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Fat Sam und Cadillac-Joe
An einem Donnerstag im Mai veranlasste mich ein Anruf, die Tür meines Arbeitszimmers zu schließen. Das kam nur selten vor. Fast immer stand meine Tür offen - einerseits weil ich gern mitbekam, was im Institut vorging, andererseits aber auch, damit Studenten und Kollegen sich ohne Hemmungen mit jedem kleinen Problem an mich wenden konnten (bevor es zu einem großen Problem wurde) und damit niemand über seltsame Vorgänge hinter der Tür von Dr. Bass besorgt war oder tratschte. Als die anderen nun hörten, wie mein Telefon klingelte und wie ich dann die Tür schloss, wussten alle im anthropologischen Institut, dass es um ein sensibles Thema ging.
Der Anrufer war Arzo Carson, der Direktor der Kriminalpolizei des Bundesstaates Tennessee. Wie er mir erklärte, arbeitete seine Behörde zusammen mit dem FBI an einem Fall, der als Entführung begonnen und sich dann offensichtlich zu einem Mord ausgeweitet hatte. Carson brauchte es mir nicht besonders zu erklären: Da das FBI ihm über die Schulter schaute, stand für die Polizei von Tennessee viel auf dem Spiel, und der Druck war groß.
Während neugierige Doktoranden an meiner Tür vorüberschlichen und sich bemühten, Bruchstücke der Unterhaltung aufzuschnappen, setzte Direktor Carson mich über den Fall in Kenntnis. Die Umstände - und sogar die Namen der Verbrecher - waren so bizarr, wie ich es noch in keinem gerichtsmedizinischen Fall erlebt hatte: Fat Sam. Cadillac-Joe. Funky Don.
Nachdem ich aufgelegt hatte, öffnete ich die Tür und rief Pat Willey und Steve Symes zu mir, zwei meiner besten ständigen Mitarbeiter bei forensischen Einsätzen. Ohne ins Detail zu gehen, fragte ich sie, ob sie mir nächste Woche bei Außenterminen helfen würden. Beide erklärten sich sofort bereit und waren eifrig bemüht, den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Fünf Tage nach dem Anruf des Kriminaldirektors stiegen wir zu dritt in meinen Kombi und fuhren auf der Interstate 40 nach Westen Richtung Nashville. Unterwegs weihte ich die beiden in den Fall ein.
14 Monate zuvor war ein Ehepaar namens Monty und Liz Hudson am helllichten Tag auf dem Parkplatz eines Hotels in Nashville gekidnappt worden. Das Hotel, ein Holiday Inn, lag eigentlich in einem relativ sicheren Teil der Stadt neben dem Gelände der Vanderbilt University. Vor den Augen mehrerer Zeugen - darunter einer, der eine Kamera dabeihatte und Fotos machte - wurden die Hudsons von drei Männern mit Waffengewalt entführt. Zwei der Kidnapper zwangen Monty, in seinen eigenen Cadillac zu steigen, der dritte stieß Liz in ein anderes Auto; beide Wagen fuhren gleichzeitig vom Holiday Inn weg.
Einige Tage später wurde Liz Hudson in der Innenstadt von Nashville freigelassen. Die Entführung war gemeldet worden, und auf dem Parkplatz sowie im Holiday Inn trieben sich Beamte des FBI und der Polizei von Tennessee herum, um nach Spuren zu suchen. Von nun an nahm der Fall eine wahrhaft seltsame Wendung.
Liz weigerte sich, mit dem FBI zusammenzuarbeiten. Sie erklärte den Polizisten, die Entführung sei ein Missverständnis gewesen, und Monty sei mittlerweile auf eine Geschäftsreise gegangen. Sie wisse nicht, wo er sei und wann er zurückkommen werde, aber sie versicherte, Monty sei wohlauf, und ihm fehle nichts. Zum Zeitpunkt der Entführung war Liz im sechsten Monat schwanger. Drei Monate später brachte sie Montys Kind zur Welt, aber Monty war von der Geschäftsreise immer noch nicht zurück.
