3.

 

Gegen halb elf brach André zu seinem Termin auf. Natalie frühstückte noch in Ruhe zu Ende. In der Zeitung las sie einen Artikel über die Eröffnungsfeier. Die Kritiker lobten das moderne Design des Foyers über alle Maßen und sprachen der Agentur ‚Adam & Sommer’ ihre Gratulation aus. In einem Interview mit der Zeitung beteuerte Richard Kingston sogar, in Zukunft weitere Aufträge an ‚Adam & Sommer’ vergeben zu wollen. Gott bewahre. Aber wer konnte sich seine Kundschaft schon aussuchen.

Nach der zweiten Tasse Kräutertee und einem Marmeladenbrötchen legte Natalie das Besteck beiseite, streckte sich genüsslich und stand anschließend auf. Sie machte sich auf die Suche nach dem Badezimmer, das in seiner Ausstattung dem Rest der Wohnung in nichts nachstand. Edle Fliesen mit Goldrändern zierten Wände und Boden. Die Armaturen der beiden Waschbecken waren ebenso vergoldet wie die der Duschkabine und der nierenförmigen Badewanne mit Whirlpoolfunktion. Als Innenarchitektin hatte sie in New York mehrere solcher Badezimmer geplant, aber sie war noch nie in den Genuss gekommen, selbst ein Bad in einer so luxuriösen Umgebung zu nehmen. Immer wieder hatte sie entsprechende Offerten von ihren Auftraggebern bekommen. Jedoch waren die Besitzer solcher Penthäuser längst nicht so sympathisch und gutaussehend wie André Barov. Ein warmer Schauer lief durch ihre Venen, als sie an ihren Retter dachte. Wie es wohl sein würde, von seinen muskulösen Armen umschlossen in den perlenden Fluten zu versinken?

In einem beleuchteten Glasschrank fand Natalie die Sammlung von Phiolen und Fläschchen mit Badeölen, Shampoos und Kräutermischungen, die André ihr beschrieben hatte. Ganz offensichtlich gehörte er zu jener Sorte Mann, die sehr viel Wert auf Körperpflege legten und er schien obendrein ein wahrer Genießer zu sein. Natalie schloss die Badezimmertür ab. Auch wenn sie allein in der Wohnung war, verlieh ihr die verschlossene Tür ein zusätzliches Gefühl von Sicherheit. Es beruhigte ihr Gewissen ein wenig, als sie sich über Andrés Schatzschrank hermachte und sich ihre eigene Bademischung zusammen mischte. Das Gebräu goss sie schließlich in den Whirlpool.

Während die Wanne langsam voll lief, öffnete Natalie ihren Bademantel und streifte das weiche Frottee über ihre Schultern. Sie betrachtete ihren Körper in einem mannshohen Spiegel, der an einem vergoldeten Stehrahmen befestigt, in einer Ecke des Raumes stand. Die Abschürfungen an den Knien und Handgelenken waren weniger schlimm als die blauen Flecken an ihren Hüften, Pobacken und der große Bluterguss unter ihrer linken Brust. Ihr Gesicht war mit Ausnahme eines Kratzers unter dem rechten Auge und zweier rötlicher Erhebungen an ihrer Stirn, die aussahen, als wüchsen ihr Hörner, nahezu unverletzt. Wenn sie an die Heftigkeit der Schläge dachte, erschien es ihr wie ein Wunder, dass sie derart glimpflich davongekommen war.

Unterdessen war die Badewanne vollgelaufen. Der Wasserhahn stoppte automatisch und die Whirlpooldüsen nahmen die Arbeit auf. Das Wasser hatte sich durch die Bademischung orange gefärbt. Natalie sank in eine der Wannenvertiefungen, lehnte ihren Nacken an den gepolsterten Rand und schloss die Augen. Die aufsteigenden Wasserperlen massierten ihren Rücken und ihr Körper wurde von dem Gefühl tiefer Entspannung durchflutet.

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London, 21. April 2007

 

Im Schatten einer Eiche, deren weit ausladendes Geäst sich wie eine natürliche Markise über seinem Kopf erstreckte, suchte er Schutz vor den Sonnenstrahlen. Er trug eine Samthose und eine braune Tweedjacke. Auf seinem Kopf ruhte ein karierter Deerstalker-Hut und seine Augen wurden von einer übergroßen Sonnenbrille verhüllt, die schon seit mindestens vierzig Jahren aus der Mode war.

