die Küche verlassen hatte. »Es gefällt mir nicht, wie er dich ansieht. Er wirkt so ruhig und still, aber wir sollten uns nicht täuschen lassen: Er ist hinterhältig und boshaft. Er war es, der uns von deinem Verhältnis mit Prinz Kamal erzählt hat. ›Sie hat ihn um den Finger gewickelt‹, sagte er, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er gefällt mir ganz und gar nicht«, beteuerte Sarah noch einmal.

Francesca, die es nicht erwarten konnte, das Telegramm zu lesen, ging über die Bemerkung hinweg und riss den Umschlag auf.

»Kamal kommt morgen zurück!«, rief sie.

***

Am frühen Morgen des nächsten Tages landete Kamals Privatjet auf dem Flughafen von Riad. Bevor er zum Königspalast fuhr, wo er von seinem Bruder Faisal und seinen Onkeln Abdullah und Fahd erwartet wurde, ging er kurz nach Hause, wo er ein Bad nahm und frühstückte. Er hatte während des ganzen Flugs kein Auge zugetan, sondern nur an Francesca und die Entscheidungen gedacht, die er gleich nach seiner Ankunft in der Stadt treffen wollte. Auch wenn er wusste, dass die Staatsangelegenheiten höchste Priorität hatten, gefiel ihm der Gedanke nicht, die Hochzeit zu verschieben.

Sein Leben lang hatte er sich vor nichts und niemandem gefürchtet, und nun hatte er zum ersten Mal Angst – ihretwegen. Vielleicht hatten alle recht und er brachte sie mit seiner Entscheidung, sie zu heiraten, in Gefahr. Jeden Abend, wenn sie ins Hotel zurückgekommen waren und Ahmed Yamani Anrufe entgegennahm und die Post durchsah, war er wie ein eingesperrtes Raubtier im Zimmer auf und ab gelaufen. Er hatte kalt geduscht und sich dann im Bademantel in den Sessel gesetzt, wo er mit den Perlen seiner masbaha spielte, um sich zu beruhigen.

›Das bin nicht ich‹, sagte er sich. Seit fast einem Jahr war er nicht mehr er selbst – seit jenem Abend, als seine Augen auf der venezolanischen Unabhängigkeitsfeier in einer Ecke des Saals dieses faszinierende Mädchen entdeckt hatten, das ihm von da an die Ruhe geraubt hatte. Ihr unschuldiger Blick und ihre Schönheit hatten die prunkvolle Umgebung überstrahlt. Sie hatte den ganzen Prunk mit Distanz betrachtet, ohne dass sie irgendwie überheblich wirkte. Sie sprach entschlossen, ohne dass ihre Bewegungen deswegen weniger grazil und feminin gewirkt hätten. Und als er sie tanzen sah, hätte er sie am liebsten aus dem Arm dieses Banausen gerissen, der sie über das Parkett führte und es wagte, ihren schlanken, zarten Körper zu berühren, von dem er längst beschlossen hatte, dass er ihm gehörte. Seit jenem Abend war Francesca zu seiner Obsession geworden, und dass er sie erobert hatte, hatte den Aufruhr der Gefühle keinesfalls zur Ruhe gebracht, sondern noch weiter verstärkt, denn er wollte mehr: Er wollte sie ganz für sich haben. Ihm gefiel es nicht, wie sich die Sache entwickelte, denn zum ersten Mal in seinem sechsunddreißigjährigen Leben war er auf einen anderen Menschen angewiesen.

Deshalb zwang er sich, zuerst die Staatsangelegenheiten zu regeln und sie erst dann zu treffen, um sein Herz zu beruhigen.

***

Kamal betrat den ehemaligen Palast König Abdul Aziz’, den Saud jetzt als Amtssitz nutzte. Für sich und seine Familie hatte er eine riesige Residenz in Malaz erbauen lassen, dem Stadtviertel der Oberschicht von Riad. Der alte Palast erinnerte in seiner nüchternen Wuchtigkeit an eine typische mittelalterliche Festung. Er war aus Ziegeln und Stein erbaut und besaß nur wenige Fenster. Dennoch war er für Kamal voller Kindheitserinnerungen und ein Symbol für eine glückliche Zeit in seinem Leben.

