17. Kapitel

Der ekelerregende Gestank von ranzigem Öl und verbranntem Gummi stieg ihr in die Nase und verschlimmerte ihre Übelkeit. Ihre Hände fühlten sich taub an, und ihre Handgelenke schmerzten. Sie hatte die Knie zur Brust angezogen, und ihre Beine waren ganz steif und starr. Als sie versuchte, sie zu bewegen, schoss ihr ein stechender Schmerz bis in die Zehenspitzen. Es war stockdunkel, so dass sie nicht sehen konnte, wo sie sich befand. Im Bett lag sie ganz offensichtlich nicht; vielleicht war sie auf den Boden gestürzt. Der Füllfederhalter, die Tintenflecken, der besudelte Morgenmantel … Erinnerungsfetzen schwirrten ihr durch den Kopf. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr nicht einmal, Arme oder Beine zu bewegen. Stattdessen überrollte sie erneut der Schmerz. Sie wurde gleichmäßig durchgeschüttelt; manchmal hörten die Erschütterungen für Momente auf, um dann ruckartig wieder einzusetzen.

Francesca befand sich, an Händen und Füßen gefesselt und mit verbundenen Augen, hinten in einem alten, schmutzigen Jeep, der auf dem Weg zu dem Ort war, wo ihre Entführer sie gefangen zu halten gedachten. Sie spürte nur ihre ausgedörrte Kehle, das Pochen in Knöcheln und Handgelenken und die sengende Hitze. Schweiß rann ihr über Brust und Bauch, doch sie nahm es gar nicht wahr. In einem Gespinst aus Bildern gefangen, glaubte Francesca, immer noch in der Botschaft zu sein. Sie hatte schrecklichen Durst und versuchte das Wasserglas zu erreichen, das Sara ihr jeden Abend auf den Nachttisch stellte. Ihre Mutter und der gestrige Streit am Telefon fielen ihr wieder ein.

»Mama …«, wimmerte sie, und ein Zittern durchlief sie, weil ihr der Hals so wehtat vor Anstrengung.

»Sie kommt zu sich«, sagte eine Stimme auf Arabisch.

»Gib ihr noch eine Spritze«, befahl eine zweite Stimme, die schneidender klang.

»Sie ist noch völlig benommen. Sie könnte keiner Fliege was zuleide tun.«

»Tu, was ich dir sage.«

Der Mann, der neben dem Fahrer saß, holte eine Spritze aus einem Blechkästchen, nahm die silberne Kappe ab und gab Francesca eine Injektion in den Unterarm. Kurz darauf versank sie wieder in einer unwirklichen Welt aus wirren Träumen.

***

Auf der Fahrt zur Botschaft schilderten Jacques und Mauricio Kamal die gesamte Lage, die befürchten ließ, dass Francesca entführt worden war.

»Heute Morgen«, erzählte der Botschafter, »bemerkte die Haushälterin Sara, dass Francesca nicht da war, und ging in ihr Zimmer. Sie fand das Bett unbenutzt vor, und das Licht auf dem Frisiertisch brannte. Das kam ihr merkwürdig vor, und sie begann, im ganzen Haus nach ihr zu suchen. Niemand hatte Francesca weggehen sehen. Kasem, einer der Fahrer, versicherte, er sei sehr früh aufgestanden, und da hätte sich Francesca weder in der Küche noch im Dienstbotentrakt befunden.«

»Und dieser Malik?«, fragte Kamal dazwischen. »Was ist mit dem?«

»Damit kommen wir der Sache vermutlich schon näher«, stellte Jacques fest, »denn auch Malik ist verschwunden, und niemand hat ihn die Botschaft verlassen sehen. Das Auto, das ihm zugewiesen ist, steht wie immer in der Garage.«

»Außerdem ist das, was Sara erzählte, mehr als verdächtig«, ergänzte Dubois. »Gestern habe Francesca die ganze Zeit geweint, nachdem sie am Telefon einen Streit mit ihrer Mutter hatte. Als sie dann von deiner Rückkehr erfuhr, war sie so aufgeregt, dass sie nicht schlafen konnte. Sara wollte ihr einen Kamillentee machen, damit sie zur Ruhe kommt. In der Küche traf sie auf Malik, der, wie sie sagt, ungewöhnlich nervös gewirkt habe. Während Sara den Tee aufgoss, behauptete Malik, man habe nach ihr gerufen. Sie verließ für ein paar Minuten die Küche, obwohl gar niemand etwas von ihr gewollt hatte. Als sie zurückkam, war Malik nicht mehr da. Sie dachte sich nichts weiter dabei, nahm den Tee und brachte ihn Francesca aufs Zimmer. Das war das letzte Mal, dass sie sie gesehen hat. Dein Onkel Abdullah hat den Rest des Kamillentees zur Untersuchung weggegeben, weil wir vermuten, dass Malik Beruhigungstropfen hineingeschüttet hat, um Francesca aus der Botschaft zu schaffen. Wir glauben, dass er sie durch den Hinterausgang weggebracht hat. Der Wächter hat zugegeben, dass er fast die ganze Nacht geschlafen hat, was ungewöhnlich für ihn ist, denn er ist einer unserer besten Männer. Wir sind fast sicher, dass er ebenfalls betäubt wurde, denn er hatte einen Kaffee getrunken, den Malik ihm unter dem Vorwand, sich ein wenig unterhalten und ihm Gesellschaft leisten zu wollen, zu seinem Wachhäuschen gebracht hatte.«

»Dann gibt es keinen Zweifel: Malik hat sie verschleppt«, schloss Kamal. »Mauricio, bring mich sofort zum Büro meines Onkels Abdullah.«

»Wir fahren zur Botschaft«, intervenierte Jacques. »Dort warten dein Assistent Ahmed Yamani und dein Onkel Abdullah auf uns. Er hat sich der Sache bereits angenommen und lässt diverse Untersuchungen anstellen.«

In der Botschaft trafen sie Abdullah al-Saud, den Chef des saudischen Geheimdienstes, der gerade zwei Männern, die sich mit Kabeln und Apparaturen in Mauricio Dubois’ Büro breitmachten, Anweisungen erteilte. Ahmed Yamani war zum wiederholten Male dabei, Sara zu befragen, der trotz der Verschleierung ihre Verzweiflung und ihre Angst anzumerken waren.

»Er war’s«, beteuerte die Algerierin. »Malik war’s. Er ist ein Sonderling und hat Francesca nie leiden können. Er war es. Er hat sie entführt.«

»Ist gut, Sara, Sie können jetzt gehen.«

Die Algerierin wollte noch etwas sagen, ließ es dann aber und ging. Kamal, der noch in der Tür stand, blickte ihr hinterher, bis sie am Ende des Flurs verschwunden war. Dann betrat er das Büro, wo sein Onkel gerade Anweisungen gab, um das Abhörgerät ans Telefon anzuschließen. Yamani grübelte vor sich hin und strich sich mit der Hand übers Kinn, während Jacques sich mit dem blassen, aufgelösten Botschafter unterhielt. Kamal fragte sich, wo er anfangen sollte. Oder blieb ihm nichts anderes übrig, als verzweifelt darauf zu warten, dass die Entführer sich meldeten?

