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Niederösterreich, 21. April 2007

 

Stolz ragte die Burg aus dem dichten Laubwald, der sie schützend umgab, und dessen Blätter vom Frühling getränkt in saftigem Grün leuchteten. Seit Jahrhunderten thronte das alte Mauerwerk auf seinem Hügel, weit außerhalb der Tore Wiens, jenseits des hektischen Treibens im Südwesten Niederösterreichs.

Auf seiner getunten Kawasaki Ninja in glänzendem Schwarz raste André die Straße zur Feste hinauf. Die auf dem Parkplatz versammelten Sportwagen und Motorräder verrieten ihm, dass er der Letzte war. Er klappte das Helmvisier hoch, mied den Sonnenschein. In den Geschichten der Menschen verbrannten Vampire im Sonnenlicht zu Asche. Doch die Augen und die Haut eines Vampirs reagierte nur empfindlicher und mit schwerem Sonnenbrand auf das UV-Licht, weshalb André sich nicht auf einem Strand in der Sonne suhlen konnte, aber den Tag noch lange nicht in einem finsteren, gepolsterten Sarg verbringen musste.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach zwölf und das erste Mal seit Bestehen des Rates, dass André ohne entschuldbaren Grund zu spät zu einer Versammlung erschien.

Im Schutz des schattigen Treppenaufganges nahm André den Helm ab und eilte mit schnellen Schritten in den ersten Stock des Gebäudes. Er folgte einer Arkade, die ihn zu einer massiven Holztür führte. Hinter der Tür verbarg sich ein abgedunkelter Rittersaal, mit weiß gekalkten Wänden, die zu einem Kreuzrippengewölbe zusammenliefen. Im Zentrum des Gewölbes hing ein Kerzenlüster aus geschmiedetem Messing. Der flackernde Schein fiel auf einen reichlich gedeckten Holztisch und in die Gesichter derjenigen, die sich im Saal versammelt hatten, und bereits in eine lautstarke Diskussion verstrickt waren.

Als André die Tür hinter sich schloss und über den knarrenden Holzboden zum einzig noch freien Platz an der Kopfseite des langen Tisches ging, verstummten die Stimmen. André begrüßte jeden Einzelnen in der Runde der sieben Familienoberhäupter, die er zu dieser Versammlung geladen hatte. Der glatzköpfige Lorenzo vom Clan der De Angelos saß zu seiner Linken, des weiteren Lucia Luego, eine heißblütige Schönheit aus Madrid. Mathies Leclerc, der kraushaarige Franzose aus Paris, kauerte nachdenklich in einem gepolsterten Lehnstuhl, daneben der eher unauffällige Javier Alfaro aus Südamerika, und Thomas Sinclair, ein penibel gekleideter Engländer. Alyssa Blackrose, die Anführerin des ältesten Vampirclans aus New York, deren äußerliches Erscheinungsbild jede menschliche Illustration einer erotischen Vampirlady in den Schatten stellte, und zu guter Letzt Gerald Valmont, der den Valmont-Clan aus Belgien anführte, bildeten den Abschluss der elitären Tischrunde.

Aus gutem Grund hatte André nur die Oberhäupter der ältesten Familien zu diesem geheimen Treffen geladen. Clans deren Blut so rein und unverfälscht war, wie das Wasser eines Flusses an der Quelle. Natürlich gab es noch weitere ehrenhafte und mächtige Familien, die auch dem Großen Rat angehörten und sich entschlossen hatten, den Gesetzen der Neuzeit zu folgen. Doch André wollte die Geschehnisse der letzten Tage zuallererst im Kreis des Inneren Rats besprechen.

„Ich bedanke mich bei Euch, dass Ihr alle erschienen seid“, sagte er. „Thema dieser Versammlung sind die Vorfälle der vergangenen Tage, insbesondere der letzten Nacht.“

„Gerald hat uns bereits davon unterrichtet“, entgegnete Mathies Leclerc.

André nickte. „Verzeiht meine Verspätung. Ich hatte Gründe.“

Er verschloss seinen Geist, als er spürte, wie Alyssa Blackrose versuchte, in sein Bewusstsein einzudringen, um mehr über diese Gründe in Erfahrung zu bringen. André warf der schlanken, hochgewachsenen Schönheit einen scharfen Blick zu. Alyssa erwiderte Andrés Warnung mit zusammengepressten Lippen, die ein hochmütiges Lächeln formten, und blinzelte betont unschuldig.