Er fuhr durch das Zugangstor und parkte seinen Jaguar vor dem Haupteingang. Nach einer knappen Verbeugung teilte ihm die Wache mit, dass er im Büro des Königs erwartet werde. Kamal, der gehofft hatte, seinem Bruder nicht zu begegnen, durchquerte den gefliesten Innenhof, wo er früher immer mit Faisal und Mauricio gespielt hatte. Vor dem Arbeitszimmer begrüßte er Sauds Leibwächter el-Haddar und Abdel, die wie Statuen im Türrahmen standen. Sie waren zunächst Sklaven der Familie gewesen, doch auch nach ihrer Freilassung hatten sie König Abdul Aziz, den sie blind verehrten, nicht verlassen wollen, und er hatte sie zu seinen Leibwächtern gemacht. Treu bis in den Tod, hatten sie schon einige Male ihre Furchtlosigkeit unter Beweis gestellt, bei dem Attentat von 1950 zum Beispiel, bei dem el-Haddar ein Auge verloren hatte, das er stolz mit einer schwarzen Augenklappe verdeckte, während Abdel aufgrund seiner Bauchverletzungen drei Tage zwischen Leben und Tod geschwebt hatte.

Da sie für solche Aufgaben mittlerweile nicht mehr geeignet waren, setzte Saud sie als Fahrer und Boten ein, aber sie waren immer in seiner Nähe, weil er niemandem mehr vertraute als diesen beiden. Wenn man etwas über den König und seine Geheimnisse herausfinden wollte, sagte sich Kamal, brauchte man nur Abdel oder el-Haddar zu fragen. Dass allerdings einer von ihnen etwas verriet, war sehr unwahrscheinlich; nicht einmal unter der schlimmsten Folter hätten sie den Mund aufgemacht.

Neben Saud traf Kamal im Büro auch seinen Onkel Abdullah an, den Leiter des Geheimdienstes, seinen Onkel Fahd, den Außenminister, seinen Bruder Faisal, Staatssekretär, Ölminister Scheich Tariki und Jacques Méchin, der ihm aufrichtig erfreut entgegeneilte, um ihn zu begrüßen.

»Bevor du gekommen bist, Kamal, hat Saud uns seinen Finanzplan für dieses Jahr vorgestellt.« Er reichte ihm einige Papiere, die Kamal durchblätterte.

»Weiter hinten befindet sich die Aufstellung der Einnahmen, mit denen wir die anfallenden Kosten bestreiten wollen«, erklärte Tariki. »Wie du siehst, werden wir die Bezüge der Familie senken müssen, denn die Umstände …«

»Die Einnahmen sind zu hoch angesetzt«, unterbrach ihn Kamal. Es wurde totenstill.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Méchin.

Kamal hielt einen Vortrag über die Marktlage: die Zinssätze für internationale Kredite, die mit Sicherheit höher ausfallen würden als in dem Bericht angesetzt, die Überproduktion von russischem Erdöl, das zwar nicht die Qualität des arabischen Rohöls habe, aber von vielen Erdölgesellschaften trotzdem als gut genug erachtet werde, die Inflationsrate, das Währungssystem und die politische Lage, die für die Mitglieder der OPEC ganz und gar nicht rosig aussehe. Abschließend stellte er fest, dass die Einnahmen um dreißig Prozent niedriger ausfallen würden als erwartet und das Defizit mehrere Millionen Dollar betragen werde, die Verschuldung aus dem Vorjahr nicht eingerechnet, die gerade so mit den Vorschüssen aus der Erdölförderung gedeckt werde.

»Wenn das stimmt, was du sagst«, erklärte Saud, »werden wir weitere Anleihen aufnehmen müssen, um das Defizit auszugleichen. Wir können die Ausgaben nicht weiter senken, als wir es schon getan haben.«

»Und woher willst du das Geld bekommen?«, fragte Kamal.

