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Der nicht ganz zufällige Tourist
Tod und Verbrechen kennen keine Grenzen,
und die Knochen der Toten sprechen stets die gleiche Sprache, ob
man sie in Knoxville, New York oder Old Mexico findet.
In Mexiko, etwa 150 Kilometer südlich von San
Antonio (Texas), liegt Monterrey, eine Stadt mit rund drei
Millionen Einwohnern. Die Hauptstadt des mexikanischen
Bundesstaates Nuevo León ist ein belebtes Industriezentrum und
könnte auch leicht als US-Stadt durchgehen, nur dass hier fast
ausschließlich Spanisch gesprochen wird und blasse Haut selten
ist.
Am 17. Januar 1999 kam meine eigene blasse Haut -
ich bin ein widerwilliger, nervöser Flugreisender - auf dem
internationalen Flughafen von Monterrey an. Ich war nach Mexiko
gereist, um mich mit einem Versicherungsdetektiv namens John Gibson
zu treffen und mit etwas Glück eine Sieben-Millionen-Dollar-Frage
zu beantworten.
Auf dem eingezäunten Gelände einer Polizeistation
in Guadalupe, einem Außenbezirk am Ostrand von Monterrey, stand das
zerstörte Gerippe eines Chevrolet Suburban. Sechs Monate zuvor, im
Juli 1998, hatte der Wagen gebrannt und dabei so viel Hitze
erzeugt, dass die Leiche eines Mannes zu ein paar Händen voll
verkohlter Knochenstücke zusammengeschnurrt war.
Wie viele Fälle, so begann auch dieser für mich mit
dem Anruf eines Ermittlers, der nicht weiter wusste. Gibson wohnte
in San Antonio und war von dem Versicherungskonzern Kemper Life
engagiert worden, um den Tod eines Versicherungsnehmers zu
untersuchen. Gibson hatte das Fahrzeug und die wenigen menschlichen
Überreste im Inneren bereits gesehen. Jetzt brauchten er und Kemper
Life meine Hilfe bei der Identifizierung.
Gibson holte mich am Flughafen ab und brachte mich
zum Sheraton Ambassador Hotel, einem glitzernden Turm aus schwarzem
Glas, der ohne weiteres auch in Los Angeles oder Tucson stehen
könnte. Bei einem frühen Abendessen im Hotelrestaurant erläuterte
Gibson mir die Einzelheiten des Falles.
Der Versicherte, ein US-Amerikaner namens Madison
Rutherford, war ein 34-jähriger Finanzberater aus Connecticut.
Zusammen mit seiner Frau Rhynie besaß er in der Nähe von Danbury
ein Farmhaus aus der Kolonialzeit mit mehr als zwei Hektar Grund.
Ihr bewaldetes Anwesen teilten sie sich mit einem ganzen Zoo von
Hunden, Katzen und Hühnern. Rhynie war die einzige Begünstigte
seiner Lebensversicherung.
Im Rahmen meiner Arbeit werde ich häufig daran
erinnert, welch unterschiedlicher Wert dem Leben - und dem Tod -
eines Menschen beigemessen wird. Manche Menschen findet der
Sensenmann so arm, so einsam und mittellos vor, dass die Leiche
herrenlos im Leichenschauhaus liegen bleibt, bis ein medizinischer
Sachverständiger oder Gerichtsbeamter sie in einem Armengrab
bestatten lässt. Andere sind mit liebenden Angehörigen,
gesellschaftlichem Ansehen oder einer guten Versicherung gesegnet
und hinterlassen Ruhm, Geld und eine trauernde Familie. Als mich
das letzte Mal jemand danach fragte, wusste ich nicht einmal mehr,
ob ich eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte; erst meine Frau
Carol erinnerte mich daran, dass ich eine besaß. Aber sie lautet
nur auf eine bescheidene Summe; im toten Zustand bin ich nicht viel
wert, und mit Sicherheit lohnt es sich nicht, mich
umzubringen.
Madison Rutherford dagegen war als toter Mann ein
Vermögen wert: volle sieben Millionen Dollar - vier Millionen von
Kemper Life, weitere drei Millionen durch ein anderes
Versicherungsunternehmen namens CNA. Manch einer hätte es sicher
lohnend gefunden, ihn umzubringen.
Rutherford war zusammen mit einem Bekannten
ungefähr um den 10. Juli in Monterrey eingetroffen. Den Berichten
zufolge waren sie zu einem Hundezüchter in Reynosa unterwegs, einer
Stadt, die etwa 150 Kilometer weiter östlich liegt. Dort wollte
Rutherford einen exotischen brasilianischen Hund kaufen, eine
Mastiff-Unterrasse namens Fila. In Monterrey kaufte Rutherford ein
Fahrrad - nach seinen Worten ein Geschenk für den Hundezüchter -
und lud es in den Wagen.
Am Abend des 11. Juli ließ Rutherford den Freund in
ihrem gemeinsamen Hotel zurück - demselben Sheraton, in dem Gibson
und ich jetzt wohnten - und machte sich auf den Weg nach Reynosa.
