5.

 

Zitternd kauerte Natalie auf dem eisigen Boden. Sie schlang die Arme um ihren nackten Körper. Selbst jetzt konnte sie noch Death’ scharfe Krallen auf ihrer Haut spüren. Sie fühlte sich gedemütigt und beschmutzt. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und ließ dann ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Perserkatze, die nun zusammengerollt in einem Korb in der Ecke schlummerte, hatte sie in einen Panikraum geführt. Obwohl die Kammer beklemmend eng war, verliehen die mit verschweißtem Stahlblech verkleideten Wände das Gefühl von Sicherheit. Die Kammer wurde von schwachem, weißem Neonlicht erhellt, das alles noch kälter und steriler erscheinen ließ. Es gab nur einen einfachen Klapptisch mit einem Plastikstuhl davor, den Katzenkorb und eine Vitrine. Hinter deren gläsernen Türen standen mehrere Fläschchen mit dunkelroter Flüssigkeit. Zwei blecherne Spindtüren, die in eine Seite des Raumes eingearbeitet war, hätte sie beinahe übersehen. Sie hoffte, hinter den Türen auf das zu stoßen, was sie in diesem Panikraum vermisste. Ein Telefon, einen Computer oder Monitore. Nach kurzem Zögern stand Natalie vom Boden auf. Es steckte kein Schlüssel in dem winzigen Schloss, das kaum größer als der Umfang ihres kleinen Fingers war. Als Natalie jedoch den Daumennagel in den schmalen Schlitz zwischen den Blechen schob, bewegte sich eine Türseite einen Spalt breit und Natalie konnte den Schrank öffnen. Wie sie vermutet hatte, verfügte der Panikraum über eine Überwachungsanlage. Entgegen Natalies Hoffnung war in dem Schrank jedoch weder eine Sprechanlage, noch ein Telefon oder irgendeine andere Möglichkeit, um mit der Außenwelt zu kommunizieren. Es gab lediglich ein Dutzend Flachbildschirme, die von Kameras mit Bildern versorgt wurden. Ein Bild der Verwüstung zeichnete sich auf den Schirmen ab. Eingetretene Türen, zerbrochene Gläser, Lampen und Stühle. Einige der wertvollen Bücher aus Andrés Bibliothek lagen zerrissen und zertreten auf dem Boden verteilt und auch Gemälde waren dem Vandalismus zum Opfer gefallen.

Auf zwei Monitoren sah Natalie, wie Alexej, Jasper und Death jede Ecke der Wohnung durchsuchten. Ihren Gesten zufolge hatten sie keine Ahnung, wohin Natalie verschwunden war. Die Wut über ihr Verschwinden ließen sie an Andrés Einrichtung aus. Natalie musste mit ansehen, wie sie weitere Gemälde zerstörten und das edle Bösendorfer Klavier von einem Polsterstuhl der Sitzgruppe getroffen in sich zusammenbrach. Mit einem mittelalterlichen Streitkolben, der in einem Gang an der Wand gehangen hatte, drosch Death auf die Stereoanlage und das Plattenregal ein. Er fegte durch eine Reihe von CDs, die in einer Wolke aus Kunststoffsplittern zerbrachen. Auf einem weiteren Bildschirm entdeckte Natalie ihre Handtasche, die sie im Gästezimmer zurückgelassen hatte. Die Tasche und der Inhalt lagen unter dem Esszimmertisch verteilt und Natalie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die drei Schläger keine ihrer Visitenkarten fanden.

Allerdings schienen diese derart mit der Zerstörung des Penthauses beschäftigt zu sein, dass sie kaum Rücksicht auf Dinge nahmen, die bereits auf dem Boden lagen. Der Reihe nach beobachtete Natalie die Monitore. Zwei von ihnen waren auf das Wohnzimmer gerichtet, drei weitere blickten in die Korridore, das Treppenhaus und das Foyer. Auf einem Monitor erschienen nur schemenhafte Umrisse von Andrés Schlafgemach.