»Von den Banken, wie immer.«

»Sie werden dir nichts geben«, stellte Kamal klar. »Mit der Gründung der OPEC hast du den gesamten Westen gegen dich aufgebracht, und die Banken, an die du dich wenden willst, sind ein entscheidender Teil davon. Sie werden tausend Ausreden vorbringen – dass der Ölpreis am Boden ist, dass du verschuldet bist, dass die Garantien nicht ausreichen – und dir keinen Dollar geben. Für sie ist die Existenz des Kartells eine ständige, inakzeptable Bedrohung ihres wichtigsten Rohstoffs. Sie werden jetzt handeln, wo die OPEC schwach und verletzlich ist.«

»Am Ende werden sie umfallen«, erklärte Saud. »Sie werden angekrochen kommen und mich anbetteln, ihnen Öl zu verkaufen.«

»Du wirst angekrochen kommen«, entgegnete Kamal ruhig, und die Übrigen hielten den Atem an. »Sie haben die Macht, das musst du begreifen, Saud.«

»Aber sie brauchen unser Öl«, wandte Tariki ein.

»Sie brauchen Öl«, stellte Kamal klar, »und das sichern ihnen der Iran und Libyen.«

»Du hast ja keine Ahnung, mit welchen Problemen ich in den Jahren meiner Herrschaft zu kämpfen hatte«, sagte Saud erbittert. »Als unser Vater starb, war es um das Land längst nicht so gut bestellt, wie wir dachten.«

»Unser Vater«, erklärte Kamal, »ist in Frieden gestorben, weil er alles erreicht hatte, was er sich vorgenommen hatte, und noch mehr. Er hat das Land zurückerobert, das man seiner Familie weggenommen hatte, er vereinte die Gebiete Hedschas und Nadschd und gründete das Königreich Saudi-Arabien. Er festigte seine Macht, und wenn uns heute die Großmächte der Welt respektieren, dann seinetwegen. Sogar die Engländer mussten ihre Versuche aufgeben, uns zu beherrschen.«

Die Unterhaltung wurde hitziger, und die Gemüter erregten sich. Méchin versuchte auszugleichen, indem er Kamal fragte, ob er einen Vorschlag habe, wie das finanzielle Debakel abzuwenden sei, auf das sie zusteuerten. Ahmed Yamani holte eine schriftliche Aufstellung aus seinem Koffer und verteilte sie. Als Saud und Tariki sahen, wie niedrig die voraussichtlichen Ausgaben angesetzt waren, protestierten sie.

»Du bist der Herrscher, die Entscheidung liegt in deinen Händen«, stellte Kamal klar und setzte damit der Diskussion ein Ende.

Fahd, der schweigend die Aufstellungen von Tariki und Yamani verglichen hatte, nahm die Brille ab, stand auf und wandte sich an seinen Neffen, den König, allerdings weniger diplomatisch und versöhnlich als sein Bruder Abdullah: »Die Familie will, dass Kamal wieder die Wirtschaft und die Finanzen übernimmt, wie 1958.«

Aller Blicke wanderten zwischen dem König und der unbewegten Miene des Prinzen hin und her.

»Das ist nicht nötig«, erklärte Saud. »Die Situation ist unter Kontrolle. Mit der Prognose der voraussichtlichen Einnahmen und Ausgaben, die der Wirtschaftsminister erstellt hat, werden wir durch die Krise kommen, bis wieder Geld aus dem Verkauf des Erdöls fließt. Ich will keinen Premierminister mehr. Damit würden wir nur eingestehen, dass wir Probleme haben, und unser Ansehen im Ausland beschädigen.«

»Unser Ansehen ist bereits beschädigt«, entfuhr es Kamal, und es dauerte einen Moment, bis Saud begriff, dass sein Bruder direkter gewesen war, als er dachte.

