28.
London, 11. Juni 2007
„Nun lernen wir uns also endlich persönlich kennen“, sagte eine leise, aber kraftvolle Stimme.
Natalie kam behäbig zu sich, als sei ihr Geist auf den Boden eines tiefen Sees gesunken und tauche nur langsam wieder auf. Sie schlug die Augen auf und starrte in grelles Licht. Ihr Kopf schmerzte. Langsam formte sich hinter dem hellen Schleier eine Art Gefängniszelle. Kalte, graue Wände wie aus Pappmaschee, ein Bett aus Rohren, in der Ecke eine Toilette aus rostigem Blech. Das Licht kam von Neonröhren an der Decke und einem Halogenscheinwerfer, der wie das Licht eines herannahenden Zuges in ihr Gesicht fiel. Ihre Arme lagen auf Lehnen aus grobem Holz und waren mit Kabelbindern so fest an das Holz geschnürt, als wären sie ein Bestandteil des Möbelstücks. Ihren Kopf konnte sie bewegen. In einer Ecke des Raumes sah sie den Assassinen und sein Anblick war wie immer scheußlich.
„Du musst keine Angst vor ihm haben, er tut dir nichts. Zumindest jetzt noch nicht“, hörte Natalie die Stimme sagen.
Es dauerte einen Moment, bis sie den schmächtigen, alten Mann erblickte, der hinter dem Lichtschleier des Halogenscheinwerfers stand.
„Was wollen Sie von mir?“
„Von dir?“ Der Mann schüttelte den Kopf und seine Unterlippe drückte sich nach vorne, wie bei einem kleinen Kind, das schmollte. „Gar nichts. Du bist nur der Köder an der Angel. Der Wurm, mit dem ich den dicksten Fisch im Teich fangen will.“
„Ihr denkt also, André wird kommen, um mich zu befreien?“
„Du bist schlau, mein Kind.“
„Leider muss ich Sie da enttäuschen. Euer Vampirfürst schert sich einen Dreck um mich. Ich bin nur ein Mensch.“
„Er wird kommen, vertraut mir. Dann wird jeder Vampir sehen, dass André Barov sich einen Dreck um seine eigenen Gesetze schert. Und danach werden wir ihn töten.“
„Ich wünschte das würde er tun, aber Sie irren sich.“
Der Mann lachte. „An dir klebt noch sein Gestank. Ihr habt euch der fleischlichen Lust hingegeben“, bohrte der Mann nach. „Wisst Ihr welche Strafe André Barov für dieses Vergehen fordert? Wisst Ihr das?“ Die letzten Worte hatte er beinahe hysterisch geschrieen.
Natalie antwortete nicht.
„Den Tod, mein Kind, den Tod.“
„Das ist eine Lüge“, sagte Natalie.
Es war ein Impuls André zu verteidigen. Sie wusste nichts über diese Gesetze. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass André derart drakonische Strafen für den Akt der Liebe forderte.
„Ach.“ Der Mann starrte ihr tief in die Augen und sein Blick war noch kälter als die Augen des Assassinen. „Nein. So sehr ich es wünschte, aber ich lüge nicht. Dieser Heuchler fordert den Tod all jener, die sich an dem Leib eines Menschen vergnügen.“
„Dann sind Sie für das ganze Chaos verantwortlich?“
„Chaos? Ich nenne es Krieg. Meinen persönlichen Krieg für die Gerechtigkeit und gegen dieses Scheusal. Und du mein Kind, spielst die Rolle des Lockvogels. Schon von Anfang an. Ich habe dich ausgewählt, weil du jemandem sehr ähnlich siehst.“
„Alessandra.“
„Interessant. Er hat dir von ihr erzählt.“ Der Mann setzte sich auf einen Stuhl und verschränkte die Arme. „Ich beobachte dich schon lange, lenke deine Geschicke. Oder denkst du, ein Unternehmen wie WBS-Soft würde einem unerfahrenen Frauen-Duo Vertrauen schenken?“
„Ihr habt also die Ausschreibung manipuliert?“
„Es war purer Zufall oder vielleicht auch Schicksal. Meine Familie besitzt Anteile von WBS-Soft und als ich bei einer Versammlung die eingereichten Angebote durchblätterte, sah ich dein Gesicht in Eurem Prospekt“, erklärte er. „Ich hatte lange über einen Weg nachgedacht, mich an André Barov zu rächen. Von daher kannte ich seine Geschichte, sein nahezu perfektes Leben und ich erfuhr von Alessandra. Doch dieses Wissen allein genügte nicht. Also hoffte ich auf dich und deine Wirkung auf unseren über allem erhabenen Blutprinzen. Ich habe Kingston bestochen und den Rest kennst du.“
Die Worte des Mannes, der mehr dem freundlichen Großvater von nebenan glich als einem Rebellenführer, lösten Wut und Enttäuschung in ihr aus. Wie musste André sich die ganze Zeit über gefühlt haben? Natalie hatte ihn beinahe dafür gehasst, dass er Alessandra in ihr gesehen hatte. Doch in Wahrheit war André selbst nur eine Marionette in dem Spiel dieses verbitterten alten Mannes, dessen Seele ein gefühlloser Eisklumpen sein musste. Das Einzige, was Natalie dem Mann antworten konnte, war eine simple Frage.
