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Und wenn ich einmal sterbe
In den ersten 40 Jahren als forensischer
Anthropologe habe ich Hunderte von Leichen und Tausende von
Skeletten gesehen. Ich habe den Tod von allen Seiten unter die Lupe
genommen. Das heißt, von allen Seiten außer einer. Eines Tages fand
ich mich selbst auf dem Fußboden eines Restaurants wieder und sah
ihm direkt ins Gesicht. Und der Tod erwiderte meinen Blick.
Zusammen mit Carol, meiner Frau, war ich auf dem
Rückweg von Nashville nach Knoxville. Es ist eine Autofahrt von
etwa drei Stunden, und ungefähr auf halbem Weg, in Cookeville,
wollten wir eine Mittagspause einlegen. Wir bogen von der
Interstate 40 ab und steuerten mein Lieblingsrestaurant in dem Ort
an: Logans Road House. Nach den gebackenen Süßkartoffeln, die es
dort gibt, bin ich süchtig.
In Nashville hatte ich einen Vortrag vor
Spezialisten für Organspenden gehalten. Am Abend zuvor hatte ich
mich nicht wohl gefühlt, und eigentlich wäre es vernünftig gewesen,
den Vortrag abzusagen. Aber ich war extra nach Nashville gekommen,
und nun wollte ich ihn auch um alles in der Welt halten. In der
Familie Bass hat eine Eigenschaft, die wir als Entschlossenheit
bezeichnen, alte Tradition. Wie ich gehört habe, nennen andere uns
vielfach schlicht starrköpfig.
Ich gab der Gruppe eine mit Dias angereicherte
Einführung in die forensische Anthropologie. Ich beginne dabei
immer mit dem Selbstmord eines Mannes aus Texas, der zu diesem
Zweck sein Auto in Brand setzte. Dann folgt der Fall von Madison
Rutherford, der seinen Tod in einem brennenden Auto vortäuschte.
Den Vortrag hatte ich schon mehrere Dutzend Mal gehalten, aber an
jenem Vormittag stand ich ihn kaum durch. Normalerweise erwache ich
vor Zuhörern erst richtig zum Leben: Ich fühle mich energiegeladen
und angeregt, Geschichten und Witze sprudeln nur so heraus. Aber
dieses Mal tat ich mich schwer, und ich war froh, als es vorüber
war. Ich nahm höfliche Komplimente über meinen glanzlosen Vortrag
entgegen, sprach ein paar eilige Abschiedsworte und drängte Carol
zum Auto. Die gebackenen Süßkartoffeln, darauf setzte ich jetzt,
würden mich unterwegs wieder aufmuntern. Wir traten bei Logan’s
ein, und wenige Minuten später standen sie vor mir, butterzart und
dampfend.
Ich weiß noch, dass ich ungefähr zwei Bissen von
den Kartoffeln aß. Plötzlich wurde es dunkel um mich. Ich schob den
Teller zur Seite und sagte zu Carol: »Ich glaube, ich werde
ohnmächtig.« Im nächsten Augenblick schlug ich mit dem Kopf auf die
Tischplatte. An alles Weitere kann ich mich nicht erinnern; ich
gebe es hier so wieder, wie Carol und andere es mir später erzählt
haben.
Schon kurze Zeit später waren die Sanitäter da, und
mit ihnen kam Dr. Sullivan Smith, der medizinische Sachverständige
des Kreises - er war gerade mit dem Auto in der Nähe gewesen, als
der Notruf einging. Sobald er in seinem Wagen aus dem Polizeifunk
von dem Einsatz hörte, fuhr er zu Logan’s. Wäre er eine Minute
später gekommen, hätte er wahrscheinlich meinen Tod bescheinigen
können. So aber beteiligte er sich an den Bemühungen, ihn
abzuwenden.
Ich kannte Dr. Smith schon seit Jahren; er hatte
früher am Universitätsklinikum in Knoxville als Assistenzarzt
gearbeitet. Nach meiner Einschätzung ist er einer der besten
medizinischen Sachverständigen unseres Bundesstaates, und im Laufe
der Jahre habe ich bei seinen Weiterbildungsveranstaltungen für
Rettungspersonal mindestens ein halbes Dutzend Vorträge gehalten.
Erstaunlicherweise erkannte mich Dr. Smith am Aussehen meines
Hinterkopfes. (Ich bin mir nicht sicher, ob das eher etwas über
seinen Scharfsinn aussagt oder über die seltsame Form meines
Kopfes.)