»Was willst du damit sagen?«, fragte er ungehalten. »Redest du von der Gründung des Kartells?«

Tariki, die eigentliche Kraft hinter der OPEC, schaltete sich in den Wortwechsel zwischen den Brüdern ein, um die Gründe zu erläutern, die sie zu der undankbaren Aufgabe bewegt hatten, sich mit den englischen und nordamerikanischen Ölmultis anzulegen. Er musste unbedingt die erhitzten Gemüter beruhigen. Tariki war sich völlig darüber im Klaren, dass Saud ihn mit sich ins Verderben reißen würde, wenn er stürzte, und er würde dem nichts entgegenhalten können. Niemand in der Familie hatte einen Zweifel daran, wer Saudi-Arabien seit etwas mehr als acht Jahren wirklich regierte.

»Letztendlich«, fuhr Tariki fort, »hat die OPEC ein höheres Ziel vor Augen: die Umgestaltung der Rohstoffmärkte, um den Ausverkauf zu beenden, den die Mächtigen der Welt seit undenklichen Zeiten mit uns betreiben. Es geht nicht nur darum, dass sich die Erdölländer formieren, sondern sämtliche Drittweltländer, die die Industriestaaten mit ihren Bodenschätzen beliefern. Die Schwachen werden sich zusammenfinden, um eine unbesiegbare Vereinigung zu bilden.«

»Tolle Bündnispartner hast du dir da gesucht«, bemerkte Kamal ironisch. »Die ärmsten und am höchsten verschuldeten Staaten des Planeten. Wenn ich von der Beschädigung unseres Ansehens rede, meine ich damit unsere Haltung denen gegenüber, die die Vormachtstellung auf der Welt für sich beanspruchen. Sie sind es, die unser Öl abnehmen, weil sie über Industrie verfügen, sie bezahlen uns, weil sie Geld haben, und daher stellen sie auch die Regeln auf. Wir könnten das Öl wegschütten, das wir überall in unserem Land finden, wenn die Erdölkonzerne es nicht kaufen würden, denn wir verfügen nicht über die Technologie, um es zu raffinieren oder gar selbst zu nutzen. Wir sind sogar auf sie angewiesen, um es in Pipelines zum Hafen von Dschidda zu transportieren. Für die Industriestaaten ist die Tatsache, dass wir zu einem gewissen Ansehen gekommen sind, nichts weiter als eine Laune der Natur. Ohne den Westen sind wir nichts, und wir können uns nicht den Luxus erlauben, uns mit ihm anzulegen.«

»Du scheinst ein Fürsprecher der Ölgesellschaften zu sein«, bemerkte Saud und stand auf. »Wie ich sehe, hat dir die Christin, mit der du dich herumtreibst, derart den Kopf verdreht, dass du imstande bist, dein eigen Fleisch und Blut zu verraten.«

Alle erstarrten und blickten betreten zu Boden. Kamal nahm seine Unterlagen und verstaute sie ganz ruhig in seiner Aktentasche. Dann sah er auf und fixierte seinen Bruder.

»Das hättest du nicht sagen sollen.«

Erhobenen Hauptes verließ er das Büro. Er wusste, dass es Saud nicht gelingen würde, die Ausgaben unter Kontrolle zu bringen, und die Banken würden ihm keinen Cent leihen, um sie zu finanzieren. Er würde kläglich untergehen, und er, Kamal, würde dabei zusehen, ohne ihm die Hand zu reichen.

Fahd und Abdullah warfen ihrem Neffen, dem König, einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie Kamal folgten, begleitet von Yamani, Faisal und Méchin. Schweigen senkte sich über den Raum, das die Bestürzung, die Nervosität und die Unentschlossenheit der Zurückgebliebenen verriet. Saud trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch, während Tariki ihn tadelnd ansah.

»Ich werde ihn töten lassen«, sagte der König schließlich.

»Nichts dergleichen wirst du tun«, stellte Tariki klar. »Wenn du ihn töten lässt, schaufelst du dir dein eigenes Grab, weil alles auf dich hinweisen wird. Derzeit hätte keine Gruppierung im Nahen Osten etwas von seinem Tod, und keine westliche Regierung würde ihren Geheimdienst losschicken, um ihr Ziehkind und ihren zukünftigen Verbündeten auszuschalten. Am Ende würdest du als der einzig mögliche Mörder übrig bleiben. Was glaubst du, warum er fast einen Monat in Washington und New York gewesen ist? Wenn du Kamal loswerden willst, musst du anders vorgehen. Du musst nach seiner Schwachstelle suchen, seiner Achillesferse, und dann hart und erbarmungslos zuschlagen. Was ist mit dieser Christin, die du erwähnt hast? Was ist über sie bekannt?«

Saud ließ seine Leibwächter el-Haddar und Abdel rufen und trug ihnen auf, sich mit Malik, seinem Spion in der argentinischen Botschaft, in Verbindung zu setzen.