„Warum?“
Es war ein einfaches Wort mit nur fünf Buchstaben, aber es löste mehr aus als alles andere, das Natalie bisher gesagt hatte. Der Mann zuckte unter dem Wort zusammen, für eine Sekunde trat eine schmerzerfüllte Miene in sein Gesicht und er hatte Mühe, seine wahren Gefühle wieder hinter der eisigen Fassade zu verbergen.
„Warum?“, wiederholte Natalie und sie betonte das Wort, dass es wie eine züngelnde Peitsche über dem Mann niederging.
„Weil er ein Heuchler ist, ein verdammter Heuchler.“ Er strich über sein Gesicht. Eines der Augenlider zuckte nervös und er wechselte einen Blick mit dem Assassinen.
„Was hat Ihnen André angetan, dass Sie ihn so sehr hassen?“
„Er hat mir etwas gestohlen“, sagte der alte Mann. „Meine Frau.“
„Ihre Frau?“
„Ich hatte einen Menschen geliebt und ich hatte den Rat um Erlaubnis zur Metamorphose gebeten“, erzählte er mit verbitterter Stimme. „André Barov verwehrte mir diese Bitte, weil ich gegen ein einziges, verdammtes Gesetz verstoßen hatte. Ich hatte Mary bereits geheiratet und lebte mit ihr zusammen.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen, schnaubte und als er wieder hochsah glühten seine Augen vor Zorn. „Doch er verwehrte mir diese Bitte nicht nur des Gesetzes wegen, sondern weil ich ein Halbblüter bin, entstanden durch die ungewollte Metamorphose meines Vampirvaters, der sich einst meiner annahm und dafür sorgte, dass ich ein Mitglied des niederen Grey-Clans wurde.“
Obwohl dieser Mann jegliche Sympathie verspielt hatte, fühlte Natalie Mitleid mit ihm. Sie konnte seine Wut und seine Verbitterung zumindest nachvollziehen.
„Und deshalb müssen alle dafür büßen? Deshalb lösen Sie einen Krieg aus?“, entgegnete sie schließlich.
„Du dummes Kind“, fluchte er. „Verstehst du mich nicht? André Barov ist ein Monster, getrieben von seinem Gesetzeswahn und seinem Hass den Halbblütern gegenüber. Er hat mir Mary gestohlen, weil er mir die Metamorphose verwehrte. Verstehst du das? Ich habe sie geliebt und ja, dafür sollen alle büßen.“ Er sprang auf, schleuderte den Stuhl gegen eine Wand. „Mary starb, als wir die Metamorphose ohne die Zustimmung des Rats durchführten“, schrie er und sein faltiges Gesicht färbte sich rot.
„Und Sie sind ein Monster von Hass und falschem Stolz getrieben“, entgegnete Natalie.
Der alte Mann antwortete ihr mit einer Ohrfeige, die ihren Kopf zur Seite fliegen ließ.