»Dr. Bass! Dr. Bass, hören Sie mich?«, rief er.
Dann blickte er zu dem Sanitäter hinüber, der immer noch nach dem
Puls tastete und den Kopf schüttelte. »Dr. Bass, wir müssen Sie
jetzt auf den Fußboden legen«, sagte Smith, als könne ich ihn
hören.
Sie packten den tragbaren Defibrillator aus, legten
die Paddel auf meinen Brustkorb und bereiteten alles vor, um mir
einen Stromschlag zu geben - ein letzter verzweifelter Versuch,
mein Herz wieder in Gang zu bringen. Genau in diesem Augenblick
erwachte es von selbst wieder zum Leben. Bewusstsein und
Sehvermögen kehrten wieder, und ich bemerkte, dass ich auf dem
Fußboden lag, umgeben von Füßen - Dutzenden von Füßen.
»Dr. Bass, hören Sie mich?« Die Stimme wirkte auf
unbestimmte Weise vertraut, ebenso wie das Gesicht des Mannes, der
über mir kniete. Mir war, als sagte er »Sullivan Smith«.
»Sullivan Smith? Ja, den kenne ich«, murmelte ich
schwach. »Ich habe schon Vorträge bei ihm gehalten.<
»Nein, Dr. Bass, hier ist Sullivan Smith«,
erwiderte er. Schließlich lichtete sich der Nebel, und ich erkannte
ihn. Ich war dankbar, in so guten Händen zu sein. Eine Minute
länger, so erklärte er, und sie hätten mich nicht mehr zurückholen
können.
Smith sorgte dafür, dass ein Krankenwagen mich
wenige Stunden später ins Universitätsklinikum nach Knoxville
brachte. Während der zweistündigen Fahrt unterhielt ich mich mit
den Sanitätern über alles Mögliche, von forensischen Fällen bis zur
Footballmannschaft der Universität. Nur über eines sprachen wir
nicht: darüber, wie knapp ich am Tod vorbeigeschrammt war.
Der Kardiologe John Acker erklärte mir, der
Herzmuskel selbst sei gesund. Das Problem lag in dem elektrischen
System, das seinen Schlag steuert. Dafür gab es glücklicherweise
eine einfache Lösung: einen Herzschrittmacher, ein
Mini-Überwachungsgerät und ein kleiner Defibrillator, alles
zusammen in einem Gehäuse, das nicht viel größer war als eine große
Münze. Solange mein Herz von selbst normal arbeitete, würde der
Schrittmacher untätig bleiben; sobald der Puls aber unter 50
Schläge in der Minute absank, würde er sich einschalten.
In einer Klinik der University of Tennessee als
Patient zu liegen war ein seltsames Gefühl. Seit ich 1971 nach
Knoxville gekommen war, hatte ich Tausende von Stunden in dem
Gebäude zugebracht: Der Komplex beherbergt die Leichenhalle des
Kreises Knox sowie das forensische Zentrum, und dort hatte ich
Hunderte von Leichen und Skeletten untersucht. Nachdem ich nun
selbst mit einem Fuß im Grab stand, wurde mir nur allzu bewusst,
wie nahe die Obduktionsräume im Keller waren. Ein paar Tage später
wurde mir der Schrittmacher eingesetzt.
Früher einmal war ich überzeugt, es gebe ein Leben
nach dem Tod. Daran glaubte ich volle 60 Jahre lang, nachdem mein
Vater sich erschossen hatte. Aber dann starb Ann, später starb
Annette, und plötzlich schien nichts mehr von dem Glauben an Gott
und Himmel, mit dem ich aufgewachsen war, noch einen Sinn zu haben.
Wir sind biologische Organismen; wir werden gezeugt und geboren,
wir leben, wir sterben und wir verwesen. Und durch unsere Verwesung
geben wir der Welt des Lebendigen neue Nahrung: den Pflanzen,
Insekten und Bakterien.
Nach Aussagen derer, die meinen Vater gekannt haben
- den Mann, den ich nie kennen lernen konnte, den ich verlor, als
ich drei war -, bin ich ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich: in
meiner Neugier und Intelligenz, in meiner Freundlichkeit und meinem
Entgegenkommen; aber auch in der Art und Weise, wie ich die Zunge
ein wenig herausstrecke, wenn ich mich angestrengt konzentriere.