»Schick deine Männer weg, Onkel«, befahl Kamal auf Französisch. Abdullah wies die Techniker an, das Büro zu verlassen. Kamal schloss die Tür hinter den Spezialisten und blieb dann mitten im Raum stehen. Die Übrigen sahen ihn schweigend an, und obwohl sie darauf warteten, dass er sprach, zuckten sie zusammen, als er es endlich tat und seine donnernde Stimme den Raum erfüllte.

»Weiß Saud schon Bescheid?«, fragte Kamal.

»Noch nicht«, lautete Abdullahs Antwort. »Dein Bruder ist nicht in Riad; er ist gestern nach Griechenland geflogen, um ein paar Tage in seiner Villa in der Ägäis zu verbringen.«

»Gut«, sagte Kamal mit leiser, schneidender Stimme. »Und Minister Tariki?«

»Ist vor zwei Tagen nach Genf abgereist, wegen der OPEC.«

»Sehr gut«, stellte er klar. »Niemand darf von der Sache erfahren, bis ich es sage. Und du, Mauricio, hast du die argentinischen Behörden informiert?«

»Nein, noch nicht.«

»Perfekt. Dann tu es vorläufig auch nicht.«

»Das kann ich nicht, Kamal«, widersprach Dubois. »Ich muss es melden«, setzte er zaghaft hinzu. »Die Entführung eines Botschaftsangehörigen ist eine sehr ernste Sache. Der Außenminister muss in Kenntnis gesetzt werden. Was, wenn Francesca …? Es ist verdammt ernst!«, brach es aus ihm heraus, und alle glaubten, er würde die Fassung verlieren.

Kamal trat zu seinem Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich werde sie finden, Mauricio, das verspreche ich dir. Niemand wird mir Francesca wegnehmen, das kannst du mir glauben. Weder sie noch das Kind, das sie unter dem Herzen trägt.«

»Ein Kind?«, fragte Jacques ungläubig.

»Francesca ist schwanger. Und ich werde sie wiederbekommen, so wahr Allah mein Gott ist. Aber ich brauche Zeit, Mauricio. Ich bitte dich um zweiundsiebzig Stunden. Mach deinem Ministerium noch keine Meldung. Ich schwöre dir, dass ich sie finden werde. Wenn wir ihr Verschwinden öffentlich machen, bringen sie sie vielleicht um. Wir müssen vorsichtig und vor allem mit äußerster Diskretion vorgehen.«

Es wurde still, während alle auf die Antwort des Botschafters warteten. Der nickte schließlich, um dann auf dem Sofa in sich zusammenzusinken und die Hände vors Gesicht zu schlagen. Ahmed Yamani reichte ihm eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihm. Jacques hingegen trat ans Fenster und sah nachdenklich in den Park der Botschaft hinunter, überzeugt, dass Mauricios Entscheidung falsch war. Kamal, der weder von dem Zusammenbruch seines Freundes noch von Méchins stillen Bedenken etwas mitbekam, ging zum Schreibtisch und griff nach einer Fotografie von Malik.

»Onkel«, sagte er dann, »ich will wissen, was dieser Mann vorher gemacht hat.«

»Bevor du gekommen bist, habe ich einen Kontaktmann bei der CIA angerufen, weil ich den einen oder anderen Verdacht bestätigt haben wollte. Er hat versprochen, bald zurückzurufen. Fürs Erste kann ich dir sagen, dass Malik bin Kalem Mubarak unseren Akten zufolge nicht gerade ein Engel ist: Er ist ein fanatischer Extremist und hatte in den vergangenen zehn Jahren Kontakt zum terroristischen Arm des Dschihad. Ich habe Haftbefehl gegen ihn erlassen. Außerdem habe ich die Flughäfen und den Hafen von Dschidda sperren lassen. Auf den Straßen und an den Grenzen kontrollieren meine Beamten jedes einzelne Fahrzeug.«

»Glaubst du, sie haben sie bereits außer Landes gebracht?«, fragte Jacques.

»Ich weiß es nicht. Genug Zeit hätten sie gehabt, wenn sie, wie wir annehmen, zwischen elf Uhr abends und ein Uhr nachts entführt wurde. Außerdem gibt es im Norden, an der Grenze zum Irak und zu Jordanien, große Wüstengebiete, die niemand kontrolliert. Dort könnten sie ungesehen aus Saudi-Arabien verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.«

»Das ist unmöglich«, wandte Ahmed Yamani ein. »Nicht einmal die Beduinen wagen sich in diese Region. Sie ist fast so unwirtlich wie die Rub al-Chali, die für Menschen praktisch unbetretbar ist. Sie würden dabei umkommen.«

»Das stimmt«, räumte Abdullah ein. »Aber es gibt Menschen, denen es gelungen ist.«

***

Der Jeep erreichte den Norden des saudischen Königreichs gegen Mittag, als die sengende Sonne und der glühend heiße Wind zusammen mit dem Sand das Atmen nahezu unmöglich machten. El-Haddar und Abdel, die ergebenen Leibwächter König Sauds, verhüllten sich sorgfältig und stiegen dann aus dem Wagen.

»Es hieß, man würde uns um zwölf Uhr abholen«, schimpfte Abdel, dem der Auftrag von Anfang an nicht behagt hatte.

»Es ist noch nicht zwölf«, hielt el-Haddar dagegen. »Los, steigen wir wieder ein, bei diesem Sturm ist es hier draußen nicht auszuhalten.«

»Und wenn sie nicht kommen?« Abdel war beunruhigt. »Wir werden umkommen wie gegrillte Ratten. Wir haben nicht genug Benzin, um eine Siedlung zu erreichen.«

»Hör schon auf mit deinen Unkereien!«, fuhr el-Haddar ihn an. »Sie müssen kommen. Wir haben die Ware, die sie interessiert.«

»Falsch«, behauptete Abdel. »Das Mädchen interessiert sie nicht mehr. Alles, was sie wollten, war, dass sie verschwindet, um Lösegeld fordern zu können. Wenn sie sie sowieso töten wollen, was könnte es da Besseres geben, als sie loszuwerden, ohne sich die Mühe machen zu müssen, selbst Hand anzulegen?«

El-Haddar musste zugeben, dass an der Theorie seines Kameraden etwas dran war, aber er hütete sich, das laut zu sagen, sondern brummte nur unwirsch vor sich hin. Der vorsichtigere und nachdenklichere Abdel war manchmal eine Plage mit seinen ständigen Bedenken und Einwänden, aber el-Haddar achtete ihn als Mensch und mochte ihn als Freund. Sie kannten sich seit ihrer Jugend, als sie gemeinsam in die Armee König Abdul Aziz’ eingetreten waren. Später brachten sie ihr Mut und ihre Loyalität in eine privilegierte Position, und sie wurden zu Vertrauten des Herrschers von Saudi-Arabien. Vor seinem Tod hatte Abdul Aziz sie nach Taif rufen lassen, um ihnen den Schwur abzunehmen, seinem Sohn ebenso treu zu dienen, wie sie ihm gedient hatten.

»Saud hat nicht die Voraussetzungen, um ein guter König zu werden«, hatte er ihnen auf dem Totenbett gesagt. »Ihr habt von mir gelernt, wie ein König handeln muss. Ihr sollt meinem Sohn die wichtigsten Ratgeber sein und ihn nach meinen Regeln und Gesetzen lenken. Seid ihm treue Diener und unterstützt ihn darin, sich auf dem Thron zu halten und die Größe und den Ruhm Saudi-Arabiens zu wahren. Allah der Allmächtige sei gelobt und gepriesen!«, rief er, bevor er sie gehen ließ.

