2.
Wien, 21. April 2007
Natalie betrachtete das Gesicht ihrer Mutter, den tröstenden Blick, und sah das sanfte Lächeln auf den vollen, roten Lippen. Mama summte eine beruhigende Melodie, während sie mit einem nassen Wattebausch die Wunden an Natalies Knien und Ellbogen reinigte, die sie sich als Achtjährige bei einem Sturz mit dem Fahrrad zugezogen hatte. Natalie wusste, dass sie nur träumte und ihre längst verstorbene Mutter einer Erinnerung aus ihrem Unterbewusstsein entsprang. Trotzdem verspürte sie ein Gefühl von Geborgenheit, das jedoch viel zu schnell wieder verblasste. Der Traum wich hellen Sonnenstrahlen, die sich wie ein wärmendes Tuch über ihr Gesicht legten. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie nicht mehr träumte, sondern ihre Augen geöffnet hatte und auf eine hoch über ihr liegende Zimmerdecke mit weiß gekalkten, sternförmigen Stuckarbeiten blickte. Im Zentrum dieses Reliefgestirns hing ein prachtvoller Kristalllüster an einem schmiedeeisernen Haken. Die geschliffenen Kristalle wirkten wie zu Eis erstarrte Wassertropfen, in denen sich das Sonnenlicht brach.
Da sie überfallen und niedergeschlagen worden war, hätte Natalie eher erwartet, auf der Straße oder in einem Krankenhaus zu erwachen. Stattdessen lag sie in weiche, duftende Kissen und Decken gebettet in diesem zauberhaften Zimmer.
Die Sonnenstrahlen, die Natalie wach gekitzelt hatten, fielen durch zwei hohe Fenster hinter ihrem Bett in den Raum und dahinter sah man den wolkenlosen Himmel. Handgearbeitete Möbel aus Kirsch- und Nussholz zierten das großzügig bemessene Zimmer. Das Doppelbett war aus Edelhölzern gefertigt und sicher ein kleines Vermögen wert.
Sie hob die Bettdecke an, schaute an sich herab. Jemand hatte ihr die Kleider bis auf die Unterwäsche ausgezogen und ihre Haut mit etwas eingerieben, das nach ätherischen Ölen roch. Welchen Zweck die Tinktur auch immer erfüllen sollte, sie schien dafür verantwortlich sein, dass Natalie trotz Blutergüssen und Abschürfungen kaum körperliche Schmerzen verspürte. Jedoch wirkte das stark aromatische Mittel nicht gegen die psychischen Wunden. Während Natalie ihre Blessuren betrachtete, breitete sich ein Gefühl von Panik in ihr aus. Sie glaubte, noch einmal die Schläge und Tritte zu spüren, mit denen die Angreifer sie zu Boden gestreckt hatten. Natürlich fragte sie sich, ob der vermeintlich sichere Anblick dieses Zimmers nicht nur trügerischer Schein war. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie hierher gekommen war, und hoffte, dass wer immer sie hierher gebracht hatte, nichts Böses im Schilde führte.
Ein verschwommenes Bild tauchte in ihren Gedanken auf, formte den Umriss jener hoch gewachsenen Gestalt, die ihr zu Hilfe gekommen war. Sie hatte das Gesicht nicht erkannt und konnte nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen war. Aufkeimende Neugier verdrängte die Furcht. Entschlossen warf sie die Bettdecke zurück und trat auf den Perserteppich, der den Boden des Zimmers bedeckte. Ihre Kleidung fand sie fein säuberlich zusammengelegt auf einem Lehnstuhl. An einem Kleiderhaken neben dem Stuhl hingen ein weißer Morgenmantel und ihre schwarze Handtasche. Der Anblick ihrer Habseligkeiten bestärkte sie in ihrer Hoffnung, dass von diesem Ort keine Gefahr ausging.