Am frühen Morgen des 12. Juli, auf dem Rückweg nach Monterrey, kam
der gemietete Suburban von der Autobahn ab, prallte gegen eine
Begrenzung und ging in Flammen auf. Polizei und Feuerwehr waren
schnell zur Stelle, standen den heftigen Flammen aber machtlos
gegenüber. Als das Feuer schließlich erlosch, blickten sie in den
Wagen, aber dort fanden sie nichts - und niemanden.
Noch am gleichen Vormittag nahm die Polizei Kontakt
mit der Autovermietung auf. Die wiederum rief Rutherfords Freund
an, einen pensionierten Polizisten aus Connecticut namens Thomas
Pietrini. Dieser bestand darauf, den Mitarbeiter der
Vermietungsfirma zu dem Polizeigelände in Guadalupe zu begleiten,
wo man den ausgebrannten Suburban abgestellt hatte.
Als sie dort waren, warf Pietrini einen Blick in
den Passagierraum, stocherte in den verkohlten Resten auf dem
Bodenblech und fand schließlich eine geschwärzte Armbanduhr. Sie
trug auf der Rückseite eine rußige Inschrift: Für Madison - in
Liebe, Rhynie. Die weitere Suche förderte einen medizinischen
Notfallanhänger zum Vorschein; darauf stand, der Träger, Madison
Rutherford, sei allergisch gegen Penicillin. Außerdem entdeckte
Pietrini auch Knochen - oder genauer gesagt, Bruchstücke
verbrannter Knochen. Ich fragte mich, ob ich in dem Auto überhaupt
noch irgendetwas finden würde.
Am Montag, einen Tag nach meiner Ankunft, brachte
Gibson mich zu dem Polizeigelände in Guadalupe. Ich habe in den
letzten 30 Jahren Dutzende von verbrannten Autos untersucht, aber
noch nie hatte ich eines gesehen, das vom Feuer so gründlich
zerstört worden war. Die Fensterscheiben waren weg. Die Farbe -
nach meiner Vermutung ein dunkles Blau - hatte sich vollständig in
Blasen abgelöst und nur verrosteten Stahl zurückgelassen. Das Dach
war an einer Ecke geschmolzen und in sich zusammengebrochen. Innen
war außer Metall so gut wie nichts mehr vorhanden: nur Sitzgestelle
und verkohlte Sprungfedern, das rußige Skelett des Autos. Der
Anblick des Schadens bestätigte, was ich nach Gibsons Beschreibung
der Knochen schon vermutet hatte: Es war ein unglaublich starker
Brand gewesen.
Um eine Leiche in Brand zu setzen, braucht man
große Hitze: Immerhin stellt Wasser den größten Anteil unseres
Körpergewichts, und ein solcher Körper lässt sich ebenso schwer
anzünden wie völlig durchweichtes Holz. Hat eine Leiche aber erst
einmal Feuer gefangen, brennt sie erstaunlich gut, unter anderem
deshalb, weil wir viel Kohlenstoff enthalten. Ein weiterer Grund
ist unser Körperfett.
Vor einigen Jahren untersuchte einer unserer
Doktoranden, welche Faktoren bei der »spontanen Verbrennung«
mitwirken, also wenn Menschen Feuer fangen und verbrennen. In
Wirklichkeit läuft der Vorgang natürlich alles andere als spontan
ab. Damit ein Mensch zur Fackel wird, braucht man sowohl eine
Brandquelle (zum Beispiel eine glimmende Zigarette) als auch eine
äußere Brennstoffzufuhr (vielleicht durch eine Matratze oder ein
Sofa). In manchen Fällen jedoch, vor allem wenn das Opfer stark
übergewichtig ist, entsteht dann ein großes, heißes, stark rußendes
Fettfeuer. Wenn Forschung überhaupt eine Moral beinhaltet, dann
lautete die grausige Moral aus den Forschungsarbeiten dieses
Studenten ganz einfach: Achte auf dein Gewicht, und rauche nicht im
Bett. (Das eine gelingt mir halbwegs, das andere tue ich definitiv
nicht.)
In der anthropologischen Forschungseinrichtung der
University of Tennessee haben Doktoranden tatsächlich gespendete
Leichen und amputierte Gliedmaßen angezündet, um wissenschaftlich
präzise zu erfassen, was sich bei der Verbrennung eines
menschlichen Körpers abspielt. Sie beobachteten und fotografierten
die Vorgänge aus nächster Nähe und lieferten damit grundlegende
Daten über den »normalen« Ablauf der Verbrennung. Vor dem
Hintergrund solcher Befunde können wir der Polizei viel besser
helfen, anormale und verdächtige Sachverhalte zu erkennen. Unter
anderem nimmt eine verbrannte Leiche normalerweise die
»Faustkämpferhaltung« ein: Wenn Muskeln und Sehnen erhitzt werden,
schrumpfen sie ein, weil das Wasser verdampft, und die Hände
schließen sich zur Faust. Auch die Arme beugen sich und ziehen die
Fäuste in Richtung der Schultern, wie ein Preisboxer in
Abwehrhaltung. Die Beine werden ebenfalls ein wenig angewinkelt,
und der Rücken wölbt sich. Eine Leiche, die sich auf diese Weise
bewegt und die Boxerhaltung annimmt, ist ein unheimlicher Anblick;
es ist, als würde sie sich ein letztes Mal verzweifelt gegen den
Sensenmann auflehnen. Lässt man das Gespenstische beiseite, ist es
wissenschaftlich sehr aufschlussreich. Wenn man bei einer
gerichtsmedizinischen Untersuchung eine verbrannte Leiche findet,
die nicht die Faustkämpferhaltung angenommen hat, kann man daraus
möglicherweise schließen, dass das Opfer bei seinem Tod gefesselt
war, vielleicht mit hinter dem Rücken zusammengebundenen
Händen.