Nachdem die Maschine auf dem Londoner Flughafen gelandet war, hatte André keinen Moment gezögert. Auf einem Motorrad raste er vom Flughafen in die Innenstadt Londons. Zu Fuß machte er sich schließlich auf den Weg zur nächstgelegenen U-Bahnhaltestelle. Gerald hatte ihm von einem unterirdischen Bunker unter dem Haus des Grey-Clans und geheimen Zugängen über die Kanalisation und dem Tunnelsystem der Londoner U-Bahn berichtet. An wartenden Fahrgästen vorbei lief er bis zum Ende des Bahnsteigs und übersprang die Absperrung, hinein in die Dunkelheit des U-Bahntunnels. Andrés Augen veränderten sich in der Finsternis wie die Pupillen einer Katze. Der dunkle Schleier fiel, verwandelte sich in ein fahles Licht, in dem sich der Tunnel in matten Farben abbildete. Er achtete nicht darauf, ob ihn jemand beobachtete. Schnell lief er den schmalen Vorsprung entlang, presste seinen Körper flach gegen die Wand, wenn ein Triebwagen an ihm vorbei donnerte und folgte dem Weg, den Gerald ihm beschrieben hatte. Die ganze Zeit zerbrach er sich den Kopf, was er Natalie sagen sollte. Zu oft hatte er sie enttäuscht, vertrieben, und war immer wieder zu ihr zurückgekehrt, um jener Verbindung zu folgen, die seine Seele an die ihre band. Er liebte sie, daran zweifelte er längst nicht mehr. Aber es war nicht nur Liebe, sondern auch ihre Nähe, ihr Duft, der Klang ihrer Stimme, die Art wie sie sein inneres Biest beruhigte. Er sehnte sich nach ihren weichen Haaren, die wie flüssiges Feuer durch seine Finger flossen, er liebte den Geschmack ihrer Lippen, ihrer Haut und ihrer Brüste. Zu alldem komplettierte sie ihn, war das letzte Puzzelteil in seinem Leben, das ihn vollendete, die Leere füllte, die ihn seit Jahrzehnten quälte. Doch wie sollte er mit dieser Liebe umgehen, wenn sie gegen die Gesetze seiner Welt verstieß? Gesetze, die er selbst geschrieben hatte, und für deren Vergehen er selbst die Todesstrafe gefordert hatte. Wenn das keine Ironie des Schicksals war! Aber wie konnte er eine Verbindung verurteilen, die so unglaublich stark war, dass er Natalies Schmerzen über Kilometer hinweg fühlen konnte?
Er kletterte eine Stahlsprossenleiter hinauf, die zu einem engen Gang führte, an dessen Ende er eine schwere Eisentür fand. Diese stand einen Spalt offen. Licht fiel durch den Schlitz, zeichnete eine schmale Lichtlinie auf den Boden. Er hörte Stimmen und eine davon gehörte Natalie. Er konnte ihre Wut fühlen und er bewunderte sie einmal mehr für ihren Mut und ihren starken Geist.
Er hoffte, dass es Gerald gelungen war das Haus abzuschotten, damit keine Informationen nach außen drangen. Hinter der Tür lag ein System aus schmalen Gängen und Stahltüren. Dem Schall der Stimmen folgend, schlich er bis zu einem der stählernen Zugänge. Ohne zu zögern riss er die Tür auf, starrte in einen von grellem Licht erhellten Raum. In der Mitte saß Natalie auf einem Stuhl, mit Plastikbändern gefesselt.
„Ah! Unser Gast ist wie erwartet eingetroffen“, frohlockte der alte Mann, der neben Natalies Stuhl stand.
„Zacharias?“ André musterte die kümmerliche Gestalt.
„Der bin ich, mein Blutprinz.“ Das faltige Gesicht des Mannes formte ein breites Grinsen und er verneigte sich. „Ich wusste, dass Ihr kommt, um Eure Prinzessin zu befreien. Aber ich habe vorgesorgt.“ Er breitete die Arme aus, deutete auf das Licht und zwei Kameras an der Decke. „Jeder soll sehen, wie Ihr sie rettet.“
„Schweigt“, rief André. „Ihr habt unser Volk in einen Krieg gestürzt.“
„Wir haben lange genug geschwiegen. Die Zeit des Schweigens ist vorbei.“
„Aber seht Ihr nicht, was Ihr anrichtet?“
André hatte einen jungen Heißsporn erwartet, einen Halbblüter ohne Vorstellungen, wie das Leben vor der Gründung des Rats ausgesehen hatte. Stattdessen stand er einem Greis gegenüber, aus dessen Augen die Erfahrung eines langen Lebens strahlte.