Mit verschränkten Armen lehnte er am Baumstamm und beobachtete die Menschen, wie sie die Gräber des Friedhofs pflegten. Er kannte sie fast alle. Manche kamen täglich, andere ließen sich ein ganzes Jahr nicht blicken und warfen nur zu den Feiertagen einen Blumenstrauß auf einen mit Unkraut überwucherten Erdhaufen, um ihr Gewissen zu beruhigen.

Er selbst kam jeden Tag hierher, manchmal auch nachts, wenn es die Zeit zuließ. Dann stand er oft Stunden an dem fein säuberlich gepflegten Grab neben der Eiche, die ebenso ihm gehörte wie der Zaun, der die Ruhestätte umgab und einen kleinen Garten bildete. Weder ein Kreuz noch ein Sterbedatum waren auf dem schwarzen Marmorblock zu finden. Stattdessen zierte nur ein Name, der in die spiegelglatte Oberfläche geschliffen und mit Goldfarbe bemalt war, den Grabstein: Mary Graham.

Wien, 21. April 2007

 

Erst als ihre Fingerkuppen schrumpelig wie eine getrocknete Dattel wurden, stieg Natalie aus der Wanne. Vorsichtig rubbelte sie ihren Körper und ihre Haare trocken. Anschließend zog sie den Bademantel über und kehrte zurück in das Gästezimmer. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, setzte sich aufs Bett und suchte Tinas Nummer aus dem Adressbuch.

Kurz darauf gähnte ein müdes: „Ja?“, in ihr Ohr „Ach du bist’s, Natalie.“

Es tat gut, Tinas Stimme zu hören. Der kratzige, verschlafene Ton wirkte vertraut und greifbar. „Du hast mich heute Morgen zweimal angerufen?“

„Ach ja, ich wollte nur wissen ob es dir gut geht“, meinte Tina und das leise Plätschern, das ihr Wasserbett bei jeder Bewegung von sich gab, klang wie ein Waldbächlein durch den Handylautsprecher.

„Mir geht es gut, danke.“ Natalies Finger strichen über die Bettdecke, während sie auf Tinas Antwort wartete.

„Hast du die Nachrichten im Radio gehört?“

„Nein.“ Wer brauchte schon ein Radio, bei einem Frühstück über den Dächern Wiens, begleitet von der Musik Haydns und Andrés Charme. Aber Tinas Frage machte Natalie hellhörig.

„Es gab eine Schlägerei, nur zwei Straßen von der Feier entfernt“, erzählte Tina.

„Und was sagen die im Radio darüber?“ André hatte kein Wort davon erwähnt, dass ganz Wien von dem Überfall sprach. Die Zeitung hatte auch noch nichts darüber geschrieben, was sie aber nicht weiter verwunderte, da der Überfall erst spät in der Nacht statt gefunden hatte.

„Nicht viel, aber die Polizei ermittelt. Da war überall Blut und es sollen laut Schätzungen mindestens zehn Personen darin verwickelt gewesen sein. Aber außer der Verwüstung und jeder Menge DNS haben die Bullen nichts gefunden. Die Schläger waren längst über alle Berge, als die Polizei eintraf. Ziemlich schräge Sache, findest du nicht?“ Sie schien keine Antwort zu erwarten, seufzte leise und sprach weiter. „Mann, hab ich einen Kater. Dieser billige Sekt, den Kingston da gekauft hat. Aber wenigstens bist du gut nach Hause gekommen.“

„Ich bin nicht zu Hause.“

Da waren keine zehn Schläger gewesen. Sie hatte nur die drei Punks und Andrés Schatten gesehen. Aber vielleicht war André nicht allein gewesen, daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Es brachte das Bild des strahlendes Retters ein wenig ins wanken, auch wenn sie André dadurch nicht weniger dankbar für seine Hilfe war.

„Bist du nicht?“

„Du wirst es kaum glauben“, sagte Natalie, „aber ich bin in André Barovs Penthaus.“

Ein Aufschrei erklang am anderen Ende der Leitung. „Wow, erzähl, wie ist er im Bett? Natalie, du Glückspilz. Moment mal. Du bist doch aber nach Hause gefahren!“

„Wir haben nicht miteinander geschlafen.“

„Ach nee, komm schon, das ist doch ein Scherz, oder? Sag, dass es ein Scherz ist.“

„Ich hab in seinem Gästezimmer geschlafen, nachdem …“ Natalie holte tief Luft. Ihr wurde flau im Magen, als sie an den Überfall dachte. Seit ihrem Gespräch mit André hatte sie die Gefühle verdrängt, doch nun spürte sie wieder, dass die vergangene Nacht nicht spurlos an ihr vorüber gegangen war.