Sie nahm die Tasche und untersuchte den Inhalt. Geldbörse, Handy, Reisepass waren noch da. Was die drei Männer von ihr auch gewollt hatten, ihre Wertgegenstände schienen es nicht gewesen zu sein. Es sei denn, dem unbekannten Retter war es gelungen, die Männer in die Flucht zu schlagen, bevor diese Zeit hatten, sie auszurauben. Sie pickte zwei Gummibärchen aus der Tüte und blickte auf das Handydisplay. Es war kurz vor neun. Tina hatte bereits zweimal versucht, sie anzurufen. Sie würde später zurückrufen. Zunächst wollte sie herausfinden, wo sie gelandet war. Sie legte die Handtasche auf den Sessel, griff nach dem Bademantel und schlüpfte in den weichen Frotteestoff.
Wie erhofft war das Zimmer nicht abgeschlossen und Natalie öffnete die Tür einen Spalt breit. Warme Luft strömte in ihr Gesicht und trug den Duft von frisch gebrühtem Kaffee mit sich. Die sanften Töne klassischer Musik fluteten den Korridor, der sich links und rechts von der Zimmertür erstreckte. An den Wänden hingen Gemälde in schweren, mit rissigem Blattgold bedeckten Rahmen. Die Bilder trugen die Handschriften von Picasso, Van Gogh und Rubens, wie Natalie anhand der Stile vermutete und sofern es sich um keine billigen Fälschungen handelte, waren diese Malereien Millionen wert.
Der Anblick des prunkvollen Korridors erinnerte Natalie an einen Abend in einem New Yorker Nobelhotel. Ein reicher Kunde ihres damaligen Chefs hatte sie dorthin verschleppt, unter dem Vorwand, er wolle nur die Auftragspapiere holen.
Im Gegensatz zu Tina genügten Natalie aber keine teuren Geschenke, um für eine Nacht zu vergessen, wer sie war. Sie wollte mehr als nur das Sexspielzeug eines verheirateten, reichen Wirtschaftsbarons sein. Jedoch hatte sie ihre Entscheidung, den weißhaarigen Mittsechziger mit einer dicken Beule in der Hose und einem vor blinder Geilheit glänzenden Blick in der Suite alleine zurückzulassen, beinahe den Job im Architekturbüro gekostet. Nach diesem Abend hatte der Kerl seinen Auftrag zurückgezogen und ihr Chef wenig Verständnis für Natalies ‚kleinliches Getue’ gezeigt, das ihn Millionen gekostet hatte. Nur die Androhung, an die Öffentlichkeit zu gehen und wegen sexueller Belästigung zu klagen, hatte sie vor der Ungerechtigkeit des Jobverlustes bewahrt. Das war der Moment gewesen, in dem sie ernsthaft begonnen hatte, an ein eigenes Unternehmen zu denken.
Natalie verdrängte die Gedanken an diesen unheilvollen Abend und trat auf den Korridor. Sie zog die Tür hinter sich ins Schloss und lauschte. Die klassische Musik kam aus allen Richtungen und war als Orientierungshilfe wenig geeignet. Willkürlich wandte sich Natalie nach rechts und folgte dem Gang, der nach etwa zehn Metern links abbog. Der Korridor verlief von hier aus weitere zwanzig Meter in gerader Linie und endete schließlich an einem gemauerten Rundbogendurchgang. Auf der rechten Seite des Ganges befanden sich zwei weitere Türen, während die linke Wand von einer Sammlung mittelalterlicher Zierwaffen dominiert wurde. Natalies Aufmerksamkeit galt jedoch dem Durchgang. Unter den Klang von Geige und Klavier mischte sich das Klirren von Geschirr.
Mit klopfendem Herzen durchquerte Natalie den Gang und blieb einen Schritt vor dem Durchgang stehen. Sie spähte mit einem unsicheren Gefühl in der Magengrube in einen weitläufigen Wohnraum. Vor ihr stand eine Sitzgruppe aus Designermöbeln. Dahinter erstreckte sich eine Glasfront über die gesamte Länge des Raumes, durch die man auf ein Dächermeer blickte.