Einige weitere Monate vergingen. Dann bekamen die Ermittler einen Tipp über Montys Aufenthaltsort: Nach Angaben eines Informanten hatte die Geschäftsreise in einem flachen Grab rund 120 Kilometer südlich von Nashville ihr Ende gefunden, auf einer Farm nicht weit von der Grenze zu Alabama.
 
Der Westen von Tennessee ist das Revier der Baumwolle. Nashville ist das Revier der Musik. Der Kreis Lawrence war 1980 das Revier von »Fat Sam« Passarella. Wer an Gangster denkt, hat vermutlich meist die Paten von Jersey, Chicago oder Las Vegas vor Augen. Dagegen fällt einem die Kleinstadt Lawrenceburg in Tennessee in Verbindung mit dem organisierten Verbrechen nicht unbedingt als Erstes ein, obwohl das durchaus angebracht wäre. Nun ja, vielleicht war es eigentlich kein organisiertes, sondern eher ein unorganisiertes Verbrechen.
Fat Sam war nicht immer so genannt worden. Seine Mutter hatte ihn auf den Namen Sam John getauft, aber damals war er noch viele Jahre jünger und ungefähr 180 Kilo leichter gewesen. Sam war in New York aufgewachsen und dort anscheinend in schlechte Gesellschaft geraten; deshalb hatte seine Familie ihn in den Süden geschickt, um ihn wieder auf die rechte Bahn zu führen. Seine Tante Louise war die Inhaberin der örtlichen Telefongesellschaft von Lawrenceburg und eine Stütze der dortigen Gesellschaft; die Familie hoffte, Sam würde unter ihrem positiven Einfluss auch selbst eine Karriere als Geschäftsmann beginnen.
Das tat er tatsächlich. Im Jahr 1980 umfasste das breite Spektrum seiner geschäftlichen Aktivitäten Falschmünzerei, Geldwäsche, Marihuana-Anbau, Drogenhandel und Hehlerei. Die breite Palette illegaler Tätigkeiten hatte die Aufmerksamkeit einer gemeinsamen Einsatzgruppe von FBI, Secret Service und der Kriminalpolizei von Tennessee geweckt, die sich mit organisiertem Verbrechen beschäftigte. Diese Kommission führte eine dicke Akte über Fat Sam und seine Kumpane »Funky Don« Parsons, Howard »Big Daddy« Turner, Elvin »Bank Robber« (manchmal zu »B. R.« abgekürzt) Haddock und Earl (was kein Spitzname war) Carroll.
In den Monaten nachdem Monty Hudson verschwunden war, zog die Sonderkommission ihr Netz um die Bande von Fat Sam immer enger. Als Sam wegen Herstellung von Falschgeld angeklagt wurde, konnten auch die anderen sich ihre Anklageschriften bereits lebhaft vorstellen. Einer von ihnen, Earl Carroll - er war vielleicht als Erster zu dem Schluss gekommen, dass Singen die beste Verhandlungsgrundlage war - nahm Kontakt mit Richard Knudsen auf, einem Agenten des FBI in Nashville. Er bot an, über die Verbrechen von Fat Sam auszupacken, darunter angeblich auch die Entführung und der Mord an Monty Hudson.