„Was ist passiert?“ Tina klang plötzlich hellwach. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Die Schlägerei, von der du eben erzählt hast“, begann Natalie „Ich war dabei.“ Tina war sprachlos, also schilderte sie ihr alles, woran sie sich erinnern konnte. Jetzt wo sie daran dachte, sah Natalie alles noch einmal ganz klar vor Augen und fragte sich, warum André nicht sofort die Polizei gerufen hatte und die Behörden in Unkenntnis ließ. Er hatte sich beim Frühstück ziemlich verhalten gezeigt, war den Fragen mit Sarkasmus und Fürsorglichkeit ausgewichen, so als wollte er weder Natalie noch die Behörden in die Angelegenheit hineinziehen.

„Oh Shit“, entfuhr es Tina. „Und Barov hat dich gerettet?“

„Er hat mich in seine Wohnung gebracht.“ Natalie schluckte, wischte sich flüchtig über die Augen. „Nun bin ich allein hier. Er musste weg.“

„Du bist allein in seiner Wohnung?“

„Er meinte, ich soll mir das Penthaus ansehen, wegen eines angeblichen Auftrags.“

„Klingt doch nicht übel, oder?“

„Tja, keine Ahnung, aber renovierungsbedürftig sieht es hier nicht aus.“

Tina lachte.

„Warum lachst du?“

„Ach Natalie, du blindes Hühnchen. Der Mann hat ein Auge auf dich geworfen. Hast du deinen weiblichen Röntgenblick nicht aktiviert?“

„Meinen was? Ich fürchte, so was besitze ich nicht.“

„Na, die Wohnung. Wenn ich du wäre, würde ich mich umsehen, nach Spuren einer anderen Frau in Barovs Leben suchen, noch bevor du die Netze nach ihm auswirfst.“ Sie fauchte leise durchs Telefon.

„Ich kann hier doch nicht rumschnüffeln. Außerdem will ich die Netze gar nicht auswerfen.“ Was eine glatte Lüge war.

„Er hat doch selbst gesagt, du sollst dich umsehen. Vielleicht ist er ja auch schwul, wer weiß.“

„Glaub ich nicht“, entgegnete Natalie und wehrte sich innerlich gegen diesen Gedanken.

„Höre ich da eine leise Hoffnung, hm?“

Natalie ließ sich zurück in das Polster fallen. Sie wollte nicht daran denken, dass André auf Männer stehen könnte. Das passte nicht zu seinem imposanten Auftreten.

„Wie ist es mit diesem Ingo gelaufen?“, fragte sie, um irgendwie das Thema zu wechseln.

„Ach Ingo. Ja, den hat seine Frau abgeholt.“

„Du Arme.“

„War halb so schlimm. Nach Mitternacht hab ich Doris kennen gelernt.“

„Doris?“

„Sie ist Anwältin. Groß, schlank und spitz wie ein Kaninchen. Leider war sie heute Morgen über sich selbst schockiert und leugnet alles, was in der vergangenen Nacht zwischen uns passiert ist.“ Tina seufzte. „Was machst du nun, so alleine in der großen Wohnung?“

„Ich werde mich ein wenig umsehen, meinen weiblichen Röntgenblick aktivieren und ein paar Bilder mit dem Handy machen. Wenn ich zu Hause bin, melde ich mich wieder und erzähl dir alles.“

„Mach das. Also bis dann, mein Schatz.“

Natalie verabschiedete sich und warf das Handy aufs Bett. Sie streckte sich in den weichen, duftenden Kissen aus, schloss für einen Moment die Augen, um es zu genießen. Sie widerstand der Versuchung, noch etwas zu schlafen. Stattdessen stand sie auf und zog sich den Bademantel aus. Erst als sie ihre Kleider vom Stuhl nahm, bemerkte sie, dass es nicht jene waren, die sie am Vortag getragen hatte, sondern Neuware. Selbst an frische Unterwäsche in passender Größe hatte der Mann gedacht.