Dann sah sie ihn. Links von der Sitzgruppe, an einem reichlich gedeckten Esstisch aus grobschlächtigem Holz, saß der Mann, der Natalies Herz um einiges schneller schlagen ließ und im selben Moment zutiefst verwirrte. André Barov. An diesem Morgen trug er ein anthrazitfarbenes Hemd und eine schwarze Hose. Seine schwarzen Haare waren nach hinten gekämmt und ließen sein Gesicht hart und streng aussehen. Lässig saß er auf einem Stuhl, blätterte in der Morgenzeitung und trank nebenbei eine Tasse Kaffe.
„Was machen Sie denn hier?“ fragte Natalie erstaunt.
Die Kaffeetasse in seiner Hand stoppte auf halbem Weg und über ihren Rand sah er sie mit erhobenen Augenbrauen an.
„Wohnen.“
Für einen Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte, aber André schenkte ihr ein warmes Lächeln, erhob sich und fragte wie es ihr gehe. Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Wie nach einem Boxkampf“, antwortete sie und tastete über die Schwellung auf ihrer Stirn.
Sie wich Andrés Blick aus und schaute sich im Raum um. Die Innenarchitektin in ihr sog jedes Detail auf. Rechts von der Designersitzgruppe erstreckte sich ein Musikbereich mit einem Bösendorfer Klavier, einer altmodischen Stereoanlage und zwei riesigen Regalen, die mit CDs und Schallplatten vollgestopft waren. Die Wand links vom Rundbogen bestand aus mehrteiligen Schiebeelementen, hinter denen Natalie durch einen Spalt Bücherregale erspähte.
„Setzen Sie sich doch“, bot André ihr an, deutete auf ein leeres Gedeck gegenüber seines Platzes und schob den Stuhl ein Stück zurück. „Sie haben doch sicher Hunger.“
„Mich würde eher interessieren, was genau passiert ist.“
„Ein Überfall …“, sagte André, mit einem Klang in der Stimme, als geschehe so etwas jede Nacht.
„Nachdem ich ohnmächtig geworden bin“, korrigierte Natalie ihre Frage. „Dann waren Sie das also …?“
„Der Sie überfallen hat?“
„Nein, mein Retter.“
André zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe, diese Kerle haben Ihnen nicht allzu sehr wehgetan.“
„Ich lebe noch.“ Natalie strich erneut mit den Fingern durch ihr Haar, schüttelte ihre Locken auf und nahm schließlich Andrés Einladung an.
Er schob ihr den Stuhl zurecht, als sie sich setzte. Ihre Schulterblätter berührten dabei seine Hände. Ein angenehmes Kribbeln lief über ihren Rücken und sie wünschte sich für einen Moment, dass es mehr als nur eine zufällige Berührung war.
„Was haben Sie auf meine Wunden getan? Eine Heilsalbe?“, fragte sie.
„Ein altes Hausmittel aus Spinnenaugen, Fledermauszungen, etwas Öl und getrocknetem Fliegenpilz.“
André verzog keine Miene. Natalie betrachtete entsetzt ihre Haut, merkte dann aber, dass er sie auf den Arm nahm. Im Moment konnte sie solchen Späßen nur wenig abgewinnen. Die Erinnerung an den Überfall war noch zu frisch.
„Es sind einige Kräuter und ätherische Öle“, sagte er schließlich und warf ihr einen versöhnlichen Blick zu.
„Und was ist mit diesen Kerlen passiert? Haben Sie die Polizei gerufen?“
„Keine Sorge“, sagte er. „Sie werden ihre Strafe bekommen.“
„Wie können Sie dabei so gelassen bleiben?“, fragte sie etwas ungehalten, doch als ein Schatten über Andrés Gesicht huschte, bereute sie die Heftigkeit, mit der sie die Frage gestellt hatte. Immerhin hatte er ihr das Leben gerettet, auch wenn er sich benahm, als wäre so ein Überfall die alltäglichste Sache der Welt.