***

Im anderen Flügel des Palasts versammelte sich die Gruppe, die soeben die Räume des Königs verlassen hatte, in Abdullahs Büro. Nach Sauds harschen Worten hatte niemand mehr einen Ton gesagt, und während sie über den Vorfall und seine Folgen nachdachten, tranken sie starken Kaffee und ließen ihre bunten Gebetskettchen spielen.

»Hier werde ich mich nicht unterhalten«, sagte Kamal plötzlich. »Dieser Raum muss völlig verwanzt sein.«

»Keine Sorge«, entgegnete Abdullah. »Ich lasse das Büro jeden Morgen durchsuchen, bevor ich mit der Arbeit beginne.«

Faisal stellte Kamal Fragen zu seiner Nordamerikareise, und sie widmeten sich tagespolitischen Fragen. Niemand erwähnte Sauds ungeschicktes und unangebrachtes Verhalten, aber allen ging der gleiche Gedanke durch den Kopf: dass seine Tage als König gezählt waren. Seine Extravaganzen und sein ausschweifendes Leben, die so gar nicht im Einklang mit den islamischen Dogmen über die Mäßigung des Fleisches standen, waren der Familie schon längst ein Dorn im Auge. Diese hatte von Anfang an bemerkt, dass es Abdul Aziz’ Nachfolger an Intelligenz und an Charisma fehlte. Faisal, der die sofortige Rückbesinnung auf den Koran für das einzige Mittel hielt, um zur früheren Größe zurückzufinden, hatte das stärkste Interesse daran, die Skandalherrschaft seines älteren Bruders zu beenden, und drängte Kamal ein weiteres Mal, unverzüglich das Amt des Premierministers zu übernehmen.

»Das werde ich nicht tun, Faisal«, erklärte Kamal. »Ich werde das Amt des Premierministers nicht akzeptieren, solange mir nicht garantiert wird, dass ich in Wirtschafts- und Finanzfragen völlig freie Hand habe. Ich will im Wirtschafts- und Ölministerium nach Belieben schalten und walten können und werde nicht zulassen, dass Saud überall seine Nase hineinsteckt und alles in Frage stellt. So etwas wie 1958 will ich nicht noch einmal erleben.«

Sie diskutierten über eine Stunde. Am Ende fasste Kamal die Vorschläge zusammen und verteilte Aufträge. Als jeder wusste, was er zu tun hatte, und sie einen Termin für das nächste Treffen vereinbart hatten, verabschiedeten sie sich. Es war fast Mittag.

»Geh noch nicht«, bat Abdullah Kamal. »Ich muss mit dir reden.«

Kamal wollte sich entschuldigen, ließ es aber bleiben, als er die Miene seines Onkels bemerkte. Nach Abdul Aziz’ Tod vor neun Jahren war Abdullah sein Mentor und Ratgeber geworden. Er war einer der tapfersten Krieger gewesen, auf die Abdul Aziz bei der Einigung der Arabischen Halbinsel hatte zählen können. Unerschrocken und verwegen im Krieg, zeigte er sich in Friedenszeiten von einer völlig anderen Seite. Die Weisheit seiner Gedanken spiegelte sich in seinem zurückhaltenden Wesen wider. Bei den Mitgliedern der vielköpfigen Familie al-Saud war sein Rat sehr gefragt. Man wandte sich an ihn, um die unterschiedlichsten Probleme zu lösen, von einer Ernennung in die Regierung bis hin zum Namen eines Babys.