„Wir? Ihr seid es doch, der Halbblüter verurteilt und sich im gleichen Atemzug eine Menschenhure nimmt.“
Etwas in seinem Kopf machte Klick. Sein Blickfeld färbte sich rot und er schleuderte Zacharias quer durch den Raum. Mit der nächsten Bewegung zerriss er Natalies Fesseln. Sein Mund pochte und die Fänge schoben sich weit aus dem Kiefer.
„Eine Falle“, flüsterte sie ihm zu.
„Ich weiß “, antwortete er und wandte sich wieder Zacharias zu.
Dabei sah er den schwarzen Lumpenberg, der in einer Ecke des Raumes mit dem Schatten verschmolzen war.
Zu spät. Der Assassine nutzte Andrés Unachtsamkeit. Wie die Klingen von zehn Dolchen fuhren die Klauen nieder und schnitten durch Andrés Fleisch. Schmerz zuckte durch seinen Körper. Das Sakko und die Hose hingen auf der rechten Seite in Fetzen, Blut quoll aus den tiefen Schnittwunden.
Jedoch hatte der Assassine damit seinen eigenen Überraschungsmoment verwirkt. Sein zweiter Angriff verfehlte sein Ziel. Mit einem Tritt beförderte André den Bastard quer durch den Raum. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Tür und Natalie verstand.
Seine Aufmerksamkeit schenkte er nun Zacharias, doch wieder war es der Assassine, der André daran hinderte, dem alten Halbblüter zu nahe zu kommen. Wie ein Wachhund warf sich der Bastard dazwischen. Ein Schlag traf André an der rechten Schulter, ein weiterer in den Magen. Die scharfen Klauen bohrten sich tief in seine Eingeweide. Im Augenwinkel sah er, wie Zacharias plötzlich einen Dolch in den Händen hielt und zustechen wollte, doch André konnte ausweichen. Er packte ihn am Arm und die Knochen des alten Mannes brachen. Mit Schwung schleuderte er Zacharias gegen das Gestänge, auf dem ein Halogenscheinwerfer hing. Die Konstruktion begrub Zacharias unter Eisenrohren. Der Halbblüter kroch zur Tür.
André wich zwei weiteren Prankenhieben des Assassinen aus, schlug die Bestie zu Boden. Die Wunden schwächten André, ihm blieb keine Zeit, sich der Verletzungen anzunehmen. Der Assassine gab nicht auf. Er stürzte sich André entgegen und dieses Mal war André zu langsam, um den surrenden Schlägen zu entkommen. Er stolperte über den Stuhl, auf dem Natalie gesessen hatte und das Holz zerbrach unter der Wucht des Aufpralls. Die Bestie setzte sofort nach. Wie eine Fledermaus mit ausgebreiteten Flügeln stürzte sie sich André entgegen, schlug auf ihn ein. Das Bild verschwamm und verzerrte sich. André trat nach dem Assassinen, gab alles, doch die Pranken der Bestie hackten auf ihn ein.
Plötzlich hielt die Bestie inne. Blut spritzte und eine Dolchspitze bohrte sich durch die Brust des Ungeheuers. Der Assassine taumelte, griff mit seinen Pranken an die Brust. Hinter ihm stand Natalie. Sie zog den Dolch aus der Wunde und stach unter Gebrüll wieder und wieder auf den Assassinen ein. Es dauerte einen Moment, bis der Assassine reagierte. Dann zuckte er nur kurz. André sah, wie eine zur Faust geballte Pranke blitzschnell herumfuhr. Natalie schrie und wurde durch die Wucht des Hiebes nach hinten geschleudert. Auf den Trümmern des Scheinwerfers blieb sie liegen.