Carroll erzählte eine wüste Geschichte. Danach war Monty Hudson ein Ganove gewesen; er habe den Spitznamen »Cadillac-Joe« getragen, weil er Autos dieser Marke besonders gern stahl. Aber Autos waren nicht die einzige heiße Ware, die Monty sich beschafft hatte. Nach Carrolls Angaben hatte Monty sich an Fat Sam gewandt und ihm angeboten, eine Partie von über 30 Barren aus reinem Silber zu verkaufen, von denen jeder etwa 50 Zentimeter lang, 15 Zentimeter breit und 10 Zentimeter hoch war. Sie sollten ein Gewicht von jeweils mehr als 40 Kilo haben, und die Echtheit werde durch einen Stempel sowie eine Seriennummer bestätigt. Silber hatte zu jener Zeit einen Wert von rund 50 Dollar pro Feinunze - etwa zehnmal so viel wie heute. Bei solchen Preisen war ein einziger Silberbarren von Monty bis zu 80 000 Dollar wert. Da er sie schnell und unauffällig verkaufen musste, ohne dass jemand Fragen stellte, wollte er Sam einen Schnäppchenpreis machen: Er sollte die ganze Partie für 20 000 Dollar in bar bekommen.
Fat Sam zeigte sich interessiert, war aber nicht so naiv, Montys Geschichte für bare Münze zu nehmen. Funky Don, einer seiner Kumpane, hatte ein wenig Erfahrung mit Edelmetallen, und Fat Sam bat ihn, einen der Barren zu überprüfen. Dabei stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich um reines Silber handelte. Sam übergab die 20 Riesen, und Monty übergab das Silber. Aber wie Fat Sam bei einer erneuten Überprüfung feststellte, war es kein Silber, sondern Zink, ebenfalls ein weiches, schweres, silbrig glänzendes Metall, das aber pro Unze nur ein paar Cents kostete. Mit anderen Worten: Fat Sam hatte für seine 20 000 Dollar einen Partie Metallklötze gekauft, die nur wenige hundert Mäuse wert war. Wie Carroll dem FBI erzählte, war Sam wütend: wütend auf Funky Don - der entweder bei dem Test einen Fehler begangen hatte oder in den Handel eingeweiht war - und noch wütender auf Monty.
Das war der Grund gewesen, warum er sich auf dem Parkplatz über Monty und Liz hermachte, als sie gerade im Begriff standen, die Stadt zu verlassen. Irgendwann nach der Entführung wurde Liz an einer anderen Stelle festgehalten, während Fat Sam und Big Daddy Turner (der im Gegensatz zu seinem Namen ein kleiner Mann war) Monty zu einer weiteren Spritztour in seinem Cadillac mitnahmen. Der Gefangene saß auf dem Rücksitz und gab neunmalkluge Worte von sich. Es waren seine letzten: Einer der beiden Männer vorn im Wagen - welcher von beiden, war nicht klar - drehte sich um und erschoss ihn.
Nun hatten sie noch das Problem mit Montys Frau Liz: Sie war bei dem Mord nicht dabeigewesen, konnte die Männer aber sicher mit der Entführung in Verbindung bringen. Fat Sam brachte es nicht übers Herz, sie umzubringen, und deshalb zog er einen hart gesottenen Burschen hinzu, der nicht aus der Stadt stammte, sondern von jenseits der Grenze aus Alabama kam. Der Berufskiller warf einen Blick auf Liz - die nach allen Berichten eine schöne Frau und obendrein noch schwanger war - und verkündete dann: »Auch wenn ich sonst ein Arschloch bin, eine schwangere Frau kann ich nicht umbringen.« Daraufhin, so Carroll weiter, ließ Fat Sam die Frau frei; seinen Kumpanen befahl er, in einer abgelegenen Gegend außerhalb von Lawrenceburg zwei Gräber auszuheben: eines für Monty und eines für... seinen Cadillac!
Ich habe im Laufe der Jahre so manche seltsame Geschichte gehört, aber die von Earl Carroll schoss den Vogel ab. Das FBI und die Kriminalpolizei von Tennessee glaubten ihm offenbar, denn nicht allzu lange, nachdem er sie erzählt hatte, war ich selbst nach Nashville unterwegs, um nach Monty Hudson zu suchen. Bei mir hatte ich Steve, Pat sowie ein Sortiment von Schaufeln, Maurerkellen, Drahtsieben und Asservatenbeuteln.