In diesem Fall bestand jedoch keine Aussicht,
solche Anhaltspunkte zu finden. Erstens hatten die Mitarbeiter des
medizinischen Sachverständigen von Monterrey die Leichenreste
bereits aus dem Suburban entfernt. Und zweitens war die Hitze so
stark gewesen, dass die meisten Knochen zu kleinen Bruchstücken
zerfallen waren. Ob die Arme gestreckt oder gebeugt, frei beweglich
oder gefesselt waren, konnte man unmöglich feststellen.
Ich kniete mich neben dem Fahrzeugwrack auf den
Boden, beugte mich durch die Fahrertür ins Innere und begann in den
verkohlten Trümmern auf dem Bodenblech zu wühlen. Ich suchte nach
verbliebenen Knochen oder Zähnen. Sehr schnell fand ich tief in
einer Ascheschicht ein kleines, graues, gewölbtes Knochenstück. Es
hatte zwar nur eine Kantenlänge von sieben bis zehn Zentimetern,
aber ich erkannte darin das Schädeldach. Die glatte Innenfläche war
verbrannt, sodass das schwammartige Innere des Knochens frei
lag.
Durch den Knochenfund in der Trümmerschicht war
zumindest eine Frage beantwortet, die mich bis dahin beschäftigt
hatte: Die Leiche war tatsächlich in dem Wagen verbrannt; man hatte
nicht während des Brandes oder schon davor einfach ein paar
verbrannte Knochen hineingeworfen. Aus der Lage anderer verbrannter
Teile in seinem Umfeld konnte ich ablesen, dass die Leiche
tatsächlich hier in dem Suburban ein Raub der Flammen geworden
war.
Das Schädelbruchstück hatte also eine wichtige
Frage beantwortet, gleichzeitig aber auch eine neue, ebenso
wichtige Frage aufgeworfen: Wie kam das Schädeldach ganz unten in
den Trümmerhaufen? Und warum lag es mit der Unterseite nach oben?
Theoretisch konnte man sich natürlich vorstellen, dass der Knochen
aus einer höheren Position heruntergefallen war, entweder während
des Brandes selbst oder bei der späteren Untersuchung durch die
Mitarbeiter des medizinischen Sachverständigen. Aber diese
Erklärung passte nicht zu Lage und Zustand des Fragments. Seine
innere, konkave Oberfläche war verbrannt, die äußere dagegen - die
Oberseite des Schädels - war weit gehend unbeschädigt. Das konnte
nur eines bedeuten: Die Leiche hatte während des Brandes kopfüber
im Fußraum vor dem Fahrersitz gelegen.
Jeder, der sich ans Steuer eines Autos setzt, kann
selbst das Experiment machen und sich so hinlegen, dass der Kopf
sich neben dem Gaspedal befindet. Gar nicht so einfach, oder? Ich
muss es wissen, denn ich habe es ausprobiert. Kann man sich
vorstellen, dass man in diese Position gelangt, wenn man von der
Straße abkommt und in einen Graben fährt - wohlgemerkt, ohne dass
das Fahrzeug sich überschlägt? Aus Sicht der Taphonomie ergab der
Fall schlicht und einfach keinen Sinn.
Die Taphonomie - die Untersuchung der Anordnung
oder relativen Lage menschlicher Überreste im Verhältnis zu
Gerätschaften und natürlichen Elementen wie Erde, Blätter und
Insektengehäusen - ist für den forensischen Anthropologen am Tatort
eine der wichtigsten Informationsquellen. Ist die Leiche oder das
Skelett von einem schmierigen schwarzen Fleck umgeben, was darauf
hinweist, dass Tod und Verwesung an derselben Stelle stattgefunden
haben? Oder sieht der Boden sauber und die Vegetation gesund aus,
woraus man schließen kann, dass die Leiche bewegt oder von einer
anderen Stelle hierher geschleppt wurde? Befinden sich die Knochen
in den Kleidungsstücken oder daneben? Enthält der Schädel ein
Wespennest, oder wächst ein Baumschößling durch den Brustkorb? Das
und vieles andere sind wichtige Stücke für das taphonomische
Puzzle; sie liefern zahlreiche Anhaltspunkte dafür, wann oder wie
ein Mensch gestorben ist.