Sie hatten das Versprechen gehalten, das sie vor fast zehn Jahren gegeben hatten, obwohl es keine einfache Aufgabe gewesen war. Saud war ein launischer, leicht reizbarer König mit mehr Lastern als Tugenden, der nur auf seinen eigenen Lebensstandard bedacht war und keine Ahnung von den Bedürfnissen des Volkes hatte. Die Folgen seiner Herrschaft waren offensichtlich: Das Land litt unter einer Vielzahl von Problemen, insbesondere wirtschaftlicher Natur, die die Grundlage aller anderen Probleme waren. Genau wie die Familie wussten auch Abdel und el-Haddar, dass Abdul Aziz lieber Kamal auf dem Thron gesehen hätte. Doch die Jugend seines Lieblingssohnes und der Respekt vor der Sharia, nach der die Thronfolge dem Erstgeborenen zustand, hatten Abdul Aziz dazu bewegt, Saud zu seinem Nachfolger zu ernennen.

Abdel und el-Haddar schätzten und achteten Kamal al-Saud ebenso wie seinen Vater. Der Prinz hatte von klein auf ein gütiges Wesen und einen eisernen Willen an den Tag gelegt und nie seine Wurzeln oder sein Volk vergessen, obwohl er wegen seiner Erziehung in Europa viele Jahre im Ausland gelebt hatte. Er war ein allseits beliebter und geachteter Mann, von dem alle bestätigten, dass in Wahrheit er es war, der die Vorzüge und Qualitäten seines Vaters geerbt habe. Er besaß dessen Beharrlichkeit und Intelligenz, das gleiche ernste, zurückhaltende Auftreten, das feine Lächeln, die leise Stimme und die stolze und doch uneitle Art. Die ganze Familie bewunderte ihn, einzig sein Bruder Saud hegte eine tiefe Abneigung gegen ihn, die nur durch Neid und Eifersucht zu erklären war. Aber Kamal hatte einen Fehler gemacht, als er sich mit einer Frau aus dem Westen verlobt hatte; schlimmer noch, er hatte sich große Probleme eingehandelt, indem er sie geschwängert hatte. Ob sie wirklich ein Kind erwartete? Sie war so dünn, dass man es kaum glauben konnte. Ob Malik sich in diesem Punkt geirrt hatte? Aber er war sich seiner Sache so sicher gewesen, als er ihnen davon erzählt hatte. Jedenfalls mussten sie Prinz Kamal vor dem teuflischen Einfluss dieser Frau retten und den guten Namen der Familie wahren.

Abdel sah zu Francesca herüber und fand, dass sie so gar nicht wie die mannstolle, sündige Frau wirkte, als die man sie ihnen geschildert hatte. Ganz im Gegenteil – er bestaunte ihre engelsgleiche, sanfte Schönheit und besonders ihre weiße, zarte Haut. Er konnte nicht widerstehen und berührte ihre Wange.

»Sie glüht vor Fieber«, sagte er erschrocken.

»Na und?«, entgegnete el-Haddar, ohne den Blick vom Horizont zu wenden. »Hör mal!«, rief er dann, und kurz darauf entdeckten sie ein Flugzeug. »Das sind sie.«

Minuten später landete das Flugzeug. Zwei Männer stiegen aus und brachten mit knappen Worten und ungerührten Mienen die Übergabe hinter sich. Einer von ihnen packte Francesca und trug sie zum Flugzeug, der andere gab el-Haddar einen Kanister Benzin, den dieser mit Hilfe eines Trichters in den Tank füllte. Das Flugzeug setzte die Propeller in Gang, während el-Haddar den Jeep startete und sich auf den Rückweg machte.

Auf den ersten Kilometern war Abdel schweigsam und in sich gekehrt. Er dachte an das Mädchen und daran, wie sie leblos über der Schulter dieses Hünen gehangen hatte. Mitleid regte sich in ihm. Sie war so schön, wie eine Paradiesjungfrau, dachte er hingerissen, und er verstand, was Prinz Kamal so bezaubert hatte. Ihr weißes Gesicht und ihr schwarzes, volles Haar gingen ihm nicht aus dem Sinn. Was mache ich hier?, fragte er sich bitter, in diesem Jeep, mitten in der Wüste? In Sekundenbruchteilen wirbelte ihm ein Sturm von Gedanken durch den Kopf: das Versprechen, das er dem großen Abdul Aziz gegeben hatte, die Treue, die er König Saud schuldete, die Zukunft seines geliebten Saudi-Arabiens, die Bewunderung und die Hochachtung, die er für Prinz Kamal empfand, und das engelsgleiche Gesicht des Mädchens, das angeblich sein Verderben war.

***

Kamal biss die Zähne zusammen, um das Zittern zu unterdrücken, das seinen Körper durchlief. Es war eine schreckliche Vorstellung, Francesca in den Händen skrupelloser Verbrecher zu wissen. Er ertrug den Gedanken nicht, dass jemand sie anfasste oder ihr gar etwas antat. »Francesca …«, murmelte er. Ihre imaginären Schreie entlockten ihm Tränen der Wut und der Ohnmacht, ihm war schwindlig, sein Atem ging schwer, und er musste sich gegen die Wand lehnen.

»Nur Mut«, ermunterte ihn Jacques Méchin und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst sehen, wir holen sie heil da raus, sie und dein Kind.«

Kamal versank in Jacques’ väterlichen Blick. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn er in den grauen Augen des Franzosen den Vorwurf entdeckt hätte, den er verdient hatte – denn wer, wenn nicht er, trug die Schuld an diesem Unglück? Er ließ seinen Blick über die Gesichter der Männer schweifen, die ihn umgaben: Da war sein Onkel Abdullah, der ohne große Ergebnisse herumtelefonierte, sein Jugendfreund Mauricio Dubois, der immer noch kraftlos auf dem Sofa saß, sein treuer Assistent Ahmed Yamani, der Kasem befragte, und zuletzt sein Mentor, Lehrer und Freund seines Vaters Jacques Méchin. Ihm schossen alle Worte durch den Kopf, die sie angeführt hatten, um ihn von seiner Beziehung zu Francesca de Gecco abzubringen.

Als das Telefon klingelte, stürzte Kamal zum Apparat. Es war Dr. al-Zaki, der Leibarzt der Familie, dem sie die Reste des Kamillentees und des Kaffees geschickt hatten, damit er im Labor seiner Klinik untersuchte, ob sich Rückstände eines Schlafmittels darin fanden.

»Sagen Sie schon, was hat die Analyse ergeben?«, fragte Kamal, und Dr. al-Zaki erklärte: »Wir haben sowohl im Kamillentee als auch im Kaffee ein starkes Schlafmittel gefunden. Es handelt sich um ein Medikament, das in Saudi-Arabien nicht benutzt wird. Möglicherweise ist es in Europa erhältlich, obwohl es dort wegen seiner stark betäubenden Wirkung und der Nebenwirkungen streng verschreibungspflichtig ist.«

»Könnte man es einer Schwangeren geben?«

»Auf gar keinen Fall.«

Kamal legte den Hörer auf und blieb sekundenlang mit abwesendem Blick stehen.