Ich bin stolz, dass auch meine Söhne die gleichen Eigenschaften
erkennen lassen, und mit Freude stelle ich fest, dass eine meiner
Enkeltöchter die Zunge auf typisch Bass’sche Weise herausstreckt,
wenn sie mit Buntstiften malt oder die Strickmuster übt, die Carol
ihr beigebracht hat. Irgendetwas von uns lebt also in denen weiter,
die wir zurücklassen: unsere Gene, unsere Schrullen, unsere
gemeinsamen Erlebnisse und mündlichen Überlieferungen.
Ist das alles? Fast, glaube ich, aber nicht ganz.
Charlie Snow, der mich zum ersten forensischen Fall mitnahm - zu
der durchweichten, verbrannten Frauenleiche, die wir bei Lexington
exhumierten und identifizierten -, ist für mich noch heute in
gewisser Weise lebendig, wenn ich an einen Tatort komme und
anfange, in Anblicken oder Gerüchen einen Sinn zu finden. Das
Gleiche gilt für Wilton Krogman, den Sokrates der »Knochenleute«:
Ein Teil von mir wird immer mit ihm im Auto sitzen und zur
University of Pennsylvania pendeln; im Geist gehe ich den neuesten
Fall mit ihm durch, umreiße meine Schlussfolgerungen, führe
Argumente und Literaturstellen an, um jede Frage zu beantworten und
jeden Einwand zu entkräften, die der große Mann vorbringen könnte.
Nach all den Jahren strahle ich immer noch vor Stolz, wenn ich
etwas finde, das Krogman vielleicht übersehen hätte, wenn er noch
bei mir wäre.
Ganz ähnlich wird es vielleicht auch meinen
Studenten ergehen. Manchen von ihnen, so meine Hoffnung, werde ich
im Geist immer über die Schulter blicken, wenn sie einen
zerschmetterten Schädel, verbrannte Knochen oder aufschlussreiche
Insekten untersuchen. Ich werde ihnen immer Fragen stellen, sie
immer herausfordern und ihnen manchmal eine Anregung geben. Auch
auf der Body Farm, der wissenschaftlichen Neuerung, die mich wie
keine andere mit Stolz erfüllt, wird ein Teil von mir weiterleben.
Wenn ich auf das letzte Vierteljahrhundert zurückblicke, bin ich
verblüfft über die Fülle an Pionierarbeiten, die aus derart
bescheidenen Anfängen erwachsen ist - alles begann in einem
aufgegebenen Schweinestall -, und selbst heute ist die
anthropologische Forschungseinrichtung nicht mehr als ein
Wellblechschuppen, ein kleines Landstück mit Bäumen und
Geißblattgewächsen hinter einem hohen Holzzaun (der kürzlich mit
Unterstützung von Patricia Cornwell erneuert wurde). Dazu kommt
eine Generation intelligenter, wissbegieriger Köpfe, die erpicht
darauf sind, dem Tod seine Geheimnisse zu entreißen. Es war sicher
nicht mein Ziel, hier etwas Berühmtes zu schaffen. Ich wollte nur
die Antworten auf ein paar Fragen finden, die mich quälten. In der
Wissenschaft ist es wie im Leben: Eines kommt zum anderen, und
bevor man sich umsieht, ist man an einer Stelle, die man nie
angesteuert hat.
Eine Frage wird mir insbesondere von Journalisten
häufig gestellt: »Wird Ihre Leiche auf die Body Farm wandern, wenn
Sie einmal tot sind?« Werde ich praktizieren, was ich predige?
Werde ich mein Leben zu seinem logischen Abschluss bringen? Früher
einmal war ich mir ganz sicher. Ich unterhielt mich mit Ann
darüber, meiner ersten Frau, die ebenfalls Wissenschaftlerin war.
Sie stimmte aus vollem Herzen zu. Meine zweite Frau Annette, die
jahrelang meine Assistentin war und die Einrichtung sowie ihre
Arbeitsweise nur allzu gut kannte, sagte: »Kommt nicht in Frage.«
Und Carol neigt anscheinend eher zu einer traditionellen und -
zumindest nach ihrer Denkweise - würdigeren letzten Ruhestätte für
Dr. Bass. Die letzte Entscheidung werde ich Carol und meinen Jungen
überlassen. Der Wissenschaftler in mir will die Spendeneinwilligung
unterschreiben. Der Rest meiner Person kann nicht vergessen, wie
sehr ich Fliegen hasse.
So oder so wird man mich nach meinem Tod auf der
Body Farm finden. Aber noch nicht so bald. Ich will jetzt noch
nicht sterben. Dazu habe ich zu viel zu tun. Bücher schreiben. Mit
den Enkelkindern spielen. Mörder fangen.