»Deine Mutter war letzte Woche bei mir«, begann Abdullah das Gespräch. »Es geht um die Sache mit dem argentinischen Mädchen.« Kamal erhob sich aus seinem Sessel und lief im Zimmer auf und ab. »Ich gab zu bedenken, dass es sich bestimmt um eine weitere deiner Affären handelt, aber sie sagt, dass es diesmal anders ist und du sie heiraten willst. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt.«

»Kamal, sie ist eine Christin.«

»Entschuldige, Onkel, ich werde weder mit dir noch mit meiner Mutter oder sonst wem über mein Privatleben diskutieren.«

»Dein Leben ist nicht mehr privat von dem Moment an, da die Familie in dir den zukünftigen König sieht.«

Kamal nahm seine Sachen, grüßte auf orientalische Weise und wollte das Büro verlassen.

»Warte noch«, versuchte es Abdullah. »Hast du mal daran gedacht, dass dieses Mädchen an deiner Seite die Hölle durchmachen wird, in einer Familie, die sie ablehnt, und Sitten und Gebräuchen unterworfen, auf die sie nicht im Geringsten vorbereitet ist?«

»Alles, was ich weiß, ist, dass mein Leben die Hölle sein würde, wenn sie nicht bei mir wäre.«

»Du bist ein Egoist.«

»Mag sein.«

***

Abenabó und Kader brachten Francesca zu Kamals Wohnung im Malaz-Viertel, was ein gewisses Risiko in sich barg, denn die gesamte Familie al-Saud wohnte dort. Aber zur Zeit der Mittagsruhe befand sich keine Menschenseele auf der Straße. Gegen halb drei hielt der Wagen vor einem kleinen, aber eleganten Haus, und Kader führte Francesca, die vollständig in die abaya gehüllt war, in den zweiten Stock. Kamal öffnete, ohne dass sie anklopfen musste.

»Hallo«, sagte Francesca.

»Hallo«, antwortete er und ließ sie herein.

Er gab einige Anweisungen an Kader, der als Wache in der Eingangshalle im Erdgeschoss stehenblieb. Dann führte er sie wortlos in den Salon, wo er ihr Umhang, Jacke und Handtasche abnahm. Er blieb vor ihr stehen und liebkoste sie mit Blicken. Es war kein fordernder, sondern ein zärtlicher, sanfter Blick, der Francesca überraschte. Kamal streckte die Hand aus und ließ seine Finger über ihre Wange gleiten.

»Alle sagen, dass ich dir schade, wenn ich dich an mich binde.«

»Dann schade mir«, sagte sie und lächelte vor lauter Glück, ihn wiederzusehen. Als er sie lächeln sah, war es mit al-Sauds Zurückhaltung vorbei; er schloss sie in seine Arme und küsste ihr Haar, ihre Stirn, die tränenfeuchten Augen, die Wangen, bis sein Mund auf ihre warmen, sehnsüchtigen Lippen traf.

»Mein Liebling!«, sagte Kamal ein ums andere Mal, während er ihr die Kleider auszog.

Sie liebten sich mit derselben Leidenschaft wie in den gemeinsamen Tagen in Dschidda und der Oase. Danach entspannten sie sich in der Badewanne, bis zum Hals in das schaumige Wasser getaucht, Francesca an Kamals Brust gelehnt.

»Wie viele Frauen hatte dein Vater?«, wollte Francesca wissen.

»Viele.«

»Mehr als vier, wie es der Koran vorschreibt?«

»Hast du den Koran gelesen?«

»Nein. Sara, die Haushälterin der Botschaft, hat mir die Sure zitiert. Sie sagte auch, dass ihr mit acht Jahren beschnitten werdet. Stimmt das?«

Kamal lachte.

»Ich wusste nicht, dass du beschnitten bist.«

»Das freut mich«, sagte er.

»Was freut dich?«

»Dass ich der einzige Mann in deinem Leben war und bin.«

»Ja, das bist du«, versicherte sie, um dann noch einmal zu fragen: »Also, wie viele Frauen hatte dein Vater?«

Kamal lachte erneut. Als sie den Spott in seinem Lachen bemerkte, wurde Francesca wütend.

