Epilog

Paris, im November 1964


Kamal trat ans Bücherregal, nahm das Buch Die Kultur der Araber von Professor Le Bon heraus und ging wieder zu seinem Schreibtisch zurück. Er schlug Seite 135 auf und las zum wiederholten Mal die Stelle, die er selbst vor Jahren unterstrichen hatte: »Jeder absolute Monarch ist auf einen herausragenden Mann an seiner Seite angewiesen. Sind beide wahrhaft begabt, werden sie erfolgreich sein; sind sie indes Mittelmaß, stürzen sie schneller, als sie aufstiegen.«

Er dachte an Saudi-Arabien, seine ferne, schmerzlich vermisste Heimat, und wurde traurig. Das Summen der Gegensprechanlage riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ja, Claudette?«, sagte er zu seiner Sekretärin.

»Ihr Bruder Faisal ist auf Leitung zwei, Monsieur.«

»Stellen Sie ihn bitte durch.«

Faisal rief aus Riad an. Kamal ahnte sofort, was der Grund dafür war. Sie sprachen über dies und das, bis Faisals Stimme auf einmal einen anderen Klang bekam.

»Eigentlich rufe ich an«, sagte er, »weil ich es sein wollte, der dir die Nachricht überbringt: Vor einer Stunde hat Saud die Abdankung unterschrieben. Er hat vierundzwanzig Stunden Zeit, um Saudi-Arabien zu verlassen. So wie es aussieht, wird er sich auf seine griechische Insel zurückziehen. Es wurde eine mehr als großzügige Apanage für ihn und seine Familie vereinbart. Tariki ist gestern nach Kairo ausgereist, und Onkel Abdullah hat ihm verboten, das Land je wieder zu betreten.«

»Dann bleibt mir an dieser Stelle nichts weiter, als dich zu beglückwünschen, wenn die Familie dich, wie ich annehme, zum König bestimmt hat.« Faisals Schweigen war beredt. »Du wirst ein guter Herrscher sein, mein Bruder, und ich sage dir eine Zeit des Friedens und des Wachstums voraus. Mögen dich zukünftige Generationen als großartigen König in Erinnerung behalten, so wie unseren Vater. Allah leite dich auf deinem Weg!«

»Ich möchte dich zu meinem Premierminister ernennen, Kamal. Du bist der Einzige, der diesen Posten erfolgreich ausfüllen kann.«

»Schaff das Amt des Premierministers ab! Es schwächt nur die Position des Königs. 1958 wurde es eingeführt, um die Krise zu überwinden. Aber du brauchst keinen Premierminister; du besitzt die nötige Stärke und Fähigkeit, um die Geschicke des Landes allein zu lenken.«

»Ich möchte dich auf jeden Fall hier in Riad haben. Du bestimmst das Amt, das du bekleiden möchtest, und es gehört dir. Interessiert dich das Erdölministerium?«

»Berufe Ahmed Yamani zum Erdölminister. Du weißt ja, dass ich ihn seit Jahren darauf vorbereitet habe. Er ist dein Mann.«

»Ich weiß, dass Ahmed bestens vorbereitet ist, aber wie Onkel Abdullah und Jacques immer sagen: Es zählen nicht nur Können und Verstand, sondern auch der gute Name und gute Beziehungen. Und die hast nur du. Du wirst von den internationalen Konzernen und den dicken Fischen des Establishments geachtet und gefürchtet. Das Land braucht dich, Kamal. Ohne deine Hilfe können wir die Krise nicht überwinden. Beteilige dich an meiner Regierung! Ich bitte dich darum, beim Andenken unseres Vaters.«

»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dich zu unterstützen, Bruder. Aber ich werde nicht nach Riad zurückkehren.«

»Ich weiß, dass es wegen Francesca ist«, sagte Faisal ohne jeden Vorwurf, »und ich verstehe dich.«

Kamal legte den Hörer auf, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und verbarg das Gesicht in den Händen. Saud entthront, des Landes verwiesen, vor der Welt gedemütigt. Bei Allah, wie sehr hatte er sich diesen Augenblick herbeigewünscht! Er hatte sogar Pläne für einen langsamen und schmerzvollen Tod geschmiedet, um seinen älteren Bruder für das büßen zu lassen, was Abu Bakr und seine Männer Francesca angetan hatten, sich grausame Foltern für den Verlust seines ersten Kindes ausgedacht. Doch in diesem Moment, da die Ereignisse die bitteren Erlebnisse der Vergangenheit linderten, suchte er in seinem Inneren vergeblich den abgrundtiefen Hass der letzten Jahre, noch empfand er Genugtuung über die Rache. Schon seit einiger Zeit hatte er Saud aus seinen Gedanken verbannt. Er betrachtete ihn nicht länger als seinen älteren Bruder. Die Erinnerung an ihn schmerzte nicht mehr – es war ihm gleichgültig, ob er lebte oder tot war. ›Ich sollte ihn umbringen lassen‹, dachte er ohne Überzeugung. Aber ihn jetzt töten lassen, wo er wehrlos war wie ein Kind? Wozu? Um seine Hände mit dem Blut seines Vaters Sohn zu beflecken? Francesca lebte, und sie gehörte ihm. Er würde nie mehr zulassen, dass man sie ihm entriss.