André raffte seine letzten Kräfte zusammen, bohrte sich in den Geist des Wesens und ließ all seinen Zorn und Hass in den Assassinen strömen. Die Kapuze kippte nach hinten und in der Fratze des Ungeheuers lag eine ungläubige Miene. Blut quoll aus Nase und Ohren und der Raum wurde von einem markerschütternden Schrei erfüllt, als André dem Assassinen den Todesstoß verpasste und ihm sein schwarzes Herz aus der Brust riss.
Benommen richtete sich Natalie auf. Der heftige Schlag des Assassinen hatte ihr Schnitte am Unterarm zugefügt, die wie Feuer brannten. Doch weder hatte sie sich etwas gebrochen, noch war sie schwer verletzt.
Die Bestie ging zu Boden und hauchte zuckend wie ein Aal ihr Leben aus. In Andrés Hand lag etwas das aussah wie eine schwarze Mango, die sich zusammenzog, wieder entspannte und dabei Blut spuckte. Der Gestank war bestialisch. Erst auf den zweiten Blick erkannte Natalie es als das Herz des Assassinen. Doch ihr blieb keine Zeit dem Ekelgefühl nachzugeben. Sie sah Zacharias, der eine Pistole in den Händen hielt.
„Pass auf“, rief sie André zu.
Doch André reagierte nicht. Er war zu schwach. Er hatte Dutzende Wunden davongetragen. Wunden, die einen Menschen längst das Leben gekostet hätten.
Ein lautes Donnern brach los, zwei, drei viermal feuerte Zacharias auf André, der wie in Zeitlupe nach hinten kippte. Natalie sah den Dolch vor sich am Boden liegen und überlegte nicht lange. Sie griff nach der Klinge und schleuderte die Waffe in Zacharias Richtung. Der alte Vampir keuchte, wich zurück und zog den Dolch aus seinem Hals. Die Pistole fiel ihm aus der Hand, dann wandte er sich um und wankte aus dem Raum.
„Oh Gott, nein, bitte nein“, flehte sie und sank auf die Knie vor André, der seine Hand bewegte, als sie ihn berührte. „Sag etwas, bitte.“
Seine Antwort war ein leises Murmeln und sein Herzschlag wurde schwächer. Sie musste ihm helfen. Aber wie? Sie schaute auf die Schnittwunde an ihrem Unterarm. Der Schnitt war nicht tief, aber er blutete. Sie hielt die Wunde an seinen Mund, benetzte seine Lippen mit dem roten Lebenssaft. André stöhnte, dann spürte sie seine Zunge über die Wunde gleiten. Zaghaft begann er zu saugen. Ein Knurren dröhnte aus seinem Brustkorb und er öffnete die Augen. Wie im Zeitraffer heilten die schlimmsten Wunden.
André löste seine Lippen von ihrem Unterarm „Verdammt“, fauchte er. „Er hat dich getroffen. Ich dachte du bist tot.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es war nicht so schlimm. Aber wir müssen Zacharias hinterher.“
„Das Haus wird bewacht. Auch wenn er entkommen sollte, wir finden ihn.“ Mit ihrer Hilfe stand er auf. „Natalie, ich … was ich zu dir gesagt habe, tut mir leid.“
Natalie sah, wie er um jedes Wort rang. Sie hoffte er sprach nicht nur im Adrenalin-Rausch.
„Ich verzeihe dir, wenn du mir versprichst, dass wir endlich eine gemeinsame Entscheidung treffen.“
„Lass uns von hier verschwinden. Ich besitze eine Villa außerhalb Londons, dort können wir in Ruhe über alles reden. Aber dieses Haus hier widert mich an.“
Anstatt durch den Haupteingang verließen sie den Keller über eine Stahlleiter und folgten einem U-Bahn-Tunnel bis zu einer kleinen Haltestelle. Die Fahrgäste musterten sie mit fragenden Blicken, als sie über die Absperrung auf den Bahnsteig kletterten. Auf dem Parkplatz vor der Haltestelle wartete ein Motorrad, mit dem André sie aus der Stadt brachte. Obwohl er mit halsbrecherischem Tempo die Straßen entlang jagte und keine Helme zu der nächtlichen Spritztour mitgebracht hatte, vertraute sie seinen übermenschlichen Instinkten. Sie schlang die Hände um seine Brust und schmiegte sich an seinen Rücken. Sie atmete seinen Duft ein, fühlte die Härte seiner angespannten Muskeln, während die Lichter der Umgebung zu einem endlosen Band aus bunten Linien verschmolzen.