»Al-Zaki hat in Francescas Tee und in dem Kaffee, den der Wächter getrunken hat, Schlafmittel gefunden«, sagte er dann. »Ein Schlafmittel, das in Saudi-Arabien nicht erhältlich ist.«

Für Abdullah war der Nachweis dieses Betäubungsmittels die Bestätigung dessen, was er erwartet hatte: Francesca war entführt worden. Obwohl er von Anfang an zu dieser Möglichkeit tendiert hatte, war bislang keinesfalls auszuschließen gewesen, dass es sich vielleicht doch um eine freiwillige Flucht gehandelt haben könnte. Dass das Mädchen die Beziehung zu Kamal bereut haben und weggelaufen sein könnte. Doch das war jetzt widerlegt.

Kasem klopfte an die Tür und übergab Abdullah ein Telegramm, das dieser kurz überflog, bevor er sagte: »Das ist die Information von meinem Kontaktmann bei der CIA, auf die ich gewartet habe. Er bestätigt einige Daten, die uns bereits vorliegen: Kateb bin Salmun alias Malik bin Kalem Mubarak, geboren im März 1919 in Yanbu’ Al Bahr, Sohn eines Töpfers, fanatischer Anhänger des wahhabitischen Glaubens, war aktives Mitglied einer islamistischen Terrorgruppe unter dem Kommando des Extremisten Abu Bakr, dessen richtiger Name noch nicht verifiziert werden konnte. Nach der Zerschlagung der Gruppe sind die meisten ihrer Mitglieder untergetaucht.«

»Und ein Mann mit einer solchen Vorgeschichte arbeitet in meiner Botschaft!«, empörte sich Mauricio.

»Wie ist er auf die Personalliste gekommen?«, wollte Yamani wissen.

»Ich habe ein Empfehlungsschreiben von König Sauds Privatsekretär erhalten.«

Mauricio sah zu Kamal hinüber, doch der war in das Telegramm vertieft und bekam offensichtlich nicht mit, was gesprochen wurde. Den Übrigen allerdings war die Überraschung über die Enthüllung anzusehen. Er fragte sich, ob sie König Saud selbst im Verdacht hatten. Gewiss, die Beziehung zwischen ihm und Kamal war nicht eben harmonisch und freundschaftlich, aber anzunehmen, dass Saud seinen Ruf aufs Spiel setzen könnte, um der Geliebten seines Bruders zu schaden, erschien ihm höchst unwahrscheinlich.

»Wer ist dieser Abu Bakr, der den Namen des Schwiegervaters des Propheten für sich beansprucht?«, fragte Yamani, der zu jung war, um ihn zu kennen.

Abdullah ergriff das Wort und nannte die wichtigsten Daten über die gefürchtete Extremistengruppe Dschihad unter dem Kommando von Abu Bakr, der behauptete, unmittelbar von Mohammed abzustammen.

»Dass Abu Bakr der von den internationalen Geheimdiensten meistgesuchte Mann ist, ist bekannt«, erklärte er. »Soweit wir wissen, ist er ein hochintelligenter, kaltschnäuziger Fanatiker. Ende der fünfziger Jahre glaubte man, Abu Bakr sei tot, doch einige Monate später spürte ihn der MI5 in einem Vorort von Kairo auf, wo er mit einer Gruppe von Männern in einem alten Haus lebte. Als das Gebäude gestürmt wurde, fand man nur noch ein riesiges Waffenlager vor. Wahrscheinlich waren sie im letzten Augenblick vor dem Zugriff der ägyptischen Polizei und des britischen Geheimdienstes gewarnt worden, sonst hätten sie beim Verlassen des Verstecks diese Unmenge an Waffen und Munition im Wert von mehreren Millionen Dollar mitgenommen.«

»Er ist völlig verrückt«, ergänzte Jacques Méchin. »Er behauptet, der Erzengel Gabriel sage ihm, was er tun müsse, um den Islam in der Welt zu schützen. Sein Ziel ist die Vernichtung des Westens, insbesondere der Juden.«

»Und ihr glaubt, dass dieser Kerl Francesca in seiner Gewalt hat?«, fragte Dubois.

»Das möge Allah in seiner unendlichen Güte verhindern, Mauricio«, hoffte Abdullah. »Dieser Kerl ist ein Scheusal. Ihm werden mehrere Attentate zugeschrieben, und bei Entführungen sind die Opfer nie lebend zurückgekehrt, selbst wenn Lösegeld bezahlt wurde.«

***

Nachdem das Flugzeug drei Stunden nur über Sanddünen und Felsen hinweggeflogen war, landete es in einer menschenleeren Einöde. Der Mann neben dem Piloten, ein kräftiger Glatzkopf mit verschlagenem Blick und finsterer Miene, packte Francesca, wuchtete sie sich über die Schulter und verließ die Kabine. Ihm folgte ein weiterer Mann, der weniger bedrohlich wirkte, solange man nicht in seine Augen sah. Doch wenn man es tat, entdeckte man darin alle Bosheit, zu der er imstande war.

Der Pilot startete das Flugzeug wieder und hob kurz darauf ab. Die beiden Terroristen begannen mit Francesca auf den Schultern durch das endlose Sandmeer zu stapfen. Hinter einer hohen, mit Gestrüpp bewachsenen Düne, die sie mühsam erklommen, erstreckten sich mehrere eindrucksvolle Felsformationen von bemerkenswerter Schönheit, die die Eintönigkeit der Wüste durchbrachen. Die Farbe der Kalksteinschichten variierte von Blassgelb bis hin zu Tiefrot. Einem Flusslauf folgend, gingen sie auf die Ausläufer der Felsen zu. Dann begannen sie, das scharfkantige Gestein hinaufzuklettern, das ihnen in die Füße einschnitt, die nur von Ledersandalen geschützt waren. Der Mann, der Francesca trug, bewegte sich trotz seiner massigen Statur und der zusätzlichen Last leichtfüßig wie eine Ziege und erreichte bald einen versteckten Durchgang im Gestein. Der andere folgte ihm rasch.

Es war dunkel, und durch den Fluss, der sich in dem Fels einen Weg auf die andere Seite bahnte, war die Luft kühl und feucht. Nachdem sie einige Meter nahezu blind tastend zurückgelegt hatten, wichen die schroffen Felswände nach oben zurück, der Boden wurde weich und sandig, und ein schwacher Lichtschein wies auf einen Ausgang hin. Schließlich tauchte hinter einer jähen Wegbiegung ein schmaler Spalt im Gestein auf und gab den ersten Blick auf etwas Erstaunliches, Unglaubliches frei: Die in den Felshang gehauene Fassade eines wundervollen Tempels, der die Jahrhunderte erstaunlich gut überdauert hatte. Man staunte angesichts der glattpolierten Säulenschäfte, der Kapitelle mit den Akanthusblättern und der Relieffiguren in den Giebelfeldern. Es handelte sich um das legendäre Petra, die geheimnisvolle Felsenstadt, die sich in einem Gebirgszug im Südwesten Jordaniens verbarg. Es war ein Juwel aus Kalkstein, erbaut inmitten der trostlosen Einsamkeit der Sandwüste, dessen herrliche Tempel und mit Schätzen überladene Paläste mit denen keines anderen Landes vergleichbar waren. Der alte arabische Stamm der Nabatäer, in der Antike als Lieblingsvolk Allahs bekannt, hatte Jahrhunderte vor der Geburt des Propheten Mohammed mit unvergleichlichem Können reich verzierte Fassaden mit Säulen, Giebelfeldern und Skulpturen entworfen und in Stein gehauen.