»Ich bekomme ein weiches Herz«, murmelte er vor sich hin. Er stand auf und ging mit gesenktem Blick im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Bei dem Gedanken an Faisal als neuen König hatte er gemischte Gefühle. Die Heirat mit Francesca hatte ihn den Thron gekostet. Die Familie akzeptierte sie und achtete sie sogar, seit sie ihm einen Sohn geschenkt hatte, aber sie gehörte nach wie vor einer fremden, unbekannten Welt an und war als Gattin des Herrschers unerwünscht. »Francesca …« Schon die Erwähnung ihres Namens rechtfertigte alles, was er für sie geopfert hatte. Sie waren glücklich in Paris. Er ging seinen Geschäften nach, sie kümmerte sich um den kleinen Shariar und den Haushalt. Hatte er das Recht, diese Harmonie zu stören und sie darum zu bitten, nach Riad zurückzugehen? Aber er vermisste die Heimat und seine Familie, ihm fehlten die Wüste, die Ausritte am Roten Meer, die Oase seines Großvaters.

Kamal zog das Jackett an und verließ das Büro. Nachdem er Claudette angewiesen hatte, alle Nachmittagstermine abzusagen, fuhr er nach Hause. Francesca saß auf dem Bett und stillte ihren gemeinsamen Sohn. Er blieb leise stehen und betrachtete sie: Ihr Profil wirkte wie aus weißem Alabaster gemeißelt, das zum Knoten aufgesteckte Haar legte ihren langen, schlanken Hals frei. Sie sprach Spanisch mit dem Kleinen und lächelte.

»Willst du den ganzen Tag da stehenbleiben?«, sagte sie schließlich, ohne sich umzudrehen.

»Woher wusstest du, dass ich in der Tür stehe?«, fragte Kamal und kam näher.

»Ich konnte dich spüren«, lautete ihre Antwort.

Shariar ließ die Brustwarze los und drehte das Köpfchen zu dem Eindringling, der das Idyll mit seiner Mutter störte. Kamal küsste ihn auf die Stirn. Der Kleine hatte alles von ihm: die dunkle Haut, die braunen Locken, das scharfgeschnittene Gesicht, den vollen Mund. Nur die Augen, die waren von seiner Mutter.

Francesca hörte schweigend zu, während Kamal ihr von dem Gespräch mit Faisal berichtete. Ihre Ruhe stand ganz im Gegensatz zu seiner Nervosität. Er war ungewöhnlich gesprächig und schilderte die Vorgänge in einer Ausführlichkeit, die so gar nicht seiner zurückhaltenden Art entsprach.

»Und was hast du auf Faisals Angebot geantwortet?«

»Dass ich nicht nach Riad zurückkehren werde.«

»Es ist meinetwegen, stimmt’s?«, wollte Francesca wissen.

»Du bist zu freiheitsliebend, um mit den Einschränkungen in meinem Land leben zu können. Du würdest es nicht ertragen.«

»Ich leide bei dem Gedanken, dass du gerne dort leben würdest und es meinetwegen nicht tust.«

»Du stehst für mich an erster Stelle, verstehst du das nicht? Vor mir, vor Saudi-Arabien und vor der ganzen Welt. Was muss ich noch tun, damit du das begreifst?«