Die Villa war ein kleines Schloss im viktorianischen Stil, erbaut aus roten Ziegelwänden, umgeben von einer hohen Mauer, die einen verwachsenen Garten in sich barg.
„Ich komm nur sehr selten her“, erklärte André und führte sie ins Haus.
Stille empfing sie. Die Möbel waren von weißen Laken verhüllt und sämtliche Fenster waren mit schweren Vorhängen abgedunkelt.
„Ich finde es traumhaft.“
Er schenkte ihr ein Lächeln, strich mit den Fingern durch ihr Haar und küsste sie auf die Stirn. Natalie genoss die Zärtlichkeit seiner Berührung, doch sie konnte auch spüren, wie erschöpft und müde er war. Die Energie, die er durch ihr Blut erhalten hatte, schien aufgebraucht zu sein und sie dachte daran, ob er vielleicht noch mehr brauchte.
„Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf, als hätte sie die Worte laut ausgesprochen. „Ein heißes Bad und etwas Ruhe ist alles was ich brauche.“
Kurz darauf versanken sie gemeinsam in einer geräumigen Badewanne, gefüllt mit nach Kräutern duftendem Wasser und weißem Schaum.
„Lehn dich zurück“, forderte sie auf, und er folgte ihrem Wunsch.
Sie griff nach dem Badeschwamm, tauchte ihn ins Wasser und begann, seine Wunden mit sanften Strichen zu waschen. Dabei erzählte sie André von Zacharias Motiv und dessen Anschuldigung. Nachdenklich rieb er sein Kinn und nickte.
„Ich erinnere mich an einen Fall dieser Art. Aber der Mann, der den Rat um Hilfe bat, hieß James Graham.“
„Ist es also wahr? Du hast dem Mann den Wunsch verwehrt?“
„Er hat gegen das Gesetz verstoßen.“
„So wie du.“
André sog die Luft ein. „Ja, so wie ich.“ Seine dunklen Augen blickten durch Natalie hindurch. „Ich habe in einigen Dingen Fehler begangen, doch mein Motiv war stets das Wohl meines Volkes. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich als Ratsmitglied zurücktrete.“
„Denkst du, das hilft uns weiter?“
Er antwortete erst nach einer endlosen Minute. „Seit ich dir begegnet bin, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.“
Natalie konnte seine Verzweiflung sehen, seine innere Zerrissenheit, wie er wankte, zwischen den Gesetzen und seinen Gefühlen, die alles, an das er bisher geglaubt und wofür er gearbeitet hatte, erschütterten. Äußerlich war er immer noch der athletische Mann, elegant und mächtig. Doch sein Inneres war ein zerklüfteter Canyon, voller tiefer Abgründe. Wie lange konnte sie ihn so leiden sehen? Es lag nun an ihr eine Entscheidung zu treffen und auch wenn sie schreckliche Angst davor hatte dieses unbekannte neue Leben zu betreten. Aber es war der einzige Weg zum Glück.
„Was geschieht bei der Metamorphose?“ Sein Blick gefror bei diesen Worten. „Wenn es die einzige Möglichkeit ist, dann möchte ich diesen Weg gehen.“
Er schüttelte bedächtig seinen Kopf. „Ich kann nicht“, sagte er. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn du sterben würdest.“
„Was genau geschieht dabei?“
„Es ist ein Ritual, bei dem ein Teil von mir in dich übergeht und deinen Körper verändert. Doch diese Veränderung …“
Natalie sah, wie er mit sich kämpfte. Was war in seiner Vergangenheit geschehen, das ihn so sehr betrübte? In diesem Augenblick fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und sie wusste was geschehen war. Er hatte es ihr die ganze Zeit zu sagen versucht, doch sie wollte es einfach nicht verstehen, aus verletztem Stolz.