Ein eisiger Schauer kroch Natalies Rücken hinunter, als sie auf einem der Bildschirme die Tiefgarage sah. Von tiefem Entsetzen gepackt, starrte sie auf den leblosen Körper von Simona. Wie eine achtlos weggeworfene Puppe lag sie in der Lache ihres eigenen Blutes. Arme und Beine waren auf unnatürliche Weise verdreht. Das waren nicht einfach nur brutale Schläger, sondern kaltblütige Mörder, die vor nichts und niemanden zurückschreckten. Die lebenslustige Simona. Tot. Ihr wurde übel und sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Jetzt zusammenzubrechen würde nichts nützen. Sie dachte an Alexejs unmöglichen Sprung und an den Moment, als Death innerhalb eines Lidschlages das Wohnzimmer durchquert hatte. Irgendwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Vor ihrem inneren Auge sah sie erneut die scharfen, gebogenen Eckzähne. Sie zweifelte an ihrem Verstand, doch ihre Sinne hatten während der Verfolgungsjagd mit unglaublicher Schärfe gearbeitet. Etwas stimmte hier nicht.

Sie zog den Stuhl herbei, der ebenso wie der Klapptisch nicht so recht zur Einrichtung des Penthauses passen wollte. Für sie war dies aber auch ein Zeichen dafür, dass André nicht sehr viel Zeit in diesem Raum verbrachte und die Überwachungsanlage nicht missbrauchte, um ahnungslose Gäste zu beobachten. Die Kammer schien lediglich der Katze als ruhiges Versteck und als Lagerraum für pürierten Fruchtsaft zu dienen. Da sie Smoothies seit ihrer Kindheit hasste und die breiige Konsistenz Brechreiz bei ihr auslöste, müsste sie schon sehr lange hier eingesperrt sein müssen, bis sie es über sich brachte, davon zu trinken.

Ein Blick auf die Monitore verriet, dass die Kerle immer noch ihr Unwesen in der Wohnung trieben. Da nirgends ein Lautsprecher zu sehen war, konnte sie nicht hören, was sie sagten. Irgendwann würden sie hoffentlich verschwinden und wenn Natalie hier raus kam, dann musste sie die Polizei verständigen.

Der Schlägertrupp ließ sich jedoch gehörig Zeit. Sie befürchtete bereits, Death und seine beiden Kumpanen würden warten, bis André nach Hause kam. Nach einer gefühlten Ewigkeit schienen sie aber dann doch genug zu haben. Ihr Anführer blickte flüchtig auf seine neue Golduhr, die er aus einem von Andrés Schränken geklaut hatte, und bedeutete den beiden anderen, dass es Zeit war zu gehen. Natalie verfolgte, wie die drei über die Treppe ins Foyer liefen und den Lift nahmen. Mit Entsetzen sah sie, wie sich Alexej in der Tiefgarage über Simonas Leichnam hermachte. Er packte den leblosen Körper unter den Achseln, stellte die tote Frau auf die Beine und tanzte mit ihr.

Als sie dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, musste sie mit ansehen, wie Death und Alexej der toten Frau in den Nacken und in die Handgelenke bissen und mit blutverschmierten Mündern in die Kamera grinsten. Natalies Magen revoltierte. Sie wandte ihren Blick vom Bildschirm ab und kämpfte erneut gegen Brechreiz an.

Es verging noch eine Weile, in der Natalie frierend in ihrem Bunker saß und auf die Monitore starrte, unschlüssig darüber, ob sie nun in Sicherheit war, oder ob die Kerle nur darauf warteten, bis sie endlich aus ihrem Versteck gekrochen kam. Mit weichen Knien stand sie schließlich auf. Sie betätigte den roten Pilzknopf, ohne die Hand vom Schalter zu nehmen, sollte einer der Kerle vor der Tür warten. Doch da war niemand. Hinter dem Spalt zwischen den Bücherregalen, der sich erst auftat, als sich die Tür des Panikraums zur Seite schob, empfing Natalie nur eine verwüstete Wohnung. Sie kramte ihre verstreuten Habseligkeiten aus ihrer Handtasche zusammen und zog sich an.

Sie wusste, dass sie die Polizei rufen sollte. Doch Natalie wollte zu allererst weg von hier, diesen Ort hinter sich lassen. Sie dachte nur noch an ihr Zuhause, obwohl sie nicht wusste, ob ihre eigenen vier Wände noch sicher waren. Death hatte sie auf der Eröffnungsfeier gesehen. Wenn der Kerl nicht ganz bescheuert war, würde es das kleinste Problem darstellen herauszufinden, wo sie wohnte.

