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Wien, 9. Juni 2007

 

In den nächsten Tagen lebte Natalie Tinas Leben. Tagsüber arbeiteten sie an neuen Projekten. Nach der Arbeit ging es in den Selbstverteidigungskurs, den Natalie lange Zeit sträflich vernachlässigt hatte. Abends zog es sie beide ins Wiener Nachtleben. Die wenigen Stunden, die sie allein in Tinas Gästezimmer verbrachte, nutzte sie, um jeden Tag etwas mehr über Vampire herauszufinden. Auch wenn es nicht viel war, das wirklich nützlich erschien, fand sie dennoch glaubwürdige Berichtfragmente über die wahre Existenz von Vampiren, wie etwa über den Ring des Vampirfürsten, der ihr nur allzu bekannt war.

Während der Abende in den Bars lernte Natalie andere Männer kennen, meist Freunde von Tinas Fang des Abends. Aber sie war nicht in der Lage die letzten Wochen oder André zu vergessen, so hatte niemand eine Chance sie näher kennen zu lernen. Immer öfter stellte sie ihre Entscheidung, Bratislava Hals über Kopf verlassen zu haben, infrage. Genauso fragte sie sich, ob es Sinn ergab, um André zu kämpfen, ihrer Hoffnung eine Chance zu geben, doch noch den Mann zu erobern, der eigentlich nicht mit ihr zusammensein durfte. Wie unfair das Leben doch war.

Sie saß vor ihrem PC im Gästezimmer, als das starke Gefühl sie überkam zum Fenster zu gehen. Und da sah sie ihn.

André spazierte durch die Abenddämmerung.

Aber er war nicht allein. Eine Frau begleitete ihn.

Im ersten Moment hielt Natalie ihn für eine Täuschung, ein Hirngespinst, das einem tiefen Wunsch entsprang. Um sicherzugehen griff sie nach dem Fernglas, das immer auf der Fensterbank lag und das Tina benutzte, um nach ansprechenden Joggern Ausschau zu halten. Es war eindeutig André. Die gertenschlanke, schwarzhaarige Schönheit an seiner Seite, die in mittelalterliche Kleider gehüllt war, so als sei die Frau einer Theateraufführung entlaufen, erfüllte Natalie mit brennender Eifersucht. Sie konnte weder hören was André mit der Frau besprach, noch machte er einen besonders glücklichen Eindruck. Dennoch genügte der Anblick der beiden, um ein loderndes Feuer in Natalies Brust zu entfachen.

Durch das Fernglas beobachtete sie jede Geste, anhand derer sie auf ein recht emotionales Gespräch schloss. Vielleicht war es nur eine Bekannte oder eine Verwandte. Sie fragte sich auch, ob ihr Drang an das Fenster zu treten nur Zufall war oder ob es eine unsichtbare Verbindung gab, die André sie spüren ließ. Sie glaubte schon lange nicht mehr an Vorsehung oder einen Seelenpartner, jedoch hatte sie auch nie an Vampire geglaubt.

Kurz bevor die beiden von der Dunkelheit eines unbeleuchteten Wegstücks verschluckt wurden, sah Natalie wie die Frau mit der Hand André Schultern berührte. Es erschien wie eine tröstende Geste, dennoch versetzte es Natalie einen schmerzhaften Stich. Eine Weile starrte sie auf die Stelle, an der André verschwunden war, dann legte sie das Fernglas beiseite und atmete erst einmal tief durch. Ihr Herz schlug schnell und hart, und es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Hatte er sie so schnell vergessen?

Später, in einer kleinen Bar am Prater, gab sie dann, von Eifersucht beflügelt, den Annäherungsversuchen eines Investmentbankers namens Alfred nach und ließ sich von ihm auf ein paar Drinks einladen. Gemeinsam mit einem Typ namens Benjamin, den sich Tina geangelt hatte, begleiteten sie Alfred auf eine Lokaltour durch die Innenstadt. Alfred war ihr ziemlich egal, aber aus irgendeinem, zugegebenermaßen kindischen Grund hoffte sie, dass André sie zusammen mit Alfred sah.

Gegen zwei Uhr morgens hatte Natalie genug von dem naiven Banker. Jedoch ließ Alfred sich nicht so einfach abspeisen.

„Du hast doch bestimmt eine Briefmarkensammlung, die du mir zeigen möchtest“, meinte er und grinste dümmlich.

„Genieß die Nacht, morgen ist Samstag“, riet ihr Tina und als sie ein „Vergiss André Barov! Er ist ein Scheißkerl, wenn er dich nicht mal anruft“, anfügte, musste Natalie wieder an die Szene im Park denken, die sie beobachtet hatte.

Vielleicht hatte Tina recht und sie sollte endlich damit beginnen, das Leben zu genießen, André aus dem System kriegen. Sie hatte schon zu viel Zeit durch die seelischen Wunden ihrer gescheiterten Jugendbeziehung verloren. Noch mal sechs Jahre einem Mann hinterher weinen, nein danke.

Schließlich gab sie Tinas Ratschlag nach. Alfred und Benjamin folgten nur allzu bereitwillig Tinas Einladung in ihre Wohnung. Nach einem Gute-Nacht-Drink verschwand Tina mit Benjamin im Schlafzimmer. Alfred nutzte die Gelegenheit und ließ sich von ihr das Gästezimmer zeigen.