Als sie schließlich aus dem Tunnel traten, präsentierte sich ihnen auch die restliche Stadt.

»Soweit ich weiß«, sagte der Kleinere der beiden, »ist dieser Ort so alt wie die Welt selbst. Was ist das?« Er deutete auf das größte Bauwerk.

»Das sogenannte Khazneh«, antwortete der Kräftige. »Ein ehemaliger Tempel der Nabatäer, in dem sie ihre Schätze aufbewahrten, so nimmt man jedenfalls an. Links davon ist das Römische Theater.«

»Und diese Nischen in den Wänden?«, fragte der Kleinere angesichts der Hunderte von Löchern, mit denen die umliegenden Felswände durchzogen waren.

»Das sind Gräber. Petra war auch eine bedeutende Begräbnisstätte«, sagte er und ging auf das Khazneh zu. »Komm schon!«, befahl er vom Eingang des Tempels aus.

Im Gegensatz zu der überladenen Fassade war das Innere des Khazneh schmucklos, beeindruckte aber nicht minder durch die Genauigkeit, mit der man den Fels ausgehöhlt hatte, um einen riesigen quadratischen Raum von über fünfzig Metern Höhe zu schaffen. An einer Bruchkante legte der Größere die Hand in eine Aushöhlung und setzte einen Mechanismus in Gang. Ein schmaler, niedriger Stein schwang nach rechts zur Seite und gab den Blick auf einen Gang frei, dem sie nun folgten.

Fackeln steckten in Felsspalten und tauchten den Gang in ein rötlich flackerndes Licht, das der Szenerie mit seinem Spiel von Licht und Schatten etwas Gespenstisches verlieh. Der Weg gabelte sich immer wieder, und der Kräftige schlug ohne zu zögern die Richtung ein. Der bislang sandige Boden wurde immer steiniger, bis der Gang einige Meter weiter vor einer schwindelerregend schmalen Treppe endete, die in den Fels gehauen war. Beide Männer nahmen eine Fackel von der Wand und beleuchteten den Weg über die unregelmäßigen Stufen nach unten. Der Kräftigere ließ rasch die letzten Stufen hinter sich und stieß eine Holztür auf, durch die Licht drang. Sie zogen die Köpfe ein, um nicht gegen den niedrigen Türsturz zu stoßen, und betraten ein Gewölbe, von dem vier Gänge abzweigten, die genauso dunkel und unergründlich waren wie der, durch den sie gekommen waren.

»Hier entlang«, sagte der Größere, und sie verschwanden in einem der Gänge, wo sie bald auf andere Männer stießen, die sofort ihre Maschinengewehre und Messer zückten. Hier unten herrschte ebenso viel Leben und Betriebsamkeit wie draußen Einsamkeit und Stille.

An diesem Punkt hätte jeder andere die Orientierung verloren. Dieses Labyrinth, das sich durch den Fels bis ins Herz des Gebirges zog, war ein unauffindbares Versteck für den von den Regierungen des Westens meistgesuchten Mann.

»Tritt ein«, sagte der größere der beiden Männer und zeigte auf eine der Türen, die von dem Gang abgingen. »Der Anführer erwartet dich. Ich bringe die Frau in eine Zelle.«

Die Wände des Raumes waren mit farblich abgestimmten Stoffen ausgekleidet, und auf dem Boden lagen Kaschmirteppiche. Inmitten von Kissen, das Mundstück einer Wasserpfeife zwischen den Lippen, ruhte Abu Bakr, ein harmlos aussehender Mann mit einem langen, wirren Bart. Eine Brille, die seine Augen kleiner wirken ließ, unterstrich den harmlosen Eindruck.

»Herr«, sagte der Neuankömmling und verbeugte sich ehrfürchtig.

Sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen. Nach dem Hinterhalt in Kairo hatten sie beschlossen, sich zu trennen, um die Suche nach ihnen zu erschweren.

»Du kommst spät, Bandar. Wo ist Yaman?«

»Er bringt die Frau in eine Zelle.«

Abu Bakr lächelte zufrieden und zog erneut an der Wasserpfeife. Der berühmteste Abu Bakr in der Geschichte des Islam war Mohammeds Schwiegervater und enger Freund gewesen, der beim Tod des Propheten im Jahre 632 der erste Kalif Arabiens wurde und den Auftrag erhielt, Mohammeds Werk fortzuführen. Deshalb hatte dieser geheimnisvolle Mann, der dort auf kostbaren Kissen ruhte und dessen richtigen Namen niemand mit Gewissheit kannte, den Kampfnamen Abu Bakr angenommen, weil er überzeugt war, der Dynastie Mohammeds anzugehören und einen besonderen Auftrag zu haben: den Islam zu schützen, wie es der erste islamische Führer getan hatte. Er behauptete, im Alter von zwanzig Jahren seien ihm Mohammed und der Erzengel Gabriel erschienen und hätten ihm aufgetragen, den Islam vor dem Dämon zu retten, der ihn bedrohe: der Westen. »Aber wer ist das, der Westen?«, habe der junge Abu Bakr gefragt. »Die Zionisten«, habe die Antwort des Propheten gelautet.

1948 hatte er seinen Dschihad, seinen heiligen Krieg, begonnen, der sich vor allem gegen Israel, diesen jungen, vom Westen protegierten Staat, richtete. Dabei waren Waffen ein wertvolles Gut. Seit Hiroshima hatte die Technologie riesige Fortschritte gemacht, und man konnte wirklich hervorragende Waffen erhalten, aber dafür brauchte man Geld. Viel Geld. Er wurde zwar finanziell von einigen Ölmultis unterstützt, die ein Interesse daran hatten, dass sich die Araber in aufreibenden Bruderzwisten verzettelten, während sie selbst das Erdöl für zwei Dollar das Barrel bekamen, aber der Hinterhalt in Kairo, durch den ihm ein Waffenlager im Wert von zwanzig Millionen Dollar verloren gegangen war, hatte ihn fast in den Bankrott getrieben. Die Gelegenheit, ein üppiges Lösegeld für die Geliebte eines der reichsten Männer der Welt zu verlangen, wollte sich Abu Bakr nicht entgehen lassen. Und da sie auch noch aus dem Westen war, würde es ihm ein Vergnügen sein, sie höchstpersönlich zu strangulieren.

»Dieser Ort ist ein perfektes Versteck«, stellte Bandar fest. »Viel besser als das in Kairo.« Da Abu Bakr nichts sagte, sprach Bandar weiter. »Wir haben die Frau ruhiggestellt. Ich habe Angst, dass sie noch vor dem ersten Anruf in der argentinischen Botschaft an einer Überdosis stirbt.«

»Lasst sie kurz vor dem Anruf wecken. Wir haben da effiziente Methoden. Gibt es eine Bestätigung für die Schwangerschaft?«

»Ja, Malik hat es bestätigt. Fadhir war bei ihm in Riad.«

»Gut. Morgen setzen wir uns mit Prinz al-Saud in Verbindung.«

»Prinz al-Saud? Mit welchem?«

»Kamal al-Saud«, erwiderte Abu Bakr.

