29.
André überredete Tina, Natalie ein paar Tage freizugeben. Gemeinsam verbrachten sie die Tage in England, nutzten die Zeit, um im Garten und den Gemächern der Villa auszuspannen und sich London anzusehen. André nutzte jede Möglichkeit, Natalie auf das bevorstehende Ritual vorzubereiten, den Mythos Vampir aus ihrem Kopf zu vertreiben und durch Fakten zu ersetzen. Nach fünf Tagen Erholung fuhren sie mit dem Motorrad zum Londoner Flughafen und betraten eine Privatmaschine des Typs Cessna, die sie quer durch Europa nach Bratislava flog, wo das Ritual stattfinden sollte. Mit einem Gefühl der Vorfreude und Angst blickte Natalie dem großen Ereignis entgegen. André hatte sie darauf vorbereitet und dennoch folgte sie einem Weg ins Ungewisse, in ein Leben, das sie sich noch vor ein paar Monaten nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatte.
Welches kleine Mädchen träumte nicht davon, eines Tages von einem Prinzen auf weißen Pferd und in strahlender Rüstung abgeholt zu werden? Auch wenn André kein Mensch, sondern ein geheimnisvolles Wesen der Nacht, war er dennoch ein Prinz.
Die Maschine erreichte die Slowakei am frühen Abend. In einer Limousine fuhren sie vom Flughafen in die Innenstadt, vorbei an den historischen Gebäuden und Palästen, die in den letzten Sonnenstrahlen schimmerten.
Natalie hatte erwartet, dass André sie zum Schloss bringen würde, doch stattdessen parkten sie den Wagen in einer Tiefgarage. Sie folgte André durch einen langen Tunnel, der zu einer Blechtür führte, auf der in rostroten Buchstaben Betreten verboten stand.
André schloss die Tür auf. Der Tunnel war gemauert und wesentlich älter als die Tiefgarage. Die Luft roch abgestanden, aber auch nach Kerzenrauch.
„Wir haben das alte Gewölbe lange nicht mehr betreten“, sagte André. „Gerald hat alles vorbereitet. Du wirst ihn bald kennen lernen. Er ist ein enger Freund der Familie.“
Der unterirdische Korridor mündete in ein rundes, von Kerzenschein erhelltes Gewölbe, das von einer angenehmen Wärme erfüllt wurde. Die Farbe der ehemals bunten Bodenmosaiken und der handgeknüpften Wandteppiche war verblasst.
In der Mitte des Raumes warteten fünf Männer und zwei Frauen, die sich um ein seltsames Möbelstück gesellten. Es war eine Art Liege, aus ebenso in die Jahre gekommenem Holz, das mit rissiger, schwarzer Lederpolsterung überzogen war. An der Stelle, wo die Unterarme liegen sollten, wurde die Polsterung und ein Teil des Holzes von einer leicht abfallenden Marmorrinne ersetzt, an dessen Ende zwei fingerdicke Löcher durch den Stein führten.
Die Liege wirkte so vertrauenerweckend wie der Stuhl eines Gynäkologen. Die misstrauischen Blicke der umstehenden bestärkten Natalie auch nicht gerade in ihrer Entscheidung.
Besonders die beiden Frauen, die André als Lucia Luego und Alyssa Blackrose vorstellte, beschossen Natalie mit imaginären Giftpfeilen. Nur einer der Anwesenden empfing sie mit einem versöhnlichen Lächeln. Gerald Vermont.
Verlegen blickte Natalie in die schweigende Runde. Bis auf Alyssa Blackrose, deren Outfit an die New Yorker Gothic-Szene erinnerte, machte keiner der Anwesenden den Eindruck, ein Vampir zu sein und unterschied sich nicht wesentlich von den Menschen, die Natalie täglich traf. Selbst Alyssa Blackrose passte in das Bild der heutigen Großstädte.
„Ihr habt Natalie Adam von der Zeremonie berichtet?“, fragte Gerald an André gewandt.
Natalie fand die altmodische Anrede amüsant.
„Soweit es die Zeit zuließ“, antwortete André. Natalie war überrascht über seine ebenfalls veraltete Art mit den Vampiren zu sprechen. André griff nach ihrer Hand, und führte sie zur Liege.
Natalies Herz begann schneller zu schlagen. Auf Andrés Zeichen legte sie sich auf das Leder, berührte den kalten Marmor und atmete tief durch. Von Unsicherheit erfüllt schaute sie in die Gesichter der Versammelten, die einen Ring um die Liege bildeten. Die beiden Frauen traten aus dem Kreis. Sie trugen Tonkrüge, die sie unter die Öffnungen der Marmorrinnen stellten und sie übergaben André, der am Kopfende der Liege stand, einen goldenen Kelch und einen Dolch.
„Hast du Angst?“, fragte er sie.
Natalie nickte verhalten.