»Warum lachst du?«

»Weil ich es lustig finde, dich empört zu sehen. Ich muss zugeben, dass mein Vater offensichtlich vorhatte, das ganze Land mit seiner Nachkommenschaft zu bevölkern. Selbst mit einigen seiner Sklavinnen hatte er Kinder. Ein wahrer Mann, der alte Herr.«

»Mamma mia!«

»Und, was geht dir durch den Kopf? Dass ich viele Frauen haben werde, weil mein Vater sie hatte oder weil der Koran es erlaubt? Weißt du, in dieser Hinsicht sind wir nicht anders als jeder Mann im Westen. Ein Araber, der eine Frau findet, die er liebt und bei der er absolute Erfüllung findet, hat sicherlich nicht das Bedürfnis, sich eine zweite Frau zu nehmen. Hast du eine Ahnung, wie viele Europäer ich kenne, die jahrelang zwei Frauen nebeneinander haben, die Ehefrau und die Geliebte? Falls es nicht mehrere Geliebte gleichzeitig sind. Im Westen betreibt man eine versteckte und, so wage ich zu behaupten, gesellschaftlich akzeptierte Polygamie. Je mehr Frauen, desto männlicher. Aber die Männer im Westen machen schöne Worte und handeln nicht danach, sie machen Versprechungen und halten sich nicht daran. Oder schwören sie nicht vor dem Altar die Treue, bis dass der Tod sie scheide?«

Kamals Worte machten Francesca nachdenklich. Sie musste an die heimliche Liebe zwischen dem Herrn Esteban und Rosalía denken, und sie erinnerte sich daran, wie sie selbst in jener Nacht, als Aldo Martínez Olazábal an ihr Fenster geklopft hatte, beinahe im dunklen Garten seinem Drängen nachgegeben hätte. Diese Erinnerungen und Kamals entschiedene Antwort gaben ihr die innere Ruhe zurück, die sie an jenem Tag verloren hatte, als Sara die Koransure rezitiert hatte. Sie schob den Schaum weg und legte seine Hände auf ihren Bauch.

»Wir bekommen ein Baby«, sagte sie dann und drehte sich zu ihm um, um seine Reaktion zu sehen.

Die Farbe wich aus Kamals Wangen, und ihm, der sich sonst nie etwas anmerken ließ, standen für einen Moment die Verwirrung und die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

»Was hast du? Freust du dich nicht, Vater zu werden?«

Kamal antwortete nicht, sondern betrachtete gebannt seine dunkle Hand auf Francescas schneeweißem Bauch.

»Allah sei gepriesen«, flüsterte er dann mit rauer Stimme. »Du trägst ein Kind von mir unter deinem Herzen. Ein Kind von mir …«, wiederholte er. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt, als du kamst? Ich hätte dich nicht angerührt. Und wenn wir ihm geschadet haben? Ich war sehr grob mit dir. Wir haben es auf dem Fußboden getrieben! Ich war völlig von Sinnen!«, warf er sich vor. Francesca fand seine Sorgen sehr amüsant. »Lach nicht, sei nicht so leichtsinnig. Gehen wir aus der Wanne. Wir werden zu Dr. al-Zaki fahren. Hast du Schmerzen? Wehen?«

»Kamal, ich bitte dich!«, sagte Francesca erstaunt. »Beruhige dich! Deinem Kind und mir geht es blendend. Und komm nicht auf die Idee, nicht mehr mit mir zu schlafen, nur weil ich schwanger bin. Es schadet dem Baby nicht. Abgesehen von morgendlichem Unwohlsein fühle ich mich bestens.«

»Morgendliches Unwohlsein?«

»Ja, das, was jede Schwangere während der ersten drei Schwangerschaftsmonate hat.«

»Egal, ich will, dass al-Zaki dich untersucht. Er ist für die Geburten in meiner Familie zuständig. Gehen wir.«

Sie stiegen aus der Wanne. Kamal wickelte sie in ein Badetuch und trug sie ins Schlafzimmer, als ob sie krank wäre. Dort legte er sie aufs Bett und kniete sich neben das Kopfende. Er schien die Fassung wiedergefunden zu haben und strich ihr lächelnd das Haar aus der Stirn, während er sie mit einer Zärtlichkeit ansah, die Francesca zutiefst berührte.