»Was hat Prinz Kamal mit der ganzen Sache zu tun? Wir wollten doch Lösegeld von der Botschaft verlangen.«

»Bandar«, sagte Abu Bakr nachsichtig, »wer das Lösegeld zahlt, ist mir völlig egal. Das Geld kann meinetwegen aus dem fabelhaften Vermögen des saudischen Prinzen stammen oder vom argentinischen Staat – mir ist eins so recht wie das andere. Es muss nur klar sein, dass Prinz Kamal al-Saud es zum von uns angegebenen Zeitpunkt am ausgemachten Ort übergibt.«

»Prinz Kamal soll also getötet werden«, folgerte Bandar, und Abu Bakr nickte. »Warum?«

»König Saud will ihn aus dem Weg schaffen, ohne Verdacht zu erregen.«

»Verstehe. Eine Entführung mit Lösegeldforderung könnte von gewöhnlichen Kriminellen geplant worden sein. Es besteht kein Grund, politische Motive dahinter zu vermuten«, ergänzte Bandar, und sein Anführer nickte.

»Bei der Übergabe des Lösegelds geht etwas schief, und der Tod des Prinzen ist die bedauerliche Folge. König Saud will seinen Thron sichern. Ich hingegen benötige das Geld und muss die islamische Welt von einem Verräter befreien. Ja, einem Verräter«, wiederholte er. Er hatte alle Freundlichkeit verloren. »Prinz Kamal verhandelt mit den USA, um seine Regierungspläne voranzutreiben. Und was sind die Vereinigten Staaten anderes als die Wiege des Zionismus? New York ist die Stadt mit den meisten Juden weltweit, und ich werde nicht zulassen, dass diese Hundesöhne das Haus al-Saud infiltrieren. Es wird mir gelingen, der stumpfsinnigen Bewunderung ein Ende zu bereiten, die das Volk diesem Verräter entgegenbringt. Denn für die Geschichtsschreibung wird sich Prinz Kamal sinnlos für seine christliche Geliebte geopfert haben, ohne an Saudi-Arabien und seine Pflichten gegenüber dem Islam zu denken. Es ist der Wille Allahs! Und jetzt geh, Bandar, und lass mich allein.«

***

Francesca kam nur mühsam zu sich. Ihre Augenlider waren schwer, und eine unkontrollierbare Müdigkeit beherrschte ihren Körper, insbesondere den Kopf, der förmlich in der Matratze zu versinken schien. Ihr war speiübel. Sie tastete nach der Nachttischlampe, aber obwohl sie sich ganz ausstreckte, erreichte sie den Schalter nicht. Sonst war das Bett immer weich, wohlriechend und frisch bezogen, aber jetzt tat ihr der Rücken weh, und ein ekelerregender Gestank verschlug ihr den Atem. Zum Glück ist es nur ein Albtraum, dachte sie und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie Kamal am nächsten Tag wiedersehen würde. Es ist nur ein Albtraum, sagte sie sich noch einmal, doch der Durst, der einen pelzigen Geschmack in ihrem Mund hinterließ, war ebenso real, wie dieser böse Traum irreal war.

»Sara …«, flüsterte sie. Die Anstrengung trieb ihr die Tränen in die Augen, so ausgetrocknet und rau war ihre Kehle. »Wasser …«, bat sie mit versagender Stimme. Es war kein Albtraum, das wurde ihr plötzlich bewusst, und die Angst schnürte ihr den Brustkorb zu. Sie richtete sich langsam auf, und mit jeder Bewegung wurden die Übelkeit und der Kopfschmerz stärker. Sie setzte sich auf die Kante dieser harten, stinkenden Pritsche, die definitiv nicht ihr Bett war. An der gegenüberliegenden Wand erkannte sie eine Öffnung, durch die Licht drang. Das Bedürfnis, frische Luft einzuatmen, half ihr beim Aufstehen und leitete ihre unsicheren Schritte. Sie musste es bis dorthin schaffen, sie musste um Hilfe bitten, sie musste unbedingt ein Glas Wasser trinken.

Durch die Öffnung, eine kleine Luke in einer Holztür, fiel ihr Blick durch Gitterstäbe hindurch in einen finsteren, unheimlichen Gang, höhlenartig und unwirklich, ein gespenstischer Ort, idealer Schauplatz für Märchen von Drachen, Geistern und Untoten. ›Ich bin dabei, verrückt zu werden‹, dachte sie und umklammerte die Gitterstäbe, um nicht zusammenzubrechen.

»Hilfe!«, schrie sie, und ihre Stimme hallte in den Gängen des Labyrinths wider.

Ein großer, kräftiger Araber mit wulstigen Lippen und vorstehenden Augen erschien. Er trug einen Krummdolch am Gürtel und hatte ein kurzläufiges Maschinengewehr umgehängt. Er sah durch die Luke und fuhr sie unwirsch an.

»Wasser, bitte«, flehte sie, erhielt aber lediglich Beschimpfungen und Drohungen in dieser harten, unschönen Sprache zur Antwort. »Wo bin ich? Bitte sagen Sie mir, wo ich hier bin!«

Der Araber trat mit dem Fuß gegen die Tür, und Francesca sank zu Boden, um gleich darauf erneut das Bewusstsein zu verlieren.

***

Kamal verzweifelte fast, während die Stunden unbarmherzig verstrichen. Er würde durchdrehen, wenn er nichts unternahm. Er ertrug es nicht, bequem auf dem Sofa zu sitzen, während Francesca alle möglichen Qualen durchlitt. Er konnte weder essen noch trinken, weil er sicher war, dass auch sie es nicht tat, und er verzichtete aufs Rauchen, um sich selbst zu bestrafen. Ja, zu bestrafen, denn er war schuld an ihrem Unglück. Er hatte sie dem Hass und dem Neid seiner Familie ausgesetzt, dem uralten Unverständnis zwischen Christen und Muslimen, den religiösen und kulturellen Vorurteilen. Er hatte nicht auf seine Freunde gehört, als sie ihn gewarnt hatten, dass er sie in Gefahr bringen würde. Er hatte sie unbedingt für sich haben wollen und würde nun durch sein egoistisches Verlangen, sie zu besitzen, womöglich die Hauptschuld an ihrem Tod tragen. Seine geliebte Francesca durfte nicht sterben! Nicht sie, der Habgier, Vorurteile und Hass so fern waren.

Er hatte sie nicht ausreichend beschützt; er hätte sie mitnehmen sollen, hätte sie niemals in Saudi-Arabien zurücklassen dürfen. Er dachte an sein Kind, Francescas und sein Kind, die Frucht einer unendlich großen Liebe. ›Allah, der du in deiner unermesslichen Allmacht alles vermagst, lass nicht zu, dass sie stirbt, nicht sie, die Mutter meines ersten Kindes. O Allah! Der Schuldige bin ich. Mich sollst du bestrafen, nicht sie‹, betete er stumm, dann brach es aus ihm heraus: »Es ist schon Nacht, vierundzwanzig Stunden sind vergangen, und immer noch nichts!« Er hieb mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

»Beruhige dich«, bat ihn Abdullah. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Das Land wird von Norden nach Süden und von Osten nach Westen durchkämmt.«

Jemand klopfte an der Tür. Es war ein Mann vom Geheimdienst, der die Nachricht brachte, dass man Malik bin Kalem Mubarak gefasst habe.

»Und das Mädchen?«, entfuhr es Kamal.