André strich über ihre Stirn. „Bist du dir wirklich sicher?“
„Ich habe mich entschieden“, sagte sie mit entschlossener Stimme.
Sie fühlte ein Brennen, als Gerald jeweils eine Nadel in die Venen ihrer Handgelenke schob. Natalie presste den Kopf in die Polsterung, spürte das Blut und ein kaltes Kribbeln, wie von Tausenden Spinnenbeinchen, die über die Arme krochen.
Andrés Miene war hart und konzentriert. Er beobachtete jede Bewegung, jeden Atemzug und Wimpernschlag. Als schmales Rinnsal floss ihr Blut über die Marmorrinne, tiefrot wie französischer Wein.
Die Tongefäße füllten sich langsam. André wechselte einen Blick mit Gerald und reichte ihm den Kelch. André bückte sich und übergab Gerald das goldene Gefäß. Der Aderlass machte sie müde, als ströme mit dem Blut auch das Leben aus ihren Venen. Höchstwahrscheinlich war dem auch so. Ein Anflug von Panik schwappte über sie. Sie versuchte, ruhiger zu atmen. Ein nebelartiger Schleier ließ ihren Blick verschwimmen. Sie hörte Meeresrauschen und die verzerrten Stimmen eines Chors, der ein monotones Lied anstimmte. Der Klang zog Natalie in den Bann, wie die Stimme eines Hypnotiseurs.
Sie hatte die Augen geschlossen, hörte nur noch das Rauschen. Ihr Körper war schwerelos und ihr Geist schwebte auf einer Ebene zwischen Leben und Tod.
Jemand berührte ihren Mund, öffnete ihre Lippen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, ihr Körper hatte nicht mehr die Kraft sich zu wehren. Etwas Warmes, Salziges floss in ihren Mund, weich und dickflüssig wie Fruchtsaft. Sie schluckte und spürte, wie die Flüssigkeit die Kehle hinunter lief. Ein Brennen begann in ihrem Bauch zu wüten und sich über die Adern im ganzen Körper auszubreiten. Sie rang nach Atem, der brennende Schmerz kroch über ihren Hals, lähmte ihr Gesicht und explodierte in ihren Schläfen.
Eine unsichtbare Hand wollte sie aus ihrem Körper reißen. Hitze und Kälte schwappten über sie hinweg, während die Anspannung in ihr wuchs und jeder Muskel bis zum Zerplatzen angespannt war.
Ihr Herz machte noch zwei, drei Schläge, dann blieb es plötzlich stehen. Die Anspannung fiel von ihr ab und es war eine seltsame Empfindung in einem klinisch toten Körper gefangen zu sein. Der Moment erstreckte sich endlos und Natalies Geist stürzte schließlich in einen Strudel aus schwarzem Nichts.
Der schwarze Strudel zog Natalie weiter in die Tiefe. Sie fiel durch eine Decke aus Nebel und plötzlich lag sie auf dem Boden ihres Kinderzimmers, umgeben von Wänden in hellen Pastellfarben, warmen Sonnenstrahlen, die durch die penibel geputzten Scheiben auf den weichen Teppichboden fielen.
Über den Boden verteilt lagen Kartonbögen, Stifte, Stoffreste, Lineale und Schuhschachteln, die Natalie in ihrer Kindheit immer benutzt hatte, um sie zu kleinen Wohnungen umzubauen.
Verwirrt hob Natalie den Kopf und blickte sich um. Sie konnte die Faser des Teppichs spüren, den glatten Holzrahmen des Bettes und den kantigen Griff der Buntstifte.
Sie setzte sich auf, betrachtete ihre Hände und ihren Körper, der geschrumpft war. Im Spiegel des Kleiderschrankes blickte sie in das Gesicht eines kleinen Mädchens, dem einige Zähne im Mund fehlten. Ihre Haare waren zu Zöpfen gebunden und ihre Nase war voller Sommersprossen. Natalie stand auf, strich über ihren Pullover, auf dem Minimaus abgebildet war, und über die Jeans. Zwar hatte Natalie schon oft von ihrer Kindheit geträumt, doch noch nie war ihr ein Traum so wirklich erschienen und sie überlegte, ob sie die Verwandlung vielleicht nicht überlebt hatte und das hier das Jenseits war.
Natalie stieg über Stifte und die winzigen, handgefertigten Kartonmöbel zum Schrank. Ihre Finger berührten das kalte Glas. Sie schnitt Grimassen, so wie sie es als Kind immer getan hatte, schob die Zunge durch ihre Zahnlücken und spürte die Spitzen scharfer Eckzähne, an die sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, sie in ihrer Kindheit besessen zu haben. Sie öffnete den Mund wie ein brüllender Löwe und betrachtete die zierlichen Fänge.
War es doch nur ein Traum?