„Wie Gerald wahrscheinlich berichtet hat, habe ich einen Anruf erhalten“, fuhr er fort und schilderte den Versammelten das Ereignis aus seiner Sicht. „Doch dem ist nicht genug.“ Er blickte in die Runde, beobachtete die Reaktionen der Clanführer. „Drei Halbblüter haben gestern auf offener Straße einen Menschen angegriffen. Die wurden engagiert, um mich zu beobachten.“ Von dem Moment, da er den Raum betreten hatte, arbeiteten Andrés Sinne mit tausendfacher Schärfe. Während er sprach, achtete er auf jeden Atemzug, jedes Zwinkern und jede Handbewegung, welche die Versammelten machten und sei es nur ein kleiner Schluck, aus den mit körperwarmem Blut gefüllten Kelchen.

„Wir wissen, dass der Anruf von den Britischen Inseln kam“, sagte Gerald Vermont, dessen Familie eng an den Barov-Clan gebunden war.

„Nicht aus meinem Clan“, versicherte Thomas Sinclair.

„Seid Ihr Euch da so sicher, Thomas?“ Lucia Luego funkelte den Engländer mit ihren kohlschwarzen Augen an.

„Wollt Ihr meiner Familie etwas unterstellen, Lucia?“ Thomas sprang wütend auf. Er rümpfte die Nase und verzog die Lippen, sodass die glänzenden Fänge zum Vorschein kamen.

Lucia fixierte Thomas mit ihrem Blick und fauchte leise.

„Nicht doch, beruhigt euch“, unterbrach André den aufkeimenden Unmut. Es hatte ihn Jahre gekostet, Thomas Sinclair und Lucia Luego gemeinsam an einen Tisch zu bekommen, wegen der jahrzehntelangen Fehde zwischen den beiden Clans. Dennoch loderte das Feuer des Hasses in den beiden weiter. Ein Aufflammen alter Feindschaften unter den Mitgliedern des Inneren Rates konnte er nicht dulden. „Wir sind nicht hier, um zu streiten.“

Thomas Sinclair schnaubte wie ein wütender Stier und setzte sich wieder. „Wir haben ähnliche Probleme“, sagte er und würdigte Lucia keines Blickes mehr. Er machte eine Pause, nahm einen Schluck aus seinem Zinnbecher. „Jemand beobachtet die Mitglieder meines Clans. Ich habe Gerald bereits darüber informiert.“

Mathies Leclerc räusperte sich. „Auch unsere Familie steht unter Beobachtung. Es geschieht nicht offensichtlich und diese Späher verschwinden, sobald sie entdeckt werden. Als warteten sie auf einen bestimmten Moment.“

Reihum bestätigten die Anführer der Clans diese Vermutung, erzählten von Wagen, die sie verfolgten, und unscheinbaren Passanten, die nur mit dem scharfen Blick eines Vampirs von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden waren. Die Clanführer hatten bisher nur mit Gerald Vermont, dessen Familie die Rolle einer Art Sicherheitspolizei innerhalb des Rates übernommen hatte, über dieses Problem gesprochen.

„Was denkt ihr, André?“, fragte Alyssa Blackrose. „Wer steckt dahinter? Jäger? Kehren unsere alten Feinde etwa zurück?“

Lorenzo de Angelos antwortete an Andrés Stelle. „Das wäre möglich. Doch es gibt seit Jahren keine Berichte mehr über noch ernstzunehmende Jägerorden. Wir in Italien wissen von einigen Relikten aus vergangener Zeit, Jägern, wie etwa dem alten Francesco, der in Florenz sein Unwesen treibt. Unter den Menschen wird er nur noch als Irrer angesehen und er hilft unserem Plan mehr, als dass er Schaden anrichtet.“

André sank in den Stuhl und dachte an das Telefongespräch und seinen vergeblichen Versuch, in die Gedanken des Anrufers einzudringen. „Ich denke nicht, dass ein Jägerorden hinter alldem steckt.“

„Was macht Euch so sicher?“, fragte Lucia Luego.