Im Fall von Madison Rutherford war die Taphonomie
auf den Kopf gestellt. Wäre er von der Autobahn abgekommen, in den
Graben gefahren und bei dem Aufprall gestorben oder bewusstlos
geworden, hätte er in sitzender Position auf dem Fahrersitz
verbrennen müssen. Stattdessen lag der Körper kopfüber im Wagen.
Selbst wenn er den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, müsste
jeder Aufprall, der zu Tod oder Bewusstlosigkeit führt, auch den
Airbag ausgelöst haben, und der hätte die Bewegung eingeschränkt.
Die Taphonomie war eine Warnlampe, ein Signal, dass hier
irgendetwas nicht stimmte.
Nachdem ich das Schädelbruchstück in einem Beutel
verstaut und diesen beschriftet hatte, durchsuchte ich den Rest des
Fahrzeugs; weitere Knochen oder Zähne fand ich aber nicht mehr. Von
dem übersehenen Schädelfragment abgesehen, hatten die Mitarbeiter
des medizinischen Sachverständigen bei der Untersuchung des Wagens
gründliche Arbeit geleistet.
Fast ebenso bedeutsam wie der Fund aus dem Wagen
war das, was wir nicht fanden. Das Fahrrad, das Rutherford gekauft
hatte, war weg. Das konnte einerseits darauf hindeuten, dass er bei
dem Hundezüchter gewesen war und ihm wie geplant das Fahrrad
geschenkt hatte. Andererseits befanden sich aber in dem Suburban
auch keine Hundeknochen. Wenn der Hund also nicht wesentlich
geschickter gewesen war als der Mensch und sich vor dem Brand
gerettet hatte, bestand eine Diskrepanz zwischen dem, was man hätte
finden müssen, und dem, was tatsächlich gefunden wurde. Auch das
war ein Indiz.
Einen weiteren Anhaltspunkt lieferten die
Brandschäden an dem Fahrzeug. Vom Benzin im Treibstofftank
abgesehen, enthält ein Auto nicht viel brennbare Materialien: ein
paar Teppiche, einige Polsterungen, ein Dachhimmel aus Stoff.
Dennoch war dieser Suburban mit einer solchen Heftigkeit
abgebrannt, dass es den Feuerwehrleuten nicht einmal gelungen war,
die Flammen zu löschen. Ich bin kein Brandermittler, aber ich habe
eine ausreichende Zahl von verbrannten Autos untersucht und mit so
vielen Experten für Brandstiftung gesprochen, dass ich über ein
paar grundlegende Kenntnisse verfüge. Nach den verheerenden Schäden
an dem Fahrzeug zu urteilen, musste die Menge an brennbarem
Material in dem Suburban - die »Brandlast«, wie Feuerwehrleute sie
nennen - weit über das Normale hinausgegangen sein. Das ließ darauf
schließen, dass das Feuer von einer großen Menge eines
Brandbeschleunigers angeheizt wurde, und der musste sich zum
größten Teil auf die rechte hintere Ecke des Fahrzeuges
konzentriert haben, wo sogar das Dach durch die intensive Hitze in
sich zusammengebrochen war.
Vor meinem geistigen Auge wehte noch eine andere
rote Fahne in dem frischen Wind über dem zerstörten Suburban.
Angeblich war Rutherford von der Autobahn abgekommen, in einen
Graben gefahren und so heftig gegen die Straßenböschung geprallt,
dass der Wagen Feuer fing. Aber am Vorderende des Wagens waren so
gut wie keine Schäden zu erkennen, und nach Aussagen von Gibson,
der den Unfallschauplatz besichtigt hatte, war die
Straßenbefestigung an der Aufprallstelle nur geringfügig angekratzt
oder beschädigt. Kurz gesagt, es sah so aus, als hätte jemand von
dieser Unfallstelle gesund und munter zu Fuß weggehen - oder
wegradeln - können.
Aber zurück zu dem forensischen Labor in der
Innenstadt von Monterrey. Dort lagen die Knochen, und die besagten
eindeutig, dass irgendjemand, vermutlich Madison Rutherford, sich
nicht zu Fuß vom Inferno im Auto entfernt hatte.
Das gerichtsmedizinische Zentrum von Monterrey war
eine nagelneue, blitzsaubere Einrichtung, größer und
eindrucksvoller als das Regional Forensic Center, das man kürzlich
zu Hause in Knoxville als Erweiterung des Klinikums der University
of Tennessee errichtet hatte. Als John Gibson und ich dort ankamen,
nahm uns eine kleine Delegation der Stadtverwaltung von Monterrey
und der mexikanischen Regierung in Empfang. Da alle außer mir
Spanisch sprachen, wusste ich nicht genau, was das alles für Leute
waren, aber Gibson beherrscht die Sprache fließend, und deshalb
stand ich schon bald in einem Labor und konnte an die Arbeit gehen.
Dr. Jose Garza, ein Mitarbeiter des medizinischen Sachverständigen,
brachte mir die Knochen, Zähne und einen weiteren Gegenstand, den
sie aus dem Suburban geborgen hatten. Alles, was von dem kräftig
gebauten Mann übrig geblieben war, hatten sie zusammengefegt und in
rund einem halben Dutzend kleiner Plastikbeutel luftdicht
verschlossen.
