23.
Wien, 10. Juni 2007
Trotz des Erlebnisses mit Alfred ließ sich Natalie auch am nächsten Tag von Tina überreden durch die Innenstadt zu schlendern. Es nutzte ja auch nichts, wenn sie nur zu Hause herumsaß und sich einigelte. Sie aßen bei einem kleinen Italiener zu Abend und machten schließlich einen Abstecher zu Tinas Lieblingstanzlokal, mit dem Namen Crazy Night. Um sich etwas zu gönnen, bestellte sie sich einen White Russian und Tina ihren üblichen Sex on the Beach. Mit ihren Cocktails setzten sie sich an einen Tisch an der Tanzfläche.
„Darf ich dich etwas fragen?“, begann sie vorsichtig.
„Willst du mich etwa heiraten?“
Natalie hörte über Tinas Stichelei hinweg. „Erinnerst du dich noch an diesen schrägen Kerl in New York, mit dem du einmal was hattest?“
„Welchen? Da gab es mehrere.“
„Der Vampir.“
„Ach, Damian.“ Tina rührte mit dem Strohhalm in ihrem Cocktail. „Der Kerl war wirklich schräg. Er hatte geschliffene Eckzähne, mit denen er mich ständig beißen wollte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber vögeln konnte der“, sagte Tina und seufzte leise dabei. „Er hatte mich in einer Bar angequatscht und mich dann auf diese Underground Party eingeladen, die zu Ehren des hundertfünfzigsten Geburtstags von einer Mrs. Blackrose, selbstverständlich einer Vampirlady, gefeiert wurde. Ziemlich crazy, oder?“
Natalie nickte. „Was ist aus ihm geworden?“
Tina zuckte mit den Schultern. „Du kennst mich ja. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, dann wurde mir die Sache zu langweilig und auch ein bisschen zu freakig.“
Nach dem zweiten Getränk stürzten sie sich ins Getümmel auf der Tanzfläche und verschmolzen mit dem Rhythmus der Musik. Beim Tanzen versuchte, sie das Erlebte zumindest für den Augenblick zu vergessen. Doch es gelang ihr nicht. So wie an den vergangenen Abenden musterte sie jeden Gast des Lokals mit Misstrauen. Hinter jedem vom Alkohol gerötetem Gesicht vermutete sie einen Vampir.
Und tatsächlich war unter den Tänzerinnen eine junge, schlanke Frau mit bernsteinfarbenen Augen und zierlichen Fängen. Natalie beobachtet die junge Frau eine Weile, bis sie sich selbst zur Raison brachte. Ihre Fantasie spielte ihr sicherlich einen Streich.
Nach ein paar Liedern setzte sich Natalie erschöpft an den Tisch und beobachtete Tina, die unermüdlich weitertanzte. Wie von allein suchten ihre Augen erneut nach der jungen Frau, die nun auf der anderen Seite des Lokals neben einem Mann saß. Beide schauten in Natalies Richtung. Sie kämpfte eine Weile gegen das beklemmende Gefühl beobachtet zu werden an. Das war doch albern. Sie musste zur Toilette und beschloss, sich zusammenzureißen.
Über das Waschbecken gelehnt betrachtete sie ihr blasses Gesicht im Spiegel und genoss die kühle Nachtluft, die durch ein geöffnetes Fenster strömte. Sie tupfte sich etwas Consealer auf ihre Augenringe als die Tür aufging.
Gemächlich betrat die Frau den Vorraum, die sie gerade beobachtet hatte. Wie kleine Hammerschläge klapperten ihre Bleistiftabsätze auf dem Fliesenboden, während ihr schwarzes, hochgestecktes Haar im Rhythmus ihrer Bewegungen wippte. Zwei Schritte hinter Natalie blieb sie stehen und verschränkte die Arme. Ein endloser Augenblick verstrich, in dem sie einander im Spiegel ansahen.