„Welcher Jägerorden engagiert Halbblüter?“ Es war ein Gedanke, den er laut aussprach. „Wie Ihr sagtet, Eure Beobachter sind nur mit den Sinnen eines Vampirs zu entdecken, also waren es Vampire.“

„Dieser Überfall auf einen Menschen“, warf Gerald ein. „Da besteht irgendein Zusammenhang.“

„Ihr Anführer war auf einer Eröffnungsfeier, zu der auch ich geladen war.“ André blickte erneut in die Runde, suchte den Augenkontakt mit jedem Einzelnen. Er verdächtigte keinen der Oberhäupter des Verrates, doch er wollte sich Gewissheit verschaffen, indem er ihre Reaktionen beobachtete. „Ich habe versucht, etwas über den Auftraggeber in Erfahrung zu bringen. Doch ihre Gedanken verrieten mir nur das Bild eines schwarzen Schemen, der sie befehligt hat, mich zu beschatten.“

„Ich frage mich nur“, murmelte Javier Alfaro, der sich bis dahin zurück gehalten hatte, „warum Ihr für diese Menschenfrau gekämpft habt? Ich meine, wir haben alle die Bilder gesehen, die Gerald vom Ort des Geschehens gemacht hat. Ihr habt dort wie ein Berserker gewütet.“

André spürte, wie Alyssa und Lucia zugleich versuchten, in seinen Geist einzudringen. Für einen Moment schloss er die Augen, um sich ganz auf seine mentalen Kräfte zu konzentrieren. Er verdrängte die beiden Frauen und unterbrach den telepathischen Lauschangriff, indem er sich auf ihre Schmerzzentren konzentrierte. Er öffnete seine Augen wieder, sah wie Alyssa und Lucia ihren Blick abwandten und gegen die stechenden Schmerzen ankämpften, mit denen André ihr Vergehen belohnt hatte.

„Natalie Adam ist eine angesehene Innenarchitektin. Ich hatte mich zuvor auf der Eröffnungsfeier mit ihr unterhalten. Ihr Tod hätte für unnötiges Aufsehen gesorgt und die Aufmerksamkeit auf meine Person gelenkt.“

Javier Alfaro ließ nicht locker. „War diese Prügelei nicht etwas töricht von Euch? Sie hat für kaum weniger Aufsehen gesorgt und schadet dem Ansehen des Rates.“

„Ihr stellt meine Entscheidungen infrage, Javier?“

André schluckte die aufkeimende Wut hinunter. Er musste Ruhe bewahren und durfte sich nicht auf den Streit einlassen. Er blickte in Alfaros Augen, die in einem hellen Gelb leuchteten. André wusste nur zu gut, dass der ruhige, besonnene Alfaro zu den treusten und stärksten Personen dieses Rates gehörte. Ein Schlagabtausch mit Alfaro würde die Werte und Ansichten der Gemeinschaft in ihren Grundfesten erschüttern.

„Wir haben die Szenerie ein wenig manipuliert“, kam Gerald André zu Hilfe. „Die Öffentlichkeit hält es für eine Bandenschlägerei.“

Alfaros Blick schwenkte nun auf Gerald. „Und die Angreifer?“

„Waren verschwunden, als wir eintrafen. Die Spurensicherung wird keinen Hinweis auf die Existenz von Vampiren finden. Meine Agenten waren sehr gründlich“, meinte Gerald und seine Erklärungen beruhigten die Gemüter.

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Wien, 21. April 2007

 

Mit Handy und Handtasche bewaffnet verließ Natalie das Gästezimmer. Stille empfing sie. Die klassische Musik war verstummt und der Kaffeeduft dem Geruch alter Bücher gewichen.

Der Anblick der fremden, verlassenen Wohnung rief eine Erinnerung wach, auf die sie hätte verzichten können. Doch ihre Gedanken trugen sie zu jenem Morgen, der mehr als zwölf Jahre zurück lag. Natalie war gerade sechzehn geworden und ihre Eltern hatten ihr zum ersten Mal erlaubt, die Nacht bei Daniel Dupont zu verbringen. Auch damals war sie durch eine verlassene Villa geirrt, nachdem Daniel sie am Morgen nach einer gemeinsamen Liebesnacht in seinem Zimmer zurück gelassen hatte, um mit Freunden einen Kaffee in der Münchner Innenstadt zu trinken. Die Villa der Duponts war jedoch nicht so verlassen, wie Natalie an diesem Morgen gedacht hatte, und der Anblick von Daniels Vater, der gerade damit beschäftigt war, das polnische Dienstmädchen im Esszimmer des Hauses zu vernaschen, hatte sich auf ewig in ihr Gedächtnis eingebrannt. Eigentlich hätte sie schon damals ahnen können, dass Daniel gemäß des alten Sprichwortes ‚Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’ kaum besser war als sein Vater. Liebe macht aber bekanntlich blind.