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Knochen in
den Beuteln zum größten Teil kalziniert, das heißt, ihre organische
Substanz war vollständig verbrannt. Die kalzinierten Bruchstücke
waren leicht, kalkartig und von einem körnigen Grau - genau wie ich
es nach einem heftigen Brand erwartet hatte. Dagegen sah der
medizinische Notfallanhänger, den man in dem Auto gefunden hatte -
er bestand aus Edelstahl mit einem eingelegten Äskulapstab aus
rotem Email - erstaunlich unbeschädigt aus. Und erstaunlich
unbenutzt: Die Schließe stand offen.
Ein Brand, der kalzinierte Knochen hinterlässt,
zerstört auch das gesamte genetische Material. Aus solchen Funden
kann man also keine DNA-Proben mehr gewinnen und zur
Identifizierung verwenden. Hier waren zwar die meisten Knochen
kalziniert, aber nicht alle. Das Schädelbruchstück zum Beispiel,
das ich gefunden hatte, würde mit Sicherheit genügend DNA für eine
Analyse liefern, und das Gleiche galt auch für mindestens einen der
vier Zähne, die der medizinische Sachverständige geborgen hatte.
Durch einen Vergleich dieser DNA mit Proben von Madison Rutherfords
Eltern, die beide noch am Leben waren, konnten wir fast mit
absoluter Sicherheit feststellen, ob es sich hier um die
verbrannten Knochen von Rutherford handelte. Allerdings hatten wir
ein Problem. Nach Gibsons Aussage hatten Rutherfords Eltern keine
Probe zur Verfügung gestellt.
Ich habe drei Söhne. Wenn einer von ihnen
vermutlich tot wäre, würde ich genau wissen wollen, ob es sich bei
einer aufgefundenen Leiche tatsächlich um ihn handelt. Ungeachtet
der Trauer, die eine eindeutige Identifizierung mit sich bringt,
kann ich mir nicht vorstellen, dass Eltern auf diese Gewissheit
verzichten. Das Fehlen der DNA-Vergleichsproben war eine weitere
rote Fahne. Mittlerweile wehten über diesem Fall mehr rote Fahnen
als bei einer chinesischen Militärparade.
Wenn wir zur Identifizierung der verbrannten Leiche
nicht die moderne DNA-Analyse einsetzen konnten, mussten wir auf
die altmodische physische Anthropologie zurückgreifen: Ich musste
die wahre Geschichte aus den Knochen herauslesen. Als ich mit der
Rekonstruktion des Schädels begann, wurde es plötzlich richtig
spannend. Ich hatte damit gerechnet, dass die Schädelnähte sich im
Prozess der Verschmelzung befanden, insbesondere an der
Innenfläche, wo die Verknöcherung zuerst einsetzt. Sie hätten als
dunkle, geschlängelte Linien deutlich sichtbar sein müssen.
Stattdessen waren die Nähte fast völlig verknöchert und nur durch
schwache, kaum wahrnehmbare Leisten aus weichem Knochengewebe
getrennt, wie Tapetenbahnen, deren Nähte mit Farbe überstrichen
wurden. Andere Fragmente stammten von kräftigen Knochen mit stark
entwickelten Muskel-Ansatzstellen und Anzeichen für eine
umfangreiche Arthritis.
»Rutherford war 34, haben Sie gesagt?«, fragte ich
Gibson. Er nickte.
Vom Bodenblech des Wagens hatte man vier Zähne
geborgen: drei Schneidezähne und einen zweiten Molaren. Keiner
davon hatte eine Füllung. Das zumindest stimmte mit den
zahnärztlichen Unterlagen von Rutherford überein. Aber die beiden
oberen Schneidezähne hatten große, ungefüllte Löcher - nicht gerade
das, was man bei einem wohlhabenden Finanzberater erwarten würde.
Der Molare war stark abgenutzt, fast wie die Zähne, die ich aus
prähistorischen Gräbern kannte - aber deren Besitzer hatten sich
ihr ganzes Leben lang von Getreide ernährt, das sie auf Steinmühlen
gemahlen hatten und das dann auch ihre Zähne allmählich
abgeschliffen hatte. Darüber hinaus waren an den Schneidezähnen
zwei weitere auffällige Merkmale zu erkennen. Sie waren
schaufelförmig, quadratisch und flach, und auf der Innenseite
trugen sie eine U-förmige Rille; und die abgenutzten Kanten wiesen
auf einen altbekannten Gebissfehler hin.
Ich rief Gibson zu mir und zeigte ihm die Zähne.
»Sehen Sie, wie abgenutzt die sind?«, fragte ich. »So etwas
bezeichnet man als ›Okklusionsverschleiß‹. Es entsteht, weil die
Zähne aufeinander schlagen und sich aneinander reiben. In diesem
Fall haben die Kanten der oberen Zähne fast genau auf denen der
unteren gestanden; das nennt man ›Zangenbiss‹. Eine solche
Bissanomalie gibt es bei Menschen europäischer Abstammung
nicht.«
»Wo denn?«, fragte er.