„Sie dürfen ruhig zugreifen“, sagte André und deutete auf den Teller, der darauf wartete, mit Gebäckkrümeln bedeckt zu werden. Trotz ihrer Aufregung erinnerte ihr Magen mit protestierendem Knurren daran, dass sie, abgesehen von ein paar Schinkenschnittchen, einen ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte. Der Tisch war reichlich gedeckt, mit einem großen Brotkorb, verschiedenen Marmeladen und Honigsorten, einem Obstteller, Butter und einem Krug Orangensaft.
„Möchten Sie Kaffee oder Tee oder etwas anderes?“, fragte André. „Milch kann ich Ihnen leider keine anbieten.“
„Tee wäre fein.“
Er holte eine Kanne dampfend heißes Wasser, so als habe er ihre Entscheidung vorausgeahnt. Danach brachte er ein hölzernes Drehgestell, auf dem zwölf Blechdöschen mit unterschiedlichen Teesorten standen.
„Warum haben Sie nicht auf mich gewartet gestern abend?“
Natalie nahm sich ein nach Kräutern duftendes Teesäckchen aus einer Dose. „Weil ich dachte …“, begann sie, legte den Beutel in die Tasse und goss heißes Wasser darüber.
„… dass ich nicht wiederkommen würde?“, führte André den Satz zu Ende.
„Ja, das dachte ich.“
„Es war unhöflich von mir, Sie so lange warten zu lassen, ich weiß. Aber der Anruf hat leider länger gedauert.“
„Schon gut.“ Natalie trank einen Schluck Tee. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. „Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen.“
„Wenn ich nicht gegangen wäre … dann wäre das vermutlich nicht passiert.“
„Haben Sie eine Ahnung, was die Kerle von mir wollten? In meiner Handtasche fehlt nichts.“ Es behagte ihr nicht, dass er sich die Schuld dafür gab. Hätte sie sich nicht benommen wie eine launische Zicke, wäre es ganz sicher nicht passiert.
„Nun ja, Sie sind eine attraktive Frau.“
„Dankeschön.“ Einen Moment schaute sie ihm tief in seine schokoladenfarbenen Augen und glaubte, ein leises Knurren zu hören als er ausatmete. „Der Kerl im Anzug war auf der Feier. Ich habe ihn gesehen.“
„Tatsächlich?“
„Also frage ich mich, was er mit den beiden Punks zu schaffen hatte.“
André zuckte mit den Schultern. „Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Ich habe lediglich Ihren Schrei gehört und bin zu Hilfe geeilt. Da fällt mir ein, ich muss in Kürze zu einem Termin. Aber Sie können gern noch bleiben und sich ein wenig erholen.“
„Ich weiß nicht.“ Sie wollte ihm nicht noch mehr zur Last fallen, nachdem er ihr bereits das Leben gerettet und sein eigenes aufs Spiel gesetzt hatte.
„Vielleicht möchten Sie sich in der Wohnung umsehen, wegen des Auftrags. Sie erinnern sich?“
„Ich würde mich nicht wohlfühlen, dies ohne Sie zu tun.“
„Sie sehen nicht so aus, als wollten Sie mich ausrauben“, meinte André. Er schüttelte den Kopf und sah Natalie erwartungsvoll an. „Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Sie dürfen auch gern das Bad benutzen. Also, was sagen Sie?“
„In Ordnung“, gab Natalie schließlich nach. Es konnte nicht schaden, den Tag etwas ruhiger zu beginnen. Es war Samstag und auch wenn im Büro genügend Arbeit auf sie wartete, so hatten Tina und Natalie für das Wochenende nach der Eröffnungsfeier ohnehin geplant, ein paar Tage auszuspannen.
„Sehr schön.“ Ein Lächeln huschte über Andrés Lippen. „Da wäre noch etwas“, sagte er. „Im Laufe des Vormittags wird meine Haushälterin kommen.“ André nahm einen Apfel aus dem Obstkorb und wischte mit einem Tuch über die mit Wassertropfen benetzte Oberfläche. „Sie werden also nicht lange allein sein, wenn Sie das beruhigt.“ Genüsslich biss er in den Apfel und sank entspannt zurück auf den Stuhl.