Natalie betrat den Wohnraum, machte Fotos von der Musikecke und dem polierten Bösendorfer Klavier, das in der Sonne glänzte. Sofort hatte sie ein paar Einfälle, wie man dem Raum noch mehr Charakter geben könnte, und machte in Gedanken schon ein paar Skizzen. Danach wanderte ihr Blick zu den Fenstern und schweifte über die Dächer der Stadt hinweg, die sich wie eine hügelige Landschaft vor ihr ausbreiteten. Nicht weit von Andrés Appartement sah man den Südturm des Stephansdoms zwischen Häusern emporragen. Ihr wurde erst jetzt so richtig bewusst, dass Andrés Penthaus inmitten des historischen Zentrums von Wien lag und nur wenige Straßen von dem Büro entfernt, in dem sie und Tina den Firmensitz eingerichtet hatten.

Wehmütig riss sich Natalie von dem herrlichen Ausblick los. Sie ging zu der gegenüberliegenden Wand aus zusammengesetzten Schiebelementen, die ihr bereits beim Frühstück aufgefallen war.

Neugierig schob sie eines der Wandelemente ein Stück zur Seite und schlüpfte hindurch. Zahlreiche Lichter an der Decke blitzten auf und beleuchteten den fensterlosen Saal. In den aus faustdickem Holz gefertigten Regalreihen standen alte Buchbände in schwarzem und braunem Leder. Sie konnte nicht anders, als eines der Werke zu berühren. Der speckige Einband fühlte sich weich an, beinahe wie die Haut eines lebendigen Wesens. Behutsam zog sie das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Der Duft des Alters entströmte den Seiten. Sie strich über eine vergilbte, rissige Oberfläche, auf der ein handgeschriebener Text in lateinischer Sprache stand. Obwohl sie kein Wort lesen konnte, blätterte sie ein paar Seiten um, bewunderte die kunstvoll gestalteten Skizzen menschlicher Körper. Dem Verfasser war allem Anschein nach die Fantasie durchgegangen. Auf einigen Bildern waren die Gesichter mit katzenartigen Augen und langen, geschwungenen Eckzähnen dargestellt. Andere Bilder wiederum strahlten eine unheimliche Düsternis aus, stellten Rituale und Orgien dar und zu Natalies Verwunderung glaubte sie auf einer Zeichnung einen Ring wiederzuerkennen, wie ihn André an seinem Finger trug.

Nach ein paar Minuten stellte sie das Buch zurück und durchschritt die Bibliothek. Im hinteren Bereich stand eine Ledercouch mit zwei Stehlampen und einem Beistelltisch. Natalie wandte ihre Aufmerksamkeit der Leseecke zu und wollte gerade den Lichtschalter der Lampe betätigen, als sie am Boden etwas vorbeihuschen sah, gefolgt von einem leisen, metallischen Klirren, das sie beinahe zu Tode erschreckte. Im nächsten Augenblick sprang eine weiße Perserkatze auf die Couch und starrte Natalie an. Nachdem der kurze Schreck überwunden war, ging Natalie in die Knie und bewunderte das edle Tier. Die Katze verfolgte Natalies Bewegungen. An ihrem Hals baumelte ein münzgroßes Amulett, das an einem weißen Lederhalsband befestigt war. Die Gravur, die in die silberne Scheibe eingearbeitet war, stellte das Abbild der ägyptischen Katzengöttin Bastet dar. Vorsichtig streckte Natalie ihre Hand aus und wollte das weiße Fell berühren. In diesem Moment sprang die Perserkatze über die Couch, stolzierte mit erhobenem Kopf durch den Raum und war verschwunden.

Seufzend richtete sich Natalie auf, setzte sich auf die Ledercouch und genoss die Ruhe, die der Raum ausstrahlte. Die Bibliothek vermittelte ein Gefühl, als säße sie in einem uralten Archiv weit unter der Erde. Auf dem Beistelltisch lag ein Buch, das ebenso in Leder gebunden war, aber nicht so alt zu sein schien, wie der Band, den sie vorhin aus dem Regal gezogen hatte. Die Überschrift auf der ersten Seite lautete ‚Gilden in Großbritannien.’ Der Einleitungstext war auf Englisch und mit einer geschwungenen Handschrift geschrieben. Beim Weiterblättern fand sie ein ebenfalls handgeschriebenes Inhaltsverzeichnis, in dem eine Reihe von Nachnamen aufgelistet wurden, die in drei verschiedene Bereiche aufgeteilt waren. Reinblüter, Halbblüter und Geächtete.