Ein boshaftes Lächeln formte sich im Gesicht der Frau und Natalie konnte die scharfen Eckzähne deutlich erkennen. Wie in Zeitlupe schienen sie sich von Sekunde zu Sekunde länger aus dem Kiefer zu schieben. Langsam drehte sie sich um und sah die Frau nun direkt an.
„Ich weiß, was du bist.“ Sie war überrascht wie selbstsicher sie klang. Sie überlegte ob es klug war die Vampirin in ein Gespräch zu verwickeln, um Zeit zu gewinnen und einen Fluchtplan auszuhecken, oder ob sie gleich um Hilfe schreien sollte.
„Tatsächlich.“ Das Lächeln der Frau wurde zu einem breiten Grinsen, das dem Gesicht einen animalischen Hauch verlieh. „Dann müsstest du auch wissen, dass ich deine Angst riechen kann.“ Sie sprach jedes S mit einem Zischen aus.
Natalies Hand wanderte zu ihrer Handtasche. Dieses Wesen würde gleich etwas anderes zu riechen bekommen. Doch noch ehe sie nach dem Pfefferspray greifen konnte, umfasste die Frau mit eisernem Griff Natalies Handgelenk und schmiegte sich schnurrend und biegsam wie eine Katze um ihren Körper.
„Deine Angst duftet verlockend.“
Schlanke Finger strichen Natalies Arme entlang und der Körper der Frau wand sich noch aufdringlicher um sie. Natalie spürte einen verführerisch duftenden Hauch im Gesicht. Sie wurde schläfrig, unfähig sich gegen die Umarmung der Frau zu wehren. Sie spürte ein Verlangen, ein ungewolltes Gefühl der Erregung. Vergeblich kämpfte ihr Verstand dagegen an. Glühende Lippen berührten ihren Hals und sie spürte scharfe Spitzen, die wie die Zinken einer Gabel über ihre Haut kratzten.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau trat ein. Die Vampirin blickte sich kurz um und Natalie nutzte diese Unachtsamkeit zur Flucht. Sie tauchte unter den Armen hindurch, rannte zum offenen Fenster und schwang sich nach draußen. In einer schmalen Gasse, in der einige Mülltonnen standen, landete sie auf dem Asphalt. Sie griff nach einer leeren Wodkaflasche und schlug nach ihrer Verfolgerin, die durch das Fenster gesprungen kam. Der Schlag traf die Vampirlady mit voller Wucht ins Gesicht. Das Glas der Flasche brach und zerschnitt das helle Fleisch. Kreischend landete die Verfolgerin auf den Mülltonnen und stürzte zu Boden. Natalie warf die Tonnen um, begrub die Frau unter Müll und Flaschen und setzte ihre Flucht fort, bis sie die quer verlaufende Gasse erreichte, wo auch der Eingang des Lokals lag. Natalie blicke sich kurz um und sah wie die Vampirin mit blutverschmiertem Gesicht unter dem Müll hervor kroch. Jedoch schien die Frau nicht ihr einziges Problem zu sein.
Durch die Eingangstür des Lokals kam der Mann gestürmt, mit dem die Vampirlady an der Tanzfläche gesprochen hatte. Suchend schaute er nach links und rechts und erblickte Natalie. Wie konnte sie den beiden entfliehen? Verdammt!
Andrés Penthaus. Es lag nur wenige Straßen entfernt. Doch nachdem sie seine Bitte, im Schloss zu bleiben, abgelehnt hatte, war sie nun auf sich selbst gestellt und musste allein gegen die beiden Verfolger bestehen. Wenn sie eine Chance haben wollte, musste sie eine der belebten Straßen erreichen. Natalie glaubte nicht, dass die Vampire sie auf offener Straße vor Publikum angreifen würden. Sie rannte so schnell sie konnte. Ihre Oberschenkel und die Lungen brannten wie Feuer, und doch schmolz ihr Vorsprung rasend schnell. Nicht einmal der Weltrekordhalter im Hundertmeterlauf hätte eine Chance gehabt, den beiden zu entkommen.