»Von ihr gibt es keine Spur, Hoheit. Kalem Mubarak war allein. Er wurde nördlich von Al Bir gefasst.«

»Das ist fast an der Grenze zu Jordanien«, stellte Méchin fest.

»Genau«, bestätigte der Geheimagent. »Wir glauben, dass er versucht hat, das Land zu verlassen.«

»Wo ist er jetzt?«

»In zwei Stunden wird er mit dem Flugzeug in Riad landen.«

»Gut«, sagte Abdullah. »Geben Sie dem Hauptmann, der für den Transport zuständig ist, Bescheid, dass er Kalem Mubarak gleich nach der Ankunft in Riad in das Gefängnis im alten Palast bringen soll.«

Der Spezialagent verließ das Büro des Botschafters. Es lag eine merkwürdige Stimmung in der Luft, eine Mischung aus Erleichterung über Maliks Festnahme und Enttäuschung, weil Francesca nicht bei ihm gewesen war. Die Ungewissheit nagte an ihnen und ließ Befürchtungen aufkommen, die sie nicht weiterdenken wollten.

»Ich muss zum Palast«, verkündete Abdullah. »Ich will beim Verhör dabei sein.«

»Dieser Mann wird nichts sagen, es sei denn, unter Folter«, erklärte Kamal. »Nimm Abenabó und Kader mit. Sie wissen, wie man ihn zum Reden bringt.«

»Ich bin überzeugt, dass er auspacken wird, ohne dass wir zu solchen Methoden greifen müssen.«

»Foltere ihn!«, befahl Kamal. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Meine Frau und mein Kind befinden sich in den Händen eines Verrückten, und ich habe nicht vor, denjenigen, der sie ausgeliefert hat, mit Samthandschuhen anzufassen. Foltere ihn, solange noch Leben in ihm ist, bis er gesteht, wo man sie festhält!«

***

Kamal schöpfte Wasser in einen Krug und ließ es langsam über sie rinnen. Durstig, wie sie war, versuchte Francesca das Wasser aufzufangen, das ihr übers Gesicht lief. Das Brennen in ihrer Kehle hörte auf, und das kühle Wasser benetzte ihren nackten Körper. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen prasselte auf den See, in dem sie standen. Kamal füllte den Krug erneut und goss das Wasser über ihren Kopf. Immer und immer wieder, so schnell, dass ihr keine Zeit zum Atmen blieb, so heftig, dass sie nach Luft rang, so ungestüm, dass sie Angst bekam …

»Genug!«

Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei, als der Wasserschwall ihr Gesicht traf. Sie erkannte den Mann, der sie durch die Gitterstäbe hindurch angeschrien hatte. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ein heftiger Schmerz durchfuhr ihre Arme und lähmte sie. Ihre Hände waren gefesselt, und bei dem Versuch, sich zu befreien, schnitten die Stricke tief in ihre Handgelenke ein. Sie blickte nach oben: Der Strick war an der Decke befestigt und zwang sie, die Arme nach oben zu recken, während ihre nackten Füße kaum den Boden berührten. Ihre Schultergelenke brannten höllisch, und ihre Beine und Zehen begannen zu kribbeln. Sie bemerkte das feuchte Nachthemd, das an ihrem Körper klebte.

Eine Gruppe von Männern stand im Halbkreis um sie herum. Sie sahen sie kalt an, und bei dem Hass, der in ihren Augen funkelte, überfiel sie eine furchtbare Panik. Das hier war kein Albtraum.

»Wo bin ich?«, wagte sie zu fragen, und dann erinnerte sie sich an ihr Baby. Ihre Kehle wurde trocken, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie begann zu schluchzen.

Ein Mann löste sich aus dem Halbkreis und trat zu ihr. Tränen verschleierten ihren Blick, und es fiel ihr schwer, seine Gesichtszüge zu erkennen. Sie wischte sich mit dem Ärmel des Nachthemds über die Augen und erkannte ein freundliches, gütig dreinblickendes Gesicht. Der lange Bart, eine Brille mit runden Gläsern und ein weißes Gewand verliehen dem Unbekannten das Aussehen eines gastfreundlichen, großherzigen Menschen.

»Ich flehe Sie an, lassen Sie mich gehen. Was mache ich hier? Das … das muss ein Irrtum sein.«

»Kein Irrtum, Mademoiselle Francesca de Gecco«, sagte Abu Bakr auf Französisch.

»Woher kennen Sie meinen Namen? Wer sind Sie? Warum bin ich hier?« Als keine Antwort kam, verlor Francesca die Beherrschung. »So antworten Sie doch!«

Der Mann schlug ihr ins Gesicht, und vor lauter Verblüffung spürte sie das pulsierende Pochen im Kiefer nicht gleich. Als sie den metallischen Geschmack des Blutes bemerkte, das ihr aus dem Mundwinkel rann, wurde ihr schlecht.

»Sie sind nicht in der Position, Antworten zu verlangen, Mademoiselle de Gecco.« Er packte sie am Kinn, und der Schmerz wurde stärker. »Prinz Kamal hat einen guten Geschmack bei der Wahl seiner Frauen.« Er versuchte, sie auf den Mund zu küssen, aber Francesca drehte das Gesicht weg und spuckte Abu Bakr blutigen Speichel vor die Füße.

»Nicht nur schön, sondern auch mutig«, bemerkte der Terrorist und streichelte ihr über die Wange.

»Bitte lassen Sie mich gehen, ich flehe Sie an.«

»Sie gehen lassen?«, wiederholte Abu Bakr mit einem Lächeln, das gleich darauf erstarb. Seine Augenbrauen verwandelten sich in eine einzige durchgehende Linie, und der harmlose Blick wurde eiskalt. »Sie haben einen Prinzen aus dem Hause al-Saud verführt, Sie haben ihn mit Ihrem dirnenhaften Betragen verhext und ihn dazu gebracht, sein Volk und seine Religion zu verraten, und jetzt sagen Sie mir, ich soll Sie gehen lassen. Bei Allah, Sie tragen eine Frucht des Teufels im Leib!«

Er schlug ihr in den Bauch, und Francesca zog instinktiv die Beine an und schrie verzweifelt, als sie wieder Luft bekam.

»Nein, nicht mein Kind!«, flehte sie, und ihr Schluchzen ging in ein fast tonloses Gebet über.

»Diese Frucht, die Sie in Ihrem Leib tragen«, fuhr Abu Bakr fort, »wird den feinen Prinzen ein paar Millionen extra kosten.« Er blickte einige Sekunden in ihre angsterfüllten Augen. »Du billige Hure«, brach es aus ihm hervor, »du wirst für jede einzelne Sünde bezahlen, zu der du unseren Prinzen verleitet hast. Bindet sie los und bringt sie in mein Zimmer. Wir stellen jetzt die Lösegeldforderung.«

Zwei Männer banden Francesca los und schleiften sie halb ohnmächtig durch die Gänge zu Abu Bakrs Zimmer.


Kamal schaute auf die Uhr: halb sechs Uhr morgens. Er hatte eine schlaflose Nacht auf dem Sofa in Mauricios Büro verbracht, um auf den Anruf mit der Lösegeldforderung zu warten. Die Spezialisten, die versuchen würden, den Anruf zurückzuverfolgen und das Gespräch aufzuzeichnen, dösten in den Sesseln Mauricio war in die Küche gegangen, um Kaffee zu holen. Jacques befand sich seit dem Vorabend mit Abdullah al-Saud im alten Palast, wo sie ohne Erfolg versuchten, die Wahrheit aus Malik herauszubekommen. Ahmed Yamani war gerade gegangen. Er würde in wenigen Stunden von Riad nach Genf fliegen, um zu versuchen, das von Minister Tariki und dem venezolanischen Präsidenten vorgeschlagene Ölembargo zu verhindern, so wie es Kamal und Kennedys Außenminister abgemacht hatten.