Eine Weile schmökerte sie durch das Buch, aus dessen Inhalt sie aber nicht schlau wurde. Texte, die sich mit der Reputation der einzelnen Familien aus dem Inhaltsverzeichnis befassten, verwirrende Stammbäume mit unmöglichen Lebensspannen auflisteten und so manche Gilde als ausgestorben bezeichneten. Augenscheinlich war André nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch so etwas wie ein Historiker, der sich mit der Geschichte Großbritanniens befasste. Ein reicher, gutaussehender Mann, der klassische Musik und alte Bücher liebte. Der Gedanke gefiel ihr. Natalie sah André im Geiste vor sich, wie er auf der Couch saß und bei einem Glas Wein die alten Bücher studierte. Eine warme Erregung floss durch ihren Körper. Jedoch zügelte sie ihre Phantasie, widerstand der Versuchung, sich dem Tagtraum hinzugeben. Immerhin war sie hier, um zu arbeiten. Noch einmal tief den schweren Duft des Raumes einatmend, klappte sie das Buch zu und ging schließlich zurück ins Wohnzimmer.

Sie schoss noch ein paar Fotos und durchstreifte weiter die Wohnung. Sogar ein Schwimmbad hatte Barov in dieser Luxusbehausung. Wehmütig blickte Natalie auf das beleuchtete Poolwasser und spielte mit dem Gedanken, eine Runde darin zu drehen. Doch was würde André wohl von ihr denken, wenn er sie nackt in seinem Pool erwischte? Sie fragte sich ob er sie nur heimlich beobachten, oder sich zu ihr gesellen würde. Die sanften Wellen der Erregung erwachten von neuem. Mit einem tiefen Atemzug verdrängte sie die Gefühle, zwang sich, wieder zur Vernunft zu kommen und an ihren Job zu denken. Sie hatte ihren Rundgang beinahe beendet. Es fehlte nur noch ein Raum im Obergeschoss, den sie sich für den Schluss aufgehoben hatte. Andrés Schlafzimmer.

Der Raum war abgedunkelt. Dicke Vorhänge aus purpurrotem Stoff verdeckten die Fenster und schirmten das Sonnenlicht zur Gänze ab, so dass Natalie das Licht anknipsen musste. Die Glühbirnen eines Kristalllüsters warfen ihr Licht in die Ecken eines Zimmers, das auf den ersten Blick wie das Schlafgemach eines Königs aussah. Prunkvolle Möbel in barockem Stil dominierten. Als habe jemand diesen Raum aus einem Schloss entnommen. Es dauerte einen Moment, bis Natalie verarbeitete, was sie sah. Sie hatte mit einem modernen Schlafzimmer gerechnet, mit geraden Linien und Designermöbeln, die ähnlich dem Wohnzimmer mit einzelnen Prachtstücken vergangener Zeiten harmonierten.

Das Bett war sauber gemacht und sah aus, als habe schon seit längerem niemand mehr darin geschlafen. Überhaupt wirkte das Zimmer trotz oder vielleicht auch wegen des Prunks steril. Sie trat an den Sekretär, schaute auf die Bücher und Unterlagen und streckte neugierig die Hand danach aus.

„Sie müssen Señora Adam sein“, sagte eine Stimme hinter ihr.

Erschrocken fuhr Natalie zusammen und blickte über die Schulter. Im Türrahmen stand eine kleine, stämmige Frau mit schwarzem Haar und gutmütigen Augen.

„Und Sie sind vermutlich Simona“, antwortete Natalie erleichtert.

„Si.“ Die Frau musterte Natalie von Kopf bis Fuß. „Señor Barov meinte, ich solle Ihnen etwas Gesellschaft leisten, bis er wiederkommt“, sagte sie und ihr breiter Mund formte ein warmherziges Lächeln. „Haben Sie Lust auf einen Plausch bei einer Tasse Kaffee?“

„Gern“, sagte Natalie und hoffte auf diese Weise etwas mehr über André herauszufinden.

Simona erwies sich als herzliche Gastgeberin. Natalie mochte sie auf Anhieb. Simona plauderte frei von der Seele, so als kenne sie Natalie schon lange und nach einer Weile hatte Natalie der Spanierin die wahrscheinlich interessanteste Information entlockt, nämlich dass es keine Señora Barov gab.

Der Kaffeeplausch wurde von Simonas Handy unterbrochen. „Entschuldigen Sie kurz“, sagte sie und nahm den Anruf entgegen.

Natalie konnte nicht hören, was der Anrufer sagte, doch an Simonas stummer Miene erkannte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Als Simona schließlich auflegte, war sie bleicher als das Serviettenpapier neben ihrer Kaffeetasse.

„Stimmt etwas nicht?“

Simona kaute auf ihrer Unterlippe und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Es gibt Probleme mit Pablo, meinem Sohn.“ Sie fuhr sich über ihr Gesicht und murmelte eine Reihe von spanischen Gebeten und bekreuzigte sich dabei mit Blick zum Himmel.