***

Saud starb fünf Jahre später auf seiner Ägäisinsel an derselben Krankheit, die ihm schon während der letzten Jahre seiner Regentschaft zu schaffen gemacht hatte. Saud war tot, und unter Faisal brach eine Zeit finanziellen Wohlstands und gesellschaftlichen Friedens an, die auf Mäßigung und der Einhaltung der Gesetze des Korans basierte. Es war nicht einfach, die schlechte Finanzlage in den Griff zu bekommen, aber durch die stabilen Erdölpreise und ein vernünftiges Verteilungssystem konnten der Niedergang gebremst und der Bankrott abgewendet werden. Als die Ausgaben die Einnahmen nicht mehr überstiegen, wandte Faisal seine Aufmerksamkeit der inneren Entwicklung des Landes zu, während Ahmed Yamani in seinem Amt als Erdölminister im Ausland die Anerkennung und Bewunderung zurückgewann, die man einst dem großen Abdul Aziz gezollt hatte. In seinen Augen hatte die OPEC nach wie vor keinen entscheidenden politischen Einfluss, und ihre Vorschläge und Maßnahmen führten lediglich zu Spannungen und Verstimmungen auf dem Erdölmarkt. Als Vertreter des Königreichs Saudi-Arabien in der OPEC verhinderte Yamani immer wieder drohende Embargos, die einzige schlagkräftige Waffe, über die das Kartell verfügte. Sein oberstes Ziel war mehr Unabhängigkeit bei der Förderung, Raffinierung, dem Transport und der Verteilung des Schwarzen Goldes, das sich nach wie vor in den Händen westlicher Konzerne befand. »Wir müssen unsere eigene Technologie entwickeln«, sagte Yamani immer wieder zu König Faisal, der bedingungslos hinter seinem Minister stand.

Kamal übernahm schließlich das Amt des saudischen Botschafters in Frankreich. Durch die Rückkehr in die Politik änderte sich sein Leben. Er war häufig unterwegs, arbeitete viele Stunden täglich, traf die wichtigsten Persönlichkeiten der internationalen Politik und erhielt Einladungen zu Seminaren und Tagungen. Man bot ihm Lehrstühle an renommierten amerikanischen Universitäten an, und er wurde von Journalisten belagert, die davon träumten, den geheimnisvollen Saudi und seine südamerikanische Gattin zu interviewen.

Niemand hätte sich vorstellen können, dass dieser beeindruckende Mann mit dem stechenden Blick, der kaum jemals lächelte und der Furcht und Respekt einflößte, zu Hause, sobald er durch die Tür kam, sich auf den Teppich kniete, um mit seinen Kindern zu toben, die auf seinen Rücken krabbelten, seine Haare zerzausten und in seinen Taschen wühlten. Und dass er später, in der Dunkelheit und Stille der Nacht, mit der Leidenschaft eines jungen Mannes die Wärme seiner Frau suchte. Francesca war seine Zuflucht vor den Spannungen und Problemen der Welt da draußen. Sie war seine Gefährtin und Vertraute. Er liebte sie aus tiefstem Herzen, und diese Liebe war das Einzige, was ihm Angst machte. Er war ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, er brauchte sie wie die Luft zum Atmen und verlor beinahe den Verstand bei dem Gedanken, er könne sie verlieren, jemand könne sie ihm wegnehmen.

Francesca ging ganz in der Erziehung der Kinder und der Führung des Haushalts auf, darin unterstützt von Sara und Kasem, die nicht gezögert hatten, ihre Anstellung in der argentinischen Botschaft aufzugeben, um für Francesca zu arbeiten. Diese treuen Seelen gaben auf sie und die Kinder Acht, als handelte es sich um Schätze von unsagbarem Wert.

Nach dem kleinen Shariar brachte Francesca Alaman zur Welt. Anders als Shariar, der nicht nur äußerlich Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, war Alaman ein romantischer Träumer, der nichts lieber tat, als Urgroßvater Harum in der Wüste zu besuchen. Er konnte gar nicht genug von den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht bekommen. Francesca behütete ihn mehr als die anderen, weil sie an ihm eine Zerbrechlichkeit bemerkte, die er vielleicht von ihr geerbt hatte. Alamans Leidenschaft für die Natur zeigte sich auch in seiner blinden Begeisterung für Pferde. Er las jedes Buch über das Thema, das er in die Finger bekam, und verblüffte seinen Vater immer wieder, wenn er über die Zucht von Araberpferden erzählte. Zu seinem zehnten Geburtstag schenkte Francesca ihm Rex, der nur beim Sohn seiner Besitzerin lammfromm war.

Als Alaman drei Jahre alt war, wurde der dritte Sohn der al-Sauds geboren, der kleine Eliah, Jacques Méchins Liebling. Jacques behauptete immer: »Eliah wird mal König von Saudi-Arabien. Der Größte von allen«, setzte er dann stolz hinzu, als handelte es sich um sein eigen Fleisch und Blut. Der jüngste al-Saud verband in seiner Persönlichkeit Gewitztheit, Klugheit und eine große Lebensfreude. Méchin übernahm die Erziehung des Jungen, wie er es damals bei Kamal getan hatte, ohne Rücksicht auf seine beinahe achtzig Jahre oder die hartnäckige Gicht, die ihm oft zu schaffen machte. Wenn Eliah ins Zimmer kam, ging es ihm gleich besser. Er war eine beeindruckende Erscheinung, groß wie sein Vater und von atemberaubender Schönheit. Schon seine Stimme ließ die Anwesenden verstummen und flößte Respekt ein. Er war ernst und zurückhaltend, aber in Gegenwart seiner Mutter verschwanden die Furchen auf seiner Stirn, und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.