Keine Menschenseele war auf der Straße, als hätten ihre Verfolger alle Menschen vertrieben. Natalie sah die hohen Bögen des Eingangs zu einem Café und überlegte, darin Schutz zu suchen. In diesem Moment erschien jemand in der Tür des Lokals und sie schrie vor Schreck auf. Sie erkannte den kleinen, hageren Kerl sofort wieder, der einst zusammen mit Death in Andrés Appartement eingedrungen war. Sie hatte Glück, dass der Typ ebenso überrascht von ihrem Erscheinen war und erst reagierte, als der Kerl hinter Natalie brüllte:
„Schnapp sie dir, du Idiot!“
Natalie rannte weiter. Zuversicht breitete sich in ihr aus als sie sah, dass sie nicht mehr weit vom Burgtheater entfernt war. Wenn sie das Theater erreichte, dann gelangte sie auch auf eine stark befahrene Straße. Doch der winzige Anflug von Hoffnung verflog, als ihre Verfolger so weit zu ihr aufgeschlossen hatten, dass Natalie bereits ihre Schatten sah ohne sich umzudrehen. Noch einmal versuchte sie alles aus sich herauszuholen, rannte wie in Trance mit gefühllosen Oberschenkeln. Doch sie spürte Finger, die nach ihr griffen, an ihrer Bluse rissen. Sie kam ins Stolpern, versuchte, den Sturz noch abzufangen, aber ihre Oberschenkel hatten nicht mehr die Kraft dazu. Der Aufprall war schmerzhaft, presste die Luft aus ihren Lungen. Der Typ aus dem Café fasste erneut nach ihr, riss sie hoch und stellte sie wieder auf die Beine.
„Wo ist er nun, dein Blutprinz? Wo?“, fauchte die Vampirlady ihr ins Gesicht.
„Er ist hier!“
Aus dem Nichts war André erschienen und kam mit gemächlichen Schritten näher. Sein Blick lag auf den Verfolgern und sein Gesicht zeigte eine selbstsichere, beinahe erheiterte Miene, als würde er die Konfrontation nicht scheuen, sondern herbeisehnen.
„Schön, dass wir uns endlich treffen“, sagte er zu dem Einbrecher, der mit einem Fauchen antwortete.
Die Vampirin wollte sich auf Natalie stürzen, doch André hob seine Hand und formte eine Faust in der Luft. Im nächsten Augenblick stolperte die Frau nach hinten, sank kreischend in die Knie und hielt sich dabei den Kopf.
„Kopfschmerzen?“ Andrés Lächeln war eiskalt.
Natalie hatte keine Zeit, das Gesehene zu verarbeiten, denn schon wurde sie von hinten gepackt und als Schutzschild verwendet. Unterdessen stürzte sich der andere Vampir auf André. Der Angriff endete mit einem einzigen Schlag, der so heftig war, dass der junge Vampir zur Seite geschleudert wurde und gegen die Hausmauer prallte, dass der Putz zu bröckeln begann. Es gelang ihr, dem Griff des Vampirs zu entschlüpfen, als die Kerle diesmal zu zweit André angriffen. Andrés Reaktion war schneller, als Natalie es verfolgen konnte.
Einen Lidschlag später lagen die beiden Männer benommen am Boden. Nicht nur, dass André sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegen konnte, er sah auch anders aus als sonst. Seine Fänge waren länger, seine Augen leuchteten von innen heraus, was seinen Blick kalt und berechnend machte. An seinen Fäusten klebte Blut, dennoch schien er diese rohe Prügelei zu genießen. Wie eine Raubkatze strich er zwischen den beiden Vampiren umher, wartend auf ihre Angriffe, die er mit Leichtigkeit und gnadenlos abwehrte, während er die Vampirin mit bloßer Gedankenkraft in Zaum hielt.
Äderchen in den Augen der Frau waren aufgeplatzt, verliehen ihrem schmerzverzerrten Blick ein leuchtendes Rot. Natalie versuchte, sich aus der Gefahrenzone herauszuhalten. Die Grausamkeit, mit der André und die drei Vampire aufeinander prallten war schockierend. Die kämpfenden Vampire waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Gelegenheit nutzte und floh.