»Bei Personen mit mongolischer Herkunft. Asiaten,
Eskimos, amerikanische Ureinwohner.«
Gibson starrte mich an. »Sie wollen sagen, das hier
ist...?«
Jetzt passten die Puzzlesteine - die abgenutzten
Zähne und die kaum erkennbaren Schädelnähte - zusammen, und daraus
ergab sich ein Bild, das nicht Madison Rutherford zeigte. »Das ist
kein 34-jähriger Aktienmakler aus Connecticut«, sagte ich zu
Gibson. »Das ist ein 50- oder 60-jähriger mexikanischer
Arbeiter.«
Von der Identifizierung dieser verbrannten Knochen
hing eine Menge Geld ab. Die Lebensversicherung bei Kemper Life war
erst ein halbes Jahr vor dem »Unfall« abgeschlossen worden, und
dabei hatte Rutherford der Versicherung mitgeteilt, er werde seinen
Vertrag bei dem Konkurrenzunternehmen CNA kündigen. In Wirklichkeit
erhöhte er auch dort seine Versicherungssumme auf mehr als das
Doppelte.
Mittlerweile war klar, dass Rutherford weder bei
einem Unfall gestorben noch kaltblütig ermordet worden war. Er
hatte seinen Tod absichtlich vorgetäuscht. Das tragische Ereignis
war eine raffiniert eingefädelte Fälschung, ein
Sieben-Millionen-Dollar-Betrug. Auf Grund meiner Befunde weigerte
sich Kemper Life, die vier Millionen Dollar an Rutherfords »Witwe«
Rhynie auszuzahlen. In der diplomatischen, formellen Sprache der
Versicherungsbranche lautete die Begründung: »Der Verstorbene war
nicht der Versicherungsnehmer.«
Rhynie verklagte Kemper; auch gegen CNA, die
ebenfalls die Zahlung von drei Millionen Dollar ablehnte, strengte
sie einen Prozess an. Die forensischen Befunde gaben den
Versicherungsunternehmen eindeutig Recht. Auf der anderen Seite
stand jedoch eine Frau, die von den mexikanischen Behörden einen
Totenschein erhalten hatte; sie hatte einen Teil der sterblichen
Überreste eingeäschert und verstreut, und jetzt lebte sie in
auffälliger Einsamkeit. Trotz der wissenschaftlichen Befunde
bestand eine gewisse Gefahr, dass ein Geschworenengericht Rhynies
Version der Geschichte glauben würde: eine Witwe mit gebrochenem
Herzen, die von kaltschnäuzigen Versicherungsunternehmen übers Ohr
gehauen wird. Schließlich verständigten sich beide Firmen mit ihr
auf eine außergerichtliche Einigung: Kemper zahlte einen winzigen
Bruchteil der Versicherungssumme, CNA einen größeren, aber immer
noch bescheidenen Betrag.
Madison Rutherford dagegen - der lebende, atmende
Madison Rutherford - hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst, und
das noch gründlicher, als wenn er tatsächlich zu einem Häufchen
Asche verbrannt wäre. Damit, so schien es, war der Fall beendet.
Jedenfalls für einige Zeit.
Ich legte meine Akte über den vorgetäuschten Tod
beiseite und widmete mich wieder meiner Wirklichkeit. Wieder einmal
erwuchs aus der Trauer nach Annettes plötzlichem Tod ganz langsam
neues Glück. Für diese Wendung schulde ich meinem jüngsten Sohn Jim
große Dankbarkeit. In den traurigen Monaten, nachdem Annette
gestorben war, kam er irgendwann aus Atlanta zu Besuch, und ich
erzählte ihm, wie einsam ich mich fühlte. Daraufhin sagte Jim ganz
aus heiterem Himmel (und es war nicht als Frage, sondern als
Vorschlag gemeint): »Warum heiratest du eigentlich nicht Carol
Lee?« Es war eine jener Ideen, deren Klugheit auf der Hand liegt,
sobald sie ausgesprochen sind - eine Idee, bei der man sagt: »Warum
bin ich darauf eigentlich selbst noch nicht gekommen?«
Carol Lee Hicks und ich waren in Virginia gemeinsam
aufgewachsen. Sie war neun Jahre jünger als ich, aber wir wohnten
in einer kleinen Stadt, und unsere Familien waren eng befreundet,
sodass wir häufig zusammen spielten. Ich erinnere mich sogar noch
an einen Tag im Juli 1944, als wir im Haus ihrer Großmutter waren:
Wir spielten Verstecken und anschließend Fangen. (In Virginia
suchte man sich im Jahr 1944 jede Ablenkung, die man finden
konnte.) Als es Zeit zum Mittagessen war, rannten wir die Straße
zur Mühle von Carols Vater hinunter, und dabei klagte sie auf
einmal, dass ihre Seite und ihr Bein schmerzten. »Komm, wir sind
fast da, bleib jetzt nicht stehen«, rief ich. Dann sah ich sie an,
und eine Stimme in meinem Inneren ließ mich sagen: »Na gut, setzen
wir uns hier kurz auf die Bank.«
Noch am gleichen Nachmittag bekam Carol Fieber; am
nächsten Tag kam Schüttelfrost hinzu. Ihr Arzt hatte gerade in
einer Fachzeitschrift einen Artikel über Kinderlähmung gelesen und
erkannte sehr schnell, dass Carol sich im Frühstadium der Krankheit
befand. Er brachte sie sofort nach Lynchburg ins Krankenhaus und
rettete ihr damit vermutlich das Leben.