Als man Kamal mitteilte, dass auch sein drittes Kind ein Junge sei, gab er die Hoffnung auf die ersehnte Tochter auf. Und so eroberte Yasmin sein Herz im Sturm, als sie an einem heißen Nachmittag Ende Juli in sein Leben trat. Sie war seine Prinzessin, seine Miniatur-Francesca, mit ihren pechschwarzen Locken, die ihr über den Rücken fielen, der weißen Haut und den schwarzen Augen, die das gesamte Gesicht einzunehmen schienen. Bei Familienfesten sang und tanzte Yasmin und trug Gedichte vor; sie war eine richtige kleine Dame, die es liebte, in Mutters Kleiderschrank zu wühlen und in ihren Kleidern und auf hohen Absätzen durchs Haus zu stolzieren. Sie konnte Stunden vor dem Spiegel mit dem Auftragen von Rouge und Wimperntusche verbringen. Ihr Vater ließ ihr alles durchgehen und gab ihr immer nach. Er ertrug es nicht, sie weinen zu sehen; so mussten sie jahrelang nachts das Licht im Flur brennen lassen, weil sich Yasmin im Dunkeln fürchtete.

Die Villa Visconti wurde zu einem Rückzugsort für die Familie. Wann immer die Pflichten schwer auf ihm lasteten, organisierte Kamal einen drei- oder viertägigen Ausflug dorthin. Während der Sommerferien zog die ganze Familie in die Villa, wo sie die Großeltern aus Argentinien trafen, wie die Kinder Fredo und Antonina nannten. Noch am selben Abend, nachdem Francesca mit ihm gesprochen hatte, hatte Fredo seinen Morgenmantel angezogen und an Antoninas Tür geklopft. In dieser Nacht war sie die Seine geworden. Bei der Rückkehr nach Córdoba hatten sie geheiratet und in Fredos Wohnung in der Calle Olmos gelebt, bis 1976 der Staatsstreich stattfand. Alfredo hatte die Wohnung in der Calle Olmedos verkauft, bei der Zeitung gekündigt und war mit seiner Frau fortgegangen, um die letzten Jahre seines Lebens dort zu verbringen, wo es begonnen hatte: in der Villa Visconti.

***

Faisal starb mit fünfundsiebzig Jahren, erstochen von einem Terroristen, als er eine Moschee betrat. Das ganze Volk beweinte seinen Tod, und Tausende von Menschen versammelten sich in den Straßen von Riad, um sich dem Trauerzug anzuschließen, an dem Persönlichkeiten aus aller Welt teilnahmen.

Nach Faisals Tod zog sich Kamal endgültig aus der Politik zurück, ohne auf die Bitten seines Bruders Jalid zu hören, des neuen Königs, der ihn anflehte, zu bleiben. Aber Kamal war müde, und der Tod seines Bruders hatte ihn sehr mitgenommen. Francesca und er lösten den Haushalt in Paris auf und zogen sich auf das Anwesen in Dschidda zurück, wo sie sich gegen den Willen ihrer Kinder endgültig niederließen, die nicht verstehen konnten, was dieser Ort ihnen bedeutete.

Sadun, der Hausverwalter, war mittlerweile zu alt, um sich um den Haushalt zu kümmern, und hatte die Verantwortung an seinen Neffen Yaluf weitergegeben, der seine Sache sehr gut machte. Die Stallungen waren immer noch Kamals Lieblingsort. Der Ruf seiner Zuchthengste und Rennpferde hatte nicht nachgelassen, und Käufer aus aller Welt kamen, um Millionengeschäfte abzuwickeln. Aber vor einiger Zeit hat Kamal die Geschäfte und die Verwaltung der Familienfinanzen an seine Kinder übergeben. Er wollte nur noch mit Francesca zusammen sein.

Nach so vielen Jahren begegneten sie sich in der Einsamkeit Arabiens noch einmal neu. Sie gingen Arm in Arm unter den Palmen spazieren, schwammen in dem Becken mit dem geflügelten Pferd, gingen am Saum des Roten Meeres entlang, picknickten an dem Brunnen mit den Seerosen und bestaunten wie beim ersten Mal den Mond und den Sternenhimmel. Und Kamal blickte Francesca immer wieder an und dachte: ›Nun bin ich alt geworden, und sie ist immer noch an meiner Seite. Allah sei gelobt und gepriesen!‹