Kamal hatte diese wichtige Versammlung der OPEC ganz vergessen. Was interessierten ihn die OPEC, das Erdöl oder Kennedys Außenminister? Selbst Saudi-Arabien war ihm gleichgültig, wenn seine Francesca in Lebensgefahr schwebte! Er drehte fast durch bei dem Gedanken, dass er sie womöglich nie wiedersehen würde. Ohne sie hätte sein Leben keinen Sinn mehr. Dieses junge Mädchen von zweiundzwanzig Jahren, das so anders war als alles, was er zuvor gekannt hatte und was er war, war in einer warmen Sommernacht in sein Leben getreten und hatte ihm den Seelenfrieden geraubt. Er sprang auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Die Spezialisten schreckten aus dem Schlaf hoch und kontrollierten die Telefonverkabelung und die Apparate. Al-Saud wanderte mit gesenktem Kopf im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, während die Perlen seiner masbaha rasch durch seine Finger glitten. Er hatte Sauds Habgier unterschätzt. Und Tarikis Scharfsinn, denn wenn sein Bruder das alles zu verantworten hatte, wie er vermutete, musste der Ölminister als führender Kopf dahinterstecken, denn der hatte viel zu verlieren, falls Saud abdanken musste.

Mauricio kam ins Zimmer, gefolgt von Sara, die ein Tablett mit Kaffee und Hörnchen brachte. Die Abhörleute nahmen das kräftige, aromatische Getränk gerne entgegen und machten sich über das Gebäck her. Der Botschafter trat zu Kamal und reichte ihm eine Tasse.

»Nein danke«, sagte er und trat ans Fenster.

»Los, nimm den Kaffee«, beharrte Mauricio. »Du erreichst nichts damit, wenn du dich wie ein Asket aufführst. Seit einem Tag isst du nichts, trinkst nicht, schläfst nicht. Du musst stark und ausgeruht sein. Wir wissen nicht, was uns noch bevorsteht.«

Kamal nahm die Tasse und trank einen Schluck, der seine Lebensgeister zu wecken schien. In diesem Moment klingelte das Telefon. Die Spezialisten schalteten das Aufnahmegerät und die Fangschaltung ein und bedeuteten Mauricio und Kamal, gleichzeitig die Telefonhörer abzunehmen.

»Hallo? Wer spricht da?«, fragte der Botschafter.

»Das tut nichts zur Sache«, antwortete jemand mit offensichtlich verstellter Stimme. »Dies ist eine Nachricht für Prinz Kamal al-Saud.«

»Hier spricht al-Saud«, sagte Kamal mit einer Kaltschnäuzigkeit, die er nicht empfand.

»Ich habe das, wonach Sie suchen, Hoheit.«

»Ich will mit ihr sprechen.«

»Ich glaube nicht, dass Sie in der Position sind, Forderungen zu stellen, Hoheit. Wenn Sie Ihre Frau und das Kind wiedersehen wollen, wird Sie das zwanzig Millionen Dollar kosten. Sie selbst werden die Summe zum angegebenen Zeitpunkt am angegebenen Ort übergeben. Sie müssen allein kommen. Eine Menschenseele im Umkreis von fünfzig Kilometern, und das Mädchen stirbt.«

»Ich werde keinen Finger rühren, wenn ich nicht genau weiß, ob sie noch am Leben ist.«

Auf ein Zeichen von Abu Bakr schleifte ein Mann Francesca zum Telefon.

»Kamal …«, hauchte Francesca kraftlos.

»Francesca!«

»Komm nicht, Kamal, sie wollen dich umbringen …«

Abu Bakr versetzte ihr einen Hieb, und sie stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, bevor sie das Bewusstsein verlor.

»Du Bastard, du Hurensohn! Fass sie nicht an! Ich zerreiße dich mit meinen eigenen Händen! Tu ihr nicht weh! Du Bastard!«

Ein gleichförmiges Tuten zeigte an, dass die Verbindung unterbrochen wurde. Die Techniker hielten das Tonband an und schalteten das Peilgerät aus. Mauricio nahm Kamal den Hörer aus der Hand und legte auf.

»Er hat sie geschlagen«, sagte Kamal, völlig außer sich. »Er hat sie geschlagen!«

»Was ist mit dem Anruf?«, fragte Dubois, an die Spezialisten gewandt. »Konnten Sie ihn zurückverfolgen?«

»Leider nicht, obwohl der Anruf lang genug gedauert hat. Offensichtlich haben sie kein übliches Telefon benutzt, sondern irgendein Gerät mit neuester Technologie, von dem man den Anruf nicht zurückverfolgen kann.«

»Verdammt!«, fluchte Kamal und hieb mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Analysiert die Tonbandaufnahme und versucht etwas zu finden, das uns einen Hinweis gibt.« Dann stürzte er aus dem Büro.

***

Francesca wälzte sich auf dem Boden der Zelle und versuchte, die Augen zu öffnen. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihren Kiefer und konfrontierte sie erneut mit der Wahrheit, die zu akzeptieren ihr Verstand sich weigerte: Man hatte sie entführt, um Lösegeld von Kamal zu erpressen. Mühsam versuchte sie sich zu erinnern. Da war ihr Schlafzimmer in der Botschaft, ein Brief, den sie an ihre Mutter schrieb, Kamillentee, Buchstaben, die vor ihren Augen verschwammen, der Füllhalter, der ihr aus den Händen glitt, während sie die Kontrolle über ihren Körper verlor – Bilder, die ihr nichts sagten. Minuten, Stunden oder Tage später war sie in dieser Höhle zu sich gekommen.

Sie versuchte, sich aufzurichten, um die Pritsche zu erreichen, doch ihr Körper spielte nicht mit. Sie hatte kein Gefühl in den Beinen, und ein schmerzhaftes Kribbeln in den Armen machte ihr zu schaffen. Sie krümmte sich vor Unterleibskrämpfen, doch obwohl sie ihren Bauch sanft massierte, ließ der Schmerz nicht nach.

»Mein Kind …«, flüsterte sie, und Tränen traten ihr in die Augen.

Sie hatte nach wie vor quälenden Durst und schluckte ihre eigenen Tränen, die aber nichts gegen das brennende Feuer in ihrer Kehle ausrichten konnten. Der Mund schmeckte nach Blut, ein metallischer Geschmack, von dem ihr übel wurde. Sie würde sterben, und mit ihr auch ihr Kind. Die Kräfte verließen sie, sie konnte die Kälte spüren, die sie einhüllte. Trotz der Lampe, die ein paar Meter entfernt brannte, war sie von Dunkelheit umgeben, einer inneren Dunkelheit, die ihr Herz lähmte und ihr die Lust nahm, weiterzukämpfen. Doch einen Funken Hoffnung hatte sie noch, an dem sie sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Sie würde niemals aufgeben – bis zum letzten Atemzug würde sie um ihr Leben und das ihres Kindes kämpfen. Für Kamal.