Als Zeugin dieses furchtbaren Mordes stellte sie für die Kerle eine Bedrohung dar. Anderseits hatten sich die drei aber auch keine Mühe gemacht, ihre Spuren zu verwischen. Jaspers Blut klebte im Badezimmer an der Wanne, Alexejs Hautreste am gemauerten Treppendurchgang und nachdem Death sich offenbar für einen Vampir hielt, war seine DNS in Form von Speichel an Simonas Nacken. Es würde für die Spurensicherung ein Leichtes sein, Beweise sicherzustellen. Natalie hielt sich an diesem beruhigenden Gedanken fest. Sie nahm den Lift und ein Blick auf die blutverschmierten Wände der verspiegelten Kabine ließ erneut Übelkeit in ihr hochsteigen. Dennoch zog sie die Liftkabine dem Treppenhaus vor. Das Tastenpult verfügte nur über eine einzige wählbare Etage. Dem Erdgeschoss. Alle weiteren Geschosse konnten nur mit einem passenden Schlüssel befahren werden.

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Am späten Nachmittag stieg André vom Motorrad, das er in der Tiefgarage geparkt hatte. Mit versteinerter Miene starrte er auf Simona. Der Anblick seiner toten Haushälterin erfüllte ihn mit Wut und Trauer. Er sank auf die Knie und schloss Simonas Augenlider. Als er ihre Haut berührte, setzte automatisch seine Clairvoyance ein und die Bilder von Simonas Ermordung tauchten in seinen Gedanken auf. Er riss seine Hand los. Seine Finger zitterten. Simona war ihm in den letzten Jahren ans Herz gewachsen und sie war einer der wenigen Menschen, denen er genug vertraut hatte, ihm seine wahre Existenz zu offenbaren.

Mit dem Lift fuhr er nach oben und stieg über die zertrümmerte Eingangstür hinweg. Er eilte die Treppe hinauf. Über den Korridor betrat er die verwüstete Bibliothek. Der Anblick der Zerstörung entfachte seinen Zorn von neuem. Doch es war nicht der materielle Verlust, der ihn berührte, vielmehr fühlte er sich in seinem Stolz verletzt.

Mit den Füßen schob er heruntergefallene Bücher zur Seite und durchquerte die Bibliothek. Die Tür zum Panikraum stand offen. Natalie hatte die Wohnung längst verlassen, aber der Raum duftete noch immer nach ihr. Er hatte befürchtet, dass Natalie nicht mehr hier sein würde, doch er musste sich selbst vergewissern, denn solange die Tür zum Panikraum geschlossen war, konnte er Natalies Anwesenheit nicht fühlen. Die Kammer war so gebaut, dass sie alles abschirmte. Er öffnete die Vitrine und nahm eines der Fläschchen aus dem beheizten Innenraum. Er schraubte die Kappe ab und trank den Inhalt in kleinen Schlucken. Als er sich umdrehte, hockte Bastet auf dem Klapptisch. Wortlos kraulte André der Katze hinter dem Ohr. Ihr leises Schnurren besänftigte das tobende Ungeheuer in ihm.

Mit Bastet auf dem Arm ging er ins Wohnzimmer. Auch hier hatten die Halbblüter gewütet. André setzte die Perserkatze auf der Couch ab, kramte sein Handy aus der Tasche und wählte Gerald Vermonts Nummer.

„Es gibt ein Sicherheitsproblem in meiner Wohnung“, sagte André knapp. Während der Versammlung hatte er den Vorfall verschwiegen. Niemand sollte von Natalies Anwesenheit erfahren.

„Ich bin auf dem Weg nach England“, antwortete Gerald. „Aber ich werde Euch jemanden von meinen Leuten schicken, der sich darum kümmert.“

André legte auf, trat an die Fensterfront und blickte über die Lichter der Stadt. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen ein schwarzes Ledertäschchen, das hinter einen Blumentopf gerutscht war. Er hob es auf. Es war eine Geldbörse, mit Edelsteinimitaten besetzt und mit den gestickten Initialen N.A. Natalies Portemonnaie. Er ließ die Börse in der Innentasche seines Sakkos verschwinden und schnaubte laut. Die Sache war nicht damit erledigt, einen von Geralds Leuten zu beauftragen, der die Leiche beseitigte und die Schlösser austauschte. Natalie lebte in einer anderen Welt. Einer Welt in der Simonas Tod ein kaltblütiger Mord war. Von dem Moment an, da er sie in den Panikraum geführt hatte, musste sie alles auf den Monitoren mitangesehen haben. Natürlich war Simonas Tod auch in seiner Welt ein Verbrechen, aber solche Dinge wurden auf andere Weise geregelt. Erneut wählte er Geralds Nummer.

„Wer ist unser Verbindungsmann bei der Wiener Kriminalpolizei?“

„Ich schicke Euch seine Nummer“, antwortete Gerald.