„Alessandra ist bei diesem Ritual gestorben, nicht wahr?“
Er nickte. „Während sich die DNS des menschlichen Körpers verändert, kämpft der Organismus dagegen an und kurz bevor die Verwandlung abgeschlossen ist, hört das Herz für einen Moment auf zu schlagen. Alessandra war nicht stark genug. Ihr Wille zu einer Vampirin zu werden entsprang ihrer Liebe zu mir, doch ihr Körper hatte nicht die Kraft, die Verwandlung zu überleben. Ihr Herz …“
„Hörte für immer auf zu schlagen“, beendete Natalie den Satz.
Sie legte den Schwamm beiseite, nahm sein Gesicht in beide Hände und versuchte, den Schmerz über den Verlust der anderen Frau wegzuküssen. Eigentlich hätten sie Andrés Erklärungen noch mehr beängstigen müssen. Doch sie bestärkten sie in ihrem Entschluss, diesen Weg zu gehen.
„Ich möchte es dennoch und ich denke, dass meine Gefühle und mein Wille stark genug sind.“
„Ich zweifle nicht an deiner Stärke und deinem Willen.“
„Manchmal muss man seiner größten Angst gegenübertreten.“
Ihre Lippen wanderten zu seinem Hals. Sie fühlte seinen Pulsschlag, der mit jeder ihrer Berührungen schneller wurde.
„Ich fürchte mich nicht vor dem Ritual, sondern nur davor, dich zu verlieren. Okay, der Gedanke Blut zu trinken ist auch nicht wirklich prickelnd.“
Ihre Finger wanderten weiter über seine Brust, berührten die nasse, warme Haut, die lebendiger war, als in jeder Legende über Vampire. André mochte ein geheimnisvolles Wesen sein, aber er war kein seelenloser Untoter.
„Ich brauche dich so sehr, wie du mich brauchst und ich sehne mich danach, an deiner Seite zu leben. Doch ich will meine Liebe nicht verstecken und ich möchte nicht unerwünscht sein, unter den deinen. Ich wähle die Metamorphose.“
Natalie liebkoste seinen Hals, lauschte seinem leisen Aufseufzen und spürte, wie sich seine Männlichkeit ihre Schenkel entlang streichend zu voller Größe erhob. Er wandte seinen Kopf in ihre Richtung, wollte sie küssen, doch sie wich dem Kuss aus.
„Nicht so schnell, großer, mächtiger Blutprinz. Es verstößt gegen deine Gesetze mich zu küssen“, sagte sie. „Und du wirst meine Lippen erst wieder schmecken, wenn du dich entschieden hast.“
Damit ließ sie von ihm ab. Es kostete sie Überwindungskraft, der eigenen Erregung zu widerstehen. Natalie bemerkte Andrés verlangenden Blick und sah, wie sich seine Fänge weit aus dem Oberkiefer schoben. Dennoch lehnte sie sich André gegenüber an den Wannenrand und griff erneut nach dem Schwamm.
Wie sehr würde sich ihr Leben an der Seite eines Vampirs verändern? Ein kleiner Teil in ihr schien alles noch immer für einen ziemlich realistischen Traum zu halten, doch vielleicht war das ganze Leben nur eine Art Traum.
„Ich kann ohne dich nicht mehr sein“, sagte André. „Dieses unsichtbare Band ist etwas, dem ich nicht widerstehen kann. Das Schicksal hat uns füreinander bestimmt und wenn die Metamorphose der einzige Weg ist, dann soll es so sein.“
Nachdenklich betrachtete er Natalie. Dann sah er aus, als lausche er einer Stimme, die nur er hören konnte.
„Was ist?“
André schloss die Augen. „Es ist Gerald. Er spricht mit mir.“
„Ah, das Telepathie-Ding. Praktisch, ihr braucht euch um Handykosten keine Sorgen zu machen.“
André lächelte. „Zacharias ist entkommen, aber sie suchen ihn. Sie werden ihn erwischen.“
„Gut“, antwortete sie. Andrés Blick folgte ihren Bewegungen mit dem Schwamm auf ihrem Körper.
„Meinst du das mit dem ‚keinen Sex mehr’ ernst?“, fragte er.
Sie grinste. „Strafe muss sein. Ich will nicht, dass du dich noch weiter ins Unglück stürzt.“
André seufzte und rutschte mit dem Kopf unter Wasser.