»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte sie. »Ich hatte Angst, du könntest es nicht haben wollen.«

»Wie kommst du darauf? Unser Kind ist das größte Geschenk, das Allah mir machen konnte.« Er küsste ihren Bauch und schmiegte seine Wange dagegen. »Für mich seid ihr, du und das Baby, mein Leben.«

Sie sah Kamal zu, wie er sich anzog, ernst und schweigsam wie immer, in Gedanken bei irgendwelchen Dingen aus einer verborgenen Welt, zu der sie keinen Zugang hatte.

»In drei Tagen fliege ich nach Genf«, teilte er ihr mit. »Es ist nur ein kurzer Aufenthalt. In nicht einmal einer Woche bin ich wieder zurück und wir beginnen mit den Hochzeitsvorbereitungen. Jetzt, da ein Kind unterwegs ist, gibt es keinen Grund, noch länger zu warten.«

»Wieder eine Reise«, sagte Francesca traurig. »Wieder Alleinsein.«

»Die Tage werden wie im Flug vergehen.«

»Wie könnten sie, wenn ich nicht einmal in den Garten der Botschaft darf. Abenabó und Kader wollen mich auch nicht zum Einkaufen auf den Markt lassen. Ich verbringe den ganzen Tag in meinem Büro, in den Botschaftsräumen oder in der Küche.«

»Und so wird es auch bleiben«, bestimmte Kamal hart. »Abenabó und Kader handeln auf meine Weisung. Ich will nicht, dass du dich zeigst, erst recht nicht, wenn ich nicht in der Stadt bin.« Als er ihr trauriges Gesicht sah, wurde Kamals Stimme weicher. »Hör zu, Liebling, es ist nicht leicht für mich im Moment; es sind wichtige Fragen zu lösen, bevor ich ganz ruhig sein kann. Bitte versteh mich und füge dich. Wie sollte ich weiterleben, wenn dir oder unserem Baby etwas zustößt? Das würde ich mir nie verzeihen.«

»Was soll mir denn zustoßen?«

»Du sollst dir keine Sorgen machen. Du sollst ein ruhiges Leben führen, auf dich aufpassen und ordentlich essen, damit unser Kind stark und gesund wird wie sein Vater. Ich werde Jacques sagen, dass er dich jeden Tag besuchen soll; ich weiß, dass du dich gerne mit ihm unterhältst.« Nach einem strengen Blick sagte er: »Du siehst dünner aus. Isst du nicht genug?«

»Ich behalte fast nichts bei mir. Anfangs habe ich den Geruch von Milch nicht ertragen, jetzt geht es mir auch mit Fleisch so und mit Mauricios Aftershave. Du ahnst nicht, was ich alles anstelle, um ihn so wenig wie möglich zu sehen.«

»Du hast ihm nicht gesagt, dass du schwanger bist, oder?«

»Nein, ich dachte, du wolltest das übernehmen. Nur Sara weiß Bescheid.«

»Wie geht es Mauricio?«

»Er macht sich große Sorgen. Die Nachrichten aus Argentinien lassen darauf schließen, dass der Staatsstreich unmittelbar bevorsteht. Wird Mauricio den Botschafterposten aufgeben müssen, wenn die Militärs die Macht übernehmen?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Was die Schwangerschaft angeht, so braucht vorläufig niemand davon zu erfahren.«

Kamal ging zum Nachttisch, nahm ein wunderschönes Etui aus blauem Samt aus der Schublade und überreichte es ihr. Francesca öffnete es mit zitternden Händen und entdeckte eine vierreihige Perlenkette, die Kamal ihr um den Hals legte.

»Es sind Perlen aus Bahrain, die wertvollsten, die es gibt. Das Kostbarste auf der Welt für dich, Francesca.« Und er küsste sie auf den Hals.

Francesca blickte auf und lächelte ihn an, um eine böse Ahnung zu verscheuchen. Ihre Mutter hatte immer gesagt, Perlen bedeuteten Tränen.