Von Neugierde gepackt trat sie an die Balkontür. Sie schaute durch die Glasscheibe hinunter in den bepflegten Garten des Münchner Vorstadthauses, das sie nach dem Tod ihrer Eltern verkauft hatte. Der gemähte Rasen leuchtete saftig grün und in den zahlreichen Blumenbeeten wuchs eine bunte Blumenpracht.
Natalie ging zur Zimmertür. Ein würziger Duft von gebratenem Fleisch umspielte ihre Nase, während sie aus ihrem Zimmer auf den Flur trat. Sie hörte Schritte im Untergeschoss und gedämpfte Stimmen, deren Klang ein prickelndes Gefühl von kindlicher Vorfreude auslöste. Auf Zehenspitzen lief sie den Korridor entlang, blickte über das Geländer des Treppenabganges. Sie hörte den metallischen Klang von Kochgeschirr und das Lachen ihrer Eltern.
Zögernd stieg sie die Stufen hinunter. Auch wenn es nur ein Traum war, freute sie sich, ihren Eltern zu begegnen.
Sie sah durch den Spalt in der Tür die breiten Schultern ihres Vaters und die zierliche Gestalt ihrer Mutter. Nebeneinander standen sie am Herd und kochten, scherzten und lachten. Natalie schlüpfte durch den Türspalt. Beinahe synchron wandten ihre Eltern die Köpfe in ihre Richtung, schenkten ihr jenes Lächeln, das ein Gefühl von Geborgenheit in ihr erweckte, wie sie es seit deren Tod nicht mehr verspürt hatte.
„Hallo, Kleines“, sagte Vater mit ruhiger Stimme. „Du warst in deinem Zimmer eingeschlafen und wir wollten dich nicht wecken.“
„Ich hoffe, du hast Hunger. Es gibt bald Essen.“ Ihre Mutter nahm eine Pfanne mit Bratkartoffeln vom Herd.
Unsicher betrachtete Natalie ihre Eltern.
„Was hast du?“, fragte Vater, während er das Backrohr öffnete und den Keramiktopf mit einem duftenden Braten auf die Arbeitsplatte hob.
Natalie schüttelte den Kopf. „Ist das hier ein Traum?“
Ihr Vater kam auf sie zu, sank auf die Knie und schaute Natalie tief in die Augen. „Bist du krank? Du siehst blass aus.“ Er legte die Hand auf ihre Stirn. Natalie fühlte die Wärme seiner Haut. „Fieber hast du nicht.“
Sie musterte das Gesicht ihres Vaters, die glatt rasierte Haut und die weichen Linien, in denen sich trotz seines Alters keine Falten abzeichneten.
Vater umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. „Du schaust aus, als hättest du einen Geist gesehen, Kleines. Und was ist mit deinen Zähnen?“ Mit nachdenklichem Blick betrachtete er ihren Mund, berührte mit seinem Zeigefinger die scharfe Spitze der zierlichen Vampirfänge. „Doris, schau mal“, sagte er. „Unsere Tochter ist ein Vampir.“
„Ich weiß“, antwortete Mutter gelassen. „Es war ihre Entscheidung.“
„Ach?“ Vater stand auf. Als wäre nichts gewesen, hob er das gebratene Stück Fleisch mit einer Gabel aus dem Keramiktopf und legte es auf ein Schneidebrett.
„Bin ich tot?“, fragte Natalie.
„Wie kommst du darauf?“ Mutter verteilte die Bratkartoffeln auf die Teller.
„Weil ich längst erwachsen bin und ihr …“ Ihre Stimme wurde leiser. „Ihr seid schon vor Jahren gestorben.“
„Sind wir das?“ Mutter kostete ein Kartoffelstück. „Also, ich fühle mich im Moment noch recht lebendig. Was ist mit dir, Alexander?“
„Hm.“ Vater umarmte Mutter, küsste sie flüchtig. „Nein, fühlt sich nicht an, als wärst du tot.“
Natalie setzte sich an den Esstisch.
„Wir leben. In einer körperlosen Welt. Aber auch in deiner Erinnerung, in deinen Gedanken und deinem Unterbewusstsein. Wir sind immer bei dir, Schatz“, sagte ihre Mutter. „Nein, du bist nicht tot. Dein Körper schläft nur, er braucht Ruhe.“
„Also habe ich die Verwandlung überlebt?“
„Du hast das Schlimmste überstanden.“ Ihre Mutter stellte die Teller auf den Tisch und Vater brachte eine Schüssel mit grünem Salat.
„Denkt ihr, ich habe richtig entschieden?“
Ihre Mutter nickte. „Dein Herz hat entschieden und die Liebe geht oft seltsame Wege. Und so ein feuriger Vampir hat auch seine Vorzüge.“
„Hey, das hab ich gehört“, protestierte Vater.
„Keine Sorge, dich kann auch kein Vampir mehr übertreffen.“ Sie zwinkerte ihm zu und grinste spitzbübisch.