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André wartete, bis Natalie mit dem Kerl im Wohnblock verschwunden war, ehe er in die Innenstadt zurückkehrte. Nachdem er gespürt hatte wie Natalie ihn bei seinem nächtlichen Gespräch mit Alyssa Blackrose beobachtet hatte, war André ihr gefolgt. Einmal mehr sinnierte er über die Verbindung zwischen ihnen. Ihn wunderte auch, dass er über Kilometer hinweg ihre Emotionen fühlen konnte. Sie war eifersüchtig auf Alyssa. Alyssa hatte ihm nur Mut zugesprochen, nicht den Glauben an den Rat und seine Gesetze zu verlieren. Für Natalie musste es nach mehr ausgesehen haben.

Die ganze Nacht war er in ihrer Nähe geblieben. Er hatte keine Ahnung, wie stark diese Verbindung war und ob auch Natalie seine Nähe spüren konnte. Auch an ihm nagte die Eifersucht. Er kehrte in sein Penthaus zurück. Obwohl er kein Recht dazu hatte Besitzansprüche zu erheben, drang er in den Geist des Kerls ein, betrachtete Natalie durch seine Augen und las in dessen Gedanken, dass es ihm nur um Sex ging. Aufgebracht schleuderte André eine leere Blutphiole durch den Raum. Er spürte, wie wenig Natalie für diesen Mann empfand und dennoch gab sie sich ihm hin, getrieben von Eifersucht und einer Wut, die ihm galt.

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Natalie wehrte sich nicht gegen Alfreds Kuss, und selbst als sich seine ungeschickten Hände an ihrem Körper zu schaffen machten, ließ sie es geschehen. Er presste sich gegen ihr Becken und sie spürte seine harte Männlichkeit unter dem gespannten Stoff. Mittlerweile lagen sie im Bett des Gästezimmers. Jedoch verspürte sie keinen Funken Lust, mit dem ungestümen Banker zu schlafen, und sie gab es ihm zu verstehen.

„Ach komm schon“, bettelte Alfred, verschloss ihre Lippen mit einem seiner schwammigen Küsse.

Sie drehte ihren Kopf weg, drückte Alfred von sich und forderte ihn auf, sich zusammenzureißen und sie in Ruhe zu lassen. Doch der Mann dachte nicht daran.

„Du willst mich doch auch“, stöhnte er leise. „Ich mag es, wenn Frauen sich wehren.“

Sie versuchte vom Bett zu springen, aber er hielt sie fest. Sie hörte den Reißverschluss der Hose und bevor sie flüchten konnte, schob er ihr den Rock hoch. Als er sich an ihrer Unterwäsche zu schaffen machte, wollte sie dem Typen eins überziehen, aber da ließ er plötzlich von ihr ab und legte die Hände an seine Schläfen.

„Oh Gott … verdammt“, fluchte er, verdrehte die Augen und kippte nach hinten vom Bett.

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Mit geballten Fäusten stand André an der Fensterfront. Seine Augen waren geschlossen, um all seine Energien zu konzentrieren. Sein Geist befand sich im Kopf des Bankers. Dieser schmierige, zwielichtige Kerl sollte besser die Finger von seinem Mädchen lassen. Wie ein unsichtbarer Korkenzieher bohrte er sich in dessen Gehirn, ließ ihn leiden und seinen Körper von Schmerzen durchfluten, solange, bis sich eine Hand auf Andrés Schultern legte und er die Verbindung unterbrach.

„André?“

Er fuhr hoch, wandte sich kampfbereit um und starrte in Geralds Gesicht.

„Was ist mit Euch?“, fragte Gerald. „Alles in Ordnung mein Freund?“

„Wie seid Ihr reingekommen?“ Er schüttelte die Gedanken an Natalie ab. Was hatte er nur getan? Wie konnte er sich so in Natalies Leben einmischen, wo es doch er war, der sie abgewiesen hatte? Ein tiefes Knurren kam über seine Lippen.

„Der Schlüssel steckte im Aufzug.“ Gerald schüttelte den Kopf. „Verdammt noch mal André, Ihr seht schrecklich aus.“

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Natalie krabbelte auf allen vieren über das Bett und starrte auf den Investmentbanker. Schwer atmend lag er auf dem Flickenteppich vor dem Bett. Was war nur los mit ihm? Eine Art Anfall? Zu viele Drinks? Jedenfalls sah er aus, als ob er sich gleich übergeben würde. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie überlegte, ob sie einen Krankenwagen rufen sollte.

„Verdammt“, fluchte er, hob den Kopf und Natalie schaute in blutunterlaufene Augen. „Du verdammte Hure, was hast du gemacht?“

„Ich?“ Natalie war entsetzt. „Ich habe keine Ahnung, was für Drogen du nimmst, aber ich würde vorschlagen du gehst jetzt besser. Und vielleicht suchst du mal einen Arzt auf.“

Während Alfred benommen seine sieben Sachen zusammen sammelte und weiterfluchend aus dem Raum stolperte, stand sie auf und trat ans Fenster. Einigermaßen erleichtert, dass sich das Alfred-Problem so einfach gelöst hatte, ertappte sie sich dabei, die Parklandschaft nach André abzusuchen. Vergebens. Na, das war vielleicht ein Desaster. Sie beschloss, dass es vorerst besser war, André nicht mit anderen Kerlen vergessen zu wollen. Nicht bevor sie selbst darüber weg war. Der Gedanke André vergessen zu müssen, schmerzte.