„Vielleicht sollten Sie zu ihm und sich darum kümmern. Ich komme hier schon allein zurecht“, meinte Natalie.

Simona nickte. „Sie haben recht.“

„Ich wollte ohnehin gehen“, sagte Natalie.

„Nein, bitte.“ Simonas Stimme klang beinahe flehend. „Señor Barov hat mich ausdrücklich gebeten, Ihnen Gesellschaft zu leisten, bis er wiederkommt. Wenn Sie nun gehen, dann …“

„Bekommen Sie Ärger?“

„Ich denke, Señor Barov wäre nicht erfreut.“

„In Ordnung“, gab Natalie nach, denn sie wollte Simona nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen. „Ich warte solange.“

„Danke … ich danke Ihnen.“ Simona berührte Natalies Schulter. „Es wird noch einige Stunden dauern, bis Señor Barov wiederkommt. Sie haben bestimmt schon den Pool entdeckt? Señor Barov hätte nichts dagegen.“

„Aber ich habe keinen Badeanzug bei mir.“

„Aber wer sollte Sie sehen?“, meinte Simona achselzuckend. „Ich komme wieder, sobald die Sache geklärt ist.“

Damit verschwand sie im Durchgang neben der Küche und ihre spanischen Worte, von denen Natalie nicht wusste ob es Stoßgebete oder Flüche waren, hallten noch durch die Gänge. Natalie leerte die Teetasse und beschloss, Simonas Vorschlag zu folgen.

In einen flauschigen Gästebademantel gehüllt stieg Natalie die gefliesten Stufen hinunter ins Untergeschoss, in dem der Pool lag, als sie das Geräusch polternder Schritte innehalten ließen. Wahrscheinlich hatte die Haushälterin etwas vergessen.

Im nächsten Moment erschütterte ein Knall die Wohnung. Glas splitterte und einen Augenblick später wurde das Foyer von grölenden Männerstimmen erfüllt. Wie festgefroren und mit pochendem Herz starrte Natalie nach unten. Was immer das zu bedeuten hatte, sie glaubte nicht, dass es Freunde von André waren, die zum Kaffee kamen.

„Seht euch die Bude an“, brüllte eine Männerstimme. Lautes Gelächter folgte.

„Seid mal leise“, befahl der Mann. „Hier ist jemand. Ich rieche Angst.“

Natalies Herz schlug so heftig, dass es wehtat. Die Männer kamen näher, sie wollte flüchten, doch Panik lähmte ihre Muskeln. Wie in einem dieser Alpträume, in denen sie ihre Beine nicht bewegen konnte.

„Wen haben wir denn da?“ Ein Mann war am unteren Ende der Treppe erschienen. „Death, guck mal … Jackpot“, rief der Kerl.

Das Gesicht eines zweiten Mannes erschien in ihrem Blickfeld und ein Faustschlag konnte kaum heftiger sein als die Erinnerung, die sein Antlitz in ihr weckte.

„Na sieh mal einer an …“, sagte Death. „Kein Wunder, dass unser Prinz heute Nacht so böse auf uns war.“

Hinter den beiden erschien ein dritter Kerl und vervollständigte das Trio, das Natalie in der vergangenen Nacht überfallen hatte. Dabei hätte Natalie die beiden anderen beinahe nicht wiedererkannt, denn anstatt alter, schmutziger Kleidung waren die beiden Penner nun in lederne Bikerklamotten gehüllt. Eigentlich konnte sie nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es genau dieselben Männer waren, die Death begleitet hatten.

„Das nenn ich Luxus“, sagte Death. „Will uns vorschreiben, was wir zu tun haben, und selbst hält er sich eine Blutsklavin. Diese verlogenen Reinblüter …“ Er schnalzte mit der Zunge. „Alexej, Jasper, schnappen wir uns die Lady und kosten ihr süßes Blut.“

Alexej war jener der drei, den Natalie zuerst bei der Treppe gesehen hatte. Ein eher kleiner, hagerer Kerl mit kurzen, schwarzen Haaren. Jasper stand ganz hinten. Er war ein hoch gewachsener junger Mann, so wie Death, wirkte jedoch im Gegensatz zu dem durchtrainierten Anführer der Schlägertruppe schlaksig.

Als Alexej losstürmte, erwachte auch Natalie aus ihrer Starre. Wie eine Horde wildgewordener Stiere polterten die drei Männer die Treppe herauf und behinderten sich dabei gegenseitig, was Natalie einen kleinen Vorsprung verschaffte.

