32.
Bratislava, 30. Juni 2007
Natalie erwachte mit fremdartigen Gefühlen. Sie lag in einem weichen Bett, umgeben von hohen Wänden und verdunkelten Fenstern. Obwohl der Raum von Finsternis durchflutet wurde, konnte sie dennoch jedes Möbelstück und jede noch so kleine Verzierung an der Wand erkennen. Nicht nur ihre Augen, auch ihre anderen Sinne arbeiteten mit ungewohnter Schärfe.
Sie spürte jeden Luftzug, jede Unebenheit des Bettes, während ihre Nase die Gerüche in ihre einzelnen Duftnuancen zerlegte. Sie hörte Stimmen, Schritte und die Geräusche des fernen Straßenlärms.
Wider Erwarten und jeder Legende zum Trotz schlug ihr Herz in ihrer Brust, pumpte Leben durch ihre Adern. Auf ihrer Zunge lag salziger Geschmack und ihre Kehle fühlte sich wie ein rauer Stein an. Sie verspürte unsäglichen Durst, wie nach einer langen Wanderung durch brütende Hitze. Es kostete Kraft, sich im Bett aufzusetzen. Zwar war sie wach und bei Sinnen, doch ihr Körper fühlte sich schwach an, ausgemergelt.
„Du hast fünf Tage geschlafen.“
Trotz ihres Scharfblicks sah Natalie André erst in dem Moment, als er sich aus der Ecke des Raumes bewegte und neben das Bett trat. Seine Hände berührten ihre Stirn, so wie ihr Vater es in ihrem Traum getan hatte. Er setzte sich an den Bettrand.
„Wie fühlst du dich?“
„Als wäre ich einen Marathon gelaufen“, sagte sie. „Ich habe schrecklichen Durst. Würdest du mir bitte ein Glas Wasser bringen?“
André schüttelte den Kopf. „Diesen Durst kann kein Wasser auf dieser Welt stillen.“
Er stand auf, kehrte in die Ecke des Raumes zurück und kam mit einer kleinen Phiole wieder.
„Das sollte für den Anfang genügen. Dein Körper muss sich erst daran gewöhnen.“
Mit zittriger Hand umschloss Natalie das körperwarme Fläschchen und schraubte die goldene Verschlusskappe ab. Der Duft des Blutes, der dem gläsernen Hals entstieg, weckte ein tiefes Verlangen danach in ihr. Sie führte die Phiole an ihren Mund und benetzte die Lippen mit dem Blut. Es war wie der erste Bissen eines perfekten Essens. Natalie hob das Fläschchen und trank den ganzen Inhalt der Phiole aus. Jeder Schluck schien die Energie jenes Menschen zu übertragen, von dem dieses Blut stammte. Es war wie ein Rausch, der von ihr Besitz ergriff. Der Durst ließ nach, erlosch jedoch nicht endgültig.
„Später bringe ich dir mehr.“ Andrés Stimme war sanft.
„Was wird nun geschehen?“ Natalie reichte ihm das leere Fläschchen.
„Du musst dich noch etwas ausruhen und wieder zu Kräften kommen.“
Seine Lippen formten ein Lächeln. Er strich zärtlich durch ihr Haar.
„Und danach werde ich dir eine Welt zeigen, wie du sie nie zuvor gesehen hast.“