Carol ging aus eigener Kraft ins Krankenhaus; als
drei Tage später das Fieber stieg, war sie bereits von der Taille
abwärts gelähmt. Sieben oder acht Monate blieb sie im Krankenhaus,
und erst Anfang 1945 konnte sie wieder gehen. Dabei hatte sie noch
Glück.
Heute ist die Kinderlähmung praktisch in
Vergessenheit geraten, aber in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts war sie eine Seuche von fast biblischen Ausmaßen.
Zehntausende von unschuldigen Kindern und jungen Erwachsenen fielen
ihr zum Opfer, trugen dauerhafte Behinderungen oder Lähmungen
davon. Die Kinderlähmung, eine besonders starke Form der
Virus-Meningitis, hinterließ bei einer ganzen Generation von
Amerikanern eine tiefe, unheilvolle Spur.
Den Kampf mit der eigentlichen Krankheit gewann
Carol recht schnell, aber ihr Kampf gegen die Schäden, die sie
hinterlassen hatte, sollte sich lange und quälend hinziehen. Er
erforderte jahrelange Physiotherapie und zwölf komplizierte
Operationen. In Virginia, Atlanta und Warm Springs (Georgia), wo
Präsident Franklin D. Roosevelt ein medizinisches Institut
eingerichtet hatte, das anderen Opfern der Kinderlähmung helfen
sollte, bemühten sich Ärzteteams um Carol: Sie transplantierten
gesundes Muskelgewebe in geschwächte Gliedmaßen, streckten oder
durchtrennten verkürzte Sehnen, verbanden instabile
Fußwurzelknochen. Während meines Grund- und Hauptstudiums an der
University of Virginia besuchte ich Carol häufig im dortigen
Krankenhaus, wo sie sich mit 13 Jahren den ersten
Wiederherstellungsoperationen unterzog.
Auch in späteren Jahren blieben wir in enger
Verbindung. Mit 16 war sie Brautführerin bei meiner Hochzeit mit
Ann. Als sie älter wurde, heiratete sie einen jungen Mann aus der
Gegend und hatte mit ihm einen Sohn namens Jeff. Später war sie in
einem Sommer mit Mann und Sohn zwei Wochen in South Dakota und
half, Indianergräber freizulegen. Schließlich ließ sie sich von
ihrem Mann scheiden und arbeitete in einem Unternehmen mit vielen
Ärzten, wo sie mit ihrer positiven Einstellung und ihrem schrägen
Humor deutlich zu guter Stimmung beitrug. Wir besuchten sie jedes
Mal, wenn wir nach Virginia kamen.
Dann kam Carol auch zu uns nach Tennessee: Als es
meiner Mutter gesundheitlich schlecht ging, half Carol, sie zu
pflegen, und als Annette Krebs bekam, kam Carol wieder und
beteiligte sich auch an ihrer Pflege. Jetzt war ich derjenige, der
Fürsorge brauchte. Und dann stellte mir mein Sohn Jim, warmherzig
wie er ist, diese großartige Frage: »Warum heiratest du eigentlich
nicht Carol Lee?« Ich tat es. Gemeinsam mit Carol wurde das Leben
wieder lebenswert.
Carol hat eine strenge Anweisung erhalten: Sie darf
unter keinen Umständen vor mir sterben. Augenzwinkernd versicherte
sie mir, dass ich als Erster abtreten werde. Irgendwie habe ich den
Verdacht, dass sie damit Recht hat. Ich hoffe nur, sie hat nicht
irgendwo eine Sieben-Millionen-Dollar-Police auf mein Leben
versteckt.
Das North End von Boston ist ein angesagter,
kreativer Hightech-Stadtteil mit vielen Loftwohnungen, Künstlern
und Dotcom-Unternehmen. Eine der erfolgreichsten Webdesign-Firmen
waren im Herbst 2000 die Double Decker Studios. Sie zählten das
Bostoner Nahverkehrsunternehmen ebenso zu ihren Kunden wie den
Medienriesen America Online. Der Ruf der Firma stieg ebenso in
Schwindel erregende Höhen wie ihr Umsatz.
Zu denen, die sich um das finanzielle Wachstum des
jungen Unternehmens kümmerten, gehörte auch Thomas Hamilton. Er war
ungefähr ein Jahr zuvor als Finanzcontroller bei Double Decker
eingetreten; seither war er durch seine Leistungen zu einem heißen
Kandidaten für eine größere Beförderung zum Finanzchef geworden.
Die Stelle war mit einem großen Gehalt und einer großen
Verantwortung verbunden.