Wo sollte sie hin? Wenn die drei auch nur einen Funken Grips besaßen, dann hatte sie keine Chance zu entkommen. In ihrer Panik riss sie die Badezimmertür auf, stürmte hinein und schloss die Tür hinter sich ab. Die Schritte der Männer, die über den Parkettboden jagten, hallten durch die ganze Wohnung. Suchend schaute Natalie durchs Badezimmer, blickte durch das Fenster hinunter in eine schmale Gasse. Kein Fluchtweg. Sie riss die Schubladen der Schränke auf und fand ein Rasiermesser. Besser als nichts. Mit einem lauten Schlag, als hätte jemand eine Bombe gezündet, wurde die Badezimmertür aus den Angeln gerissen und zerschellte an der Wand. Natalie blickte in Jaspers Gesicht.

„Hier versteckt sich unser Mäuschen, Death“, rief er.

Natalie wich zurück, als Jasper das Badezimmer betrat. Sie tastete nach einer Rasierwasserflasche, versteckte die Hand mit dem Messer hinter dem Rücken. Als er auf sie zu sprang, schleuderte sie ihm mit aller Kraft die Flasche entgegen. Der Rasierwasserflakon zerschellte an Jaspers Stirn und ein Regen aus parfümiertem Alkohol und glänzenden Splittern regnete auf den Angreifer nieder. Jaulend warf sich der Mann zur Seite und versuchte, die brennende Flüssigkeit aus seinen Augen zu wischen. Er stolperte gegen den Badewannenrand und als Natalie mit einem Tritt nachhalf, verlor er das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den Whirlpool. Sie nutzte diese Chance, um der Sackgasse zu entfliehen. Noch bevor Death und Alexej, die anscheinend damit beschäftigt waren, die anderen Räume des Traktes zu durchsuchen, das Badezimmer erreicht hatten, rannte Natalie ins Wohnzimmer. Alexej war ihr dicht auf den Fersen. Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Raum, lief an der Küche vorbei hinaus auf den Gang. Sie sah den Treppenabgang vor sich. Hinter ihr kam Alexej aus dem Wohnzimmer, doch sie glaubte, dass der Abstand groß genug war, um den Verfolger zu entkommen und sprintete auf die Treppe zu. Da spürte sie einen scharfen Luftzug an ihrem Nacken und duckte sich instinktiv. Einen Lidschlag später flog ein schwarzes Lederbündel knurrend über sie hinweg und krachte mit Wucht gegen den gemauerten Durchgang. Natalie traute ihren Augen kaum, als Alexej sich benommen aufrichtete, torkelnd zurückstolperte und über die Treppe nach unten kippte. Doch ihr blieb keine Zeit, um über Alexejs unmöglichen Sprung nachzudenken. Death kam in diesem Moment unter lautem Gebrüll ebenfalls aus dem Durchgang zum Wohnzimmer. Zu Natalies Verwunderung schien der Treppensturz Alexej nicht viel ausgemacht zu haben. Er war bereits wieder auf den Beinen und machte trotz einer zerbeulten und blutverschmierten Fratze keine Anstalten aufzugeben.

Kurzerhand stieß Natalie die Tür zur Bibliothek auf und rannte zwischen den Regalreihen hindurch.

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André spürte plötzlich einen Druck an den Schläfen. Jemand versuchte, mit ihm in Kontakt zu treten. Er schloss die Augen und öffnete seinen Geist. Sofort hörte er Schreie und schaute vom Boden aus durch das Wohnzimmer seines Penthauses. Er sah Trümmer und Scherben überall verstreut im Raum, und als er zur Seite blickte, entdeckte er den Kopf von Bastet sich im Glas spiegeln, durch deren Augen er die Umgebung wahrnahm.

André hielt die Verbindung aufrecht und konzentrierte sich darauf, die Katze zu lenken. Er spürte ihren rasenden Herzschlag. Trotz der Angst folgte Bastet Andrés Willen. Sie sprang aus ihrem Versteck auf das Klavier. In diesem Moment stürzte Natalie aus der Bibliothek. Ihre Augen waren angstvoll aufgerissen. Wie ein in die Enge getriebenes Tier suchte sie nach einem Ausweg, während am anderen Ende des Raumes ein Mann erschien. André erkannte das Gesicht des Halbblüters wieder.

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Natalie stürmte ins Wohnzimmer und erschrak, als sie Death erblickte, der mit einem dümmlichen Grinsen auf den Lippen im Durchgang neben der Küche auf sie wartete.

Sie wollte umkehren, doch Jasper hatte die Bibliothek bereits zur Hälfte durchquert und im nächsten Augenblick stand Death vor ihr. Sie hatte keine Ahnung, wie er das gemacht hatte, wollte zurückweichen, doch Death hielt sie fest und schlug ihr mit der anderen Hand so heftig ins Gesicht, dass sie glaubte, der Kopf fliege ihr weg. Sie riss das Rasiermesser hoch, stieß es mit aller Kraft in seinen Unterschenkel. Doch die Klinge schnitt nur in das Leder der Hose, ohne die Haut darunter zu verletzen.

Dafür rammte der Kerl ihr die Faust in den Magen und presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie krümmte sich vor Schmerz, würgte und keuchte und ließ die Waffe fallen. Doch Death ließ nicht locker.

„Das ist für das Messer in der Schulter“, rief er und schlug sie erneut.

Sie wehrte sich vergebens, als Death ihr den Bademantel vom Leib riss. Entblößt taumelte sie rückwärts, stieß gegen das Plattenregal. Death grinste, betrachtete sie von Kopf bis Fuß.

„Geschmack hat unser Blutprinz.“

Grob umfasste Death ihre Hüften, zog sie an sich. Sie roch seinen stinkenden Atem, blickte auf sein gelbfauliges Gebiss mit gruseligen, spitzen Eckzähnen, die sich wie im Zeitraffer aus dem Oberkiefer schoben. Seine freie Hand kratzte über ihre Brüste.

„Nun gehörst du mir“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Und ich verspreche dir, es wird wehtun, kleine Menschenhure.“

Seine Finger schoben sich von der Brust nach unten und er lachte triumphierend. Natalie versuchte sich loszureißen, doch seine Hand umklammerte ihre Taille so fest wie ein Schraubstock und hinter ihm wartete bereits Jasper ungeduldig darauf, einen Teil der Beute abzubekommen.

Natalie spürte seine Finger an ihrem Schoß. Sie presste ihre Schenkel aneinander, doch Death’ Nägel gruben sich ihren Weg und Natalie wusste, dass es vorbei war. Sie saß in der Falle, ohne jegliche Aussicht auf einen Ausweg.

In dem Moment sprang ein Schatten über sie hinweg. Natalie hörte ein Fauchen und spürte, wie Death’ Hände von ihr abließen. Sie wich zurück, sah wie er wild um sich schlagend rückwärts stolperte und dabei seinen Kumpanen mit zu Boden riss.

Das weiße Fellknäuel hatte sich in Death’ Gesicht verkrallt und hieb mit einer Pfote auf ihn ein. Die Katze trieb ihre kleinen, scharfen Krallen immer wieder in seine Stirn, zerkratzte ihm die Augenlider und machte ihn dadurch kurz blind. Danach ließ das Tier von ihm ab und huschte in den Korridor. Dort blieb es stehen und miaute laut. Ohne großartig zu überlegen folgte Natalie der Katze, die rasch den Gang entlang flitzte und um die Ecke bog. Anstatt zur Treppe, wie Natalie erwartet hatte, lief die Katze durch die offen stehende Tür in die Bibliothek. Natalie wollte allein weiter zur Treppe rennen. Der Weg wurde ihr aber bereits von Alexej versperrt. Die Katze miaute erneut. Sie wollte Natalie offensichtlich etwas zeigen und ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Tier zu vertrauen. Das weiße Fellknäuel sprang über die Ledercouch in der Bibliothek, lief geradewegs in eine Ecke des u-förmigen Raumes und war plötzlich verschwunden. Ohne zu zögern nahm Natalie denselben Weg in die vermeintliche Sackgasse, doch als sie sich der Stelle näherte, an der die Katze verschwunden war, entdeckte sie einen vom Schatten verborgenen Spalt zwischen den Bücherregalen, durch den ein schwacher Lichtschimmer auf den Boden fiel. Natalie hechtete hindurch, stolperte und schlug mit dem Kopf gegen die harte Wand des Raumes. Benommen sank sie zu Boden und sah nur im Augenwinkel, wie die Katze hochsprang und mit ihren Pfoten auf einen roten Pilzknopf drückte. Ein lautes Zischen ertönte und der Spalt, durch den Natalie eben noch geschlüpft war, schnappte blitzschnell zu, wie das Maul eines Ungeheuers, in dem sie nun gefangen war.

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André atmete erleichtert auf. Erschöpft sank er in den gepolsterten Lehnstuhl und löste die Verbindung zu Bastet. Er öffnete die Augen, starrte in die fragenden Gesichter der Versammelten und zuckte nur mit den Schultern. Dann nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Kelch, um wieder zu Kräften zu kommen.