Kemper Life hatte einen Privatermittler aus
Connecticut namens Frank Rudewicz angeheuert, der Rutherfords Spur
in Neuengland wieder aufnehmen sollte. Zur gleichen Zeit
beschäftigte sich Mike Garrigan, ein Detektiv aus Massachusetts,
mit Thomas Hamilton. Dabei ergab sich nichts Ungewöhnliches,
abgesehen von einem seltsamen kleinen Detail: Hamilton fuhr ein
Auto, das auf den Namen von Rhynie Rutherford zugelassen war. Als
die Detektive zusammentrafen und ihre Notizen austauschten,
stellten sie fest, dass die Lebenswege von Rutherford und Hamilton
sich durch eine Reihe seltsamer Zufälle verflochten. Als sie dann
die Fotos verglichen, wussten sie auch, warum: Thomas Hamilton
war Madison Rutherford. Nachdem Madison in Mexiko seinen Tod
vorgetäuscht hatte, war er heimlich wieder über die Grenze nach
Neuengland zurückgekehrt und hatte unter einem neuen Namen eine
neue Stelle angenommen, die aber ebenfalls mit Finanzen zu tun
hatte.
Die beiden gruben noch mehr aus. Thomas Hamilton
war nicht der erste Falschname, den Rutherford benutzt hatte. Auch
»Madison Rutherford« war ein Pseudonym, oder war es jedenfalls
etliche Jahre lang gewesen. Geboren wurde der aalglatte Betrüger
als »John Patrick Sankey«; den Namen Madison Rutherford hatte er
erstmals schon 1986 benutzt, um sich Steuerrückzahlungen zu
erschleichen, eine Hypothek für sein Anwesen von zweieinhalb Hektar
zu erhalten und die Lebensversicherungen abzuschließen. Erst wenige
Monate vor der Reise nach Mexiko hatte er seinen Namen ganz legal
von Sankey in Rutherford geändert, und das auch nur deshalb, weil
man zuvor einen Antrag auf Erteilung eines Reisepasses abgelehnt
hatte. Nach außen hin schien es ihm und Rhynie zwar gut zu gehen,
in Wirklichkeit waren die beiden aber hoch verschuldet: Madison
hatte den Offenbarungseid geleistet, und der Versicherungsbetrug
war ein verzweifelter Versuch, aus einem sehr tiefen Loch
herauszukommen.
Der Detektiv Garrigan entdeckte noch ein weiteres
nützliches Detail: Zu Madisons neuem Leben in Boston gehörten auch
mindestens zwei neue Freundinnen. Als Rhynie davon erfuhr, war sie
keine trauernde Witwe mehr, sondern eine wütende, betrogene
Ehefrau.
Von den Detektiven alarmiert, handelte das FBI sehr
schnell. Als »Thomas Hamilton« am Nachmittag des 7. November 2000
sein Büro bei den Double Decker Studios verließ, standen
FBI-AGENTEN bereit und nahmen ihn fest. Der Staatsanwalt klagte ihn
wegen Betruges an, weil er seinen Tod vorgetäuscht hatte und die
Versicherungsunternehmen beschwindeln wollte. Nachdem ein ganzer
Berg von Indizien einschließlich der Aussage seiner verbitterten
Frau Rhynie gegen ihn sprach, bekannte sich Rutherford des Betruges
für schuldig und erhielt dafür die Höchststrafe von fünf Jahren.
»Das war eines der schwersten Verbrechen, die mir in diesem
Gerichtssaal begegnet sind«, sagte der Bundesrichter zu ihm. »Es
ist ein Verbrechen, das vielen Menschen viel Schmerz bereitet
hat.«
Mit der Entdeckung, dass Madison Rutherford gesund
und munter in Boston lebte, war die Frage nach seinem Schicksal und
Verbleib beantwortet. Ein anderes Rätsel jedoch ist nach wie vor
nicht gelöst: Wer verbrannte an jenem frühen Morgen des 12. Juli
1998 in dem Chevrolet Suburban bei Monterrey? Eines ist sicher:
Rutherford hatte nicht einfach auf irgendeinem Friedhof neben der
Straße ein altes Skelett ausgegraben - die Brüche in den Knochen
zeigten, dass die Leiche noch frisch war, als sie verbrannte. Damit
lautet die nächste Frage: Woher hatte Rutherford eine frische
Leiche? Nachdem Rhynie sich entschlossen hatte, mit den Behörden
zusammenzuarbeiten, erzählte sie den Beamten, Madison sei seinem
eigenen Bericht zufolge in die Leichenhalle eines Friedhofes
eingedrungen und habe dort eine Leiche gestohlen. Wenn das stimmt,
war es nach meiner Vermutung ein Glück, dass er nicht die
sterblichen Überreste eines weißen Mannes von knapp über 30 Jahren
erwischte. Ansonsten wäre er vielleicht davongekommen, und »Thomas
Hamilton« würde - um sieben Millionen Dollar reicher - ein
Luxusleben in einem vornehmen Bostoner Penthouse führen, statt
seine Strafe in einem Bundesgefängnis abzusitzen.