In einem Lokal im Süden von Nashville trafen wir uns zum Frühstück mit dem FBI-Agenten Knudsen, mehreren Beamten der Kriminalpolizei von Tennessee und einem Staatsanwalt. Anschließend quetschten wir uns in die Autos und fuhren in das Revier von Fat Sam. Die Polizisten waren sichtlich nervös, und der Gedanke, dass der Kombiwagen eines Professors in ihrem Konvoi mitfuhr, schien ihnen besonders gefährlich. Wir fuhren auf der Interstate 65 ungefähr eine Stunde nach Süden und bogen dann an der Ausfahrt nach Pulaski ab, einer anderen Kleinstadt nicht weit von der Grenze zu Alabama. Dort holten wir auf dem Parkplatz eines Supermarktes einen weiteren Polizisten der Kriminalpolizei von Tennessee ab: Bill Coleman, der als Vorposten oder »Fallbearbeiter« der Behörde in Lawrenceburg stationiert war und dort die Tätigkeiten von Fat Sam untersuchte.
Nachdem wir Coleman in Pulaski (das übrigens der Geburtsort des Ku-Klux-Klans ist) aufgegabelt hatten, fuhren wir weiter aufs Land. Auf einer Strecke von ungefähr 15 Kilometern wechselten wir von einer vierspurigen Autobahn über eine zweispurige Landstraße und einen Kiesweg schließlich auf einen unbefestigten Feldweg. Dieser Weg, eine alte Holzarbeiterstraße, endete auf einer Lichtung, die seit kurzem von Geißblattgewächsen, Brombeerbüschen und jungen Bäumen zurückerobert wurde.
Sobald die Autos holpernd zum Stillstand kamen, sprangen die Beamten von FBI und Kriminalpolizei heraus, die Waffen im Anschlag für den Fall, dass Fat Sam und seine Leute einen Hinterhalt gelegt hatten. Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte das Angebot des Kriminaldirektors Carson angenommen und mir eine Dienstwaffe geben lassen, als er mir den Ausweis als Berater der Polizei überreichte. Ich war sogar einmal auf den Schießstand gegangen und hatte dort - noch dazu nachts - so gut geschossen, dass ich die Genehmigung erhalten hätte, aber dann war ich zu dem Schluss gelangt, es sei albern, wenn ich mit einer Pistole herumliefe. Erstens habe ich es zu dem Zeitpunkt, wenn man mich zu einem Tatort ruft, eher mit toten Opfern denn mit lebenden Verbrechern zu tun, und zweitens bin ich meist ohnehin nicht in der Lage, mich zu verteidigen, wenn ich mit der Nase auf dem Boden und in die Luft gestrecktem Hinterteil herumkrieche.
In diesem Fall machte meine Leibwache eigentlich einen sehr fähigen Eindruck: ein halbes Dutzend Beamte von Staatsund Bundespolizei, die schnell über die ganze Lichtung ausschwärmten und ihren Rand sicherten. Dass Beamte der örtlichen Polizei an einem solchen ländlichen Schauplatz fehlten, war ungewöhnlich; wie ich später von Bill Coleman erfuhr, hatte die Sonderkommission den Verdacht, dass man einigen lokalen Gesetzeshütern nicht trauen konnte. Die Staatspolizei und das FBI wollten unangekündigt und möglichst unbemerkt kommen. Ich für mein Teil hoffte nur, dass wir keinen Schaden nehmen würden.
Knudsen, der FBI-Agent, war schon einmal hier gewesen und hatte sich dabei von Carroll führen lassen. Nach seinen Angaben war Carroll zu einer Stelle rund 15 Meter neben der Holzarbeiterstraße gegangen, habe zu Boden geblickt und geflucht. »Na ja, hier hat er gelegen«, hatte er zu Knudsen gesagt und dabei auf einen flachen Graben im Boden gedeutet; dort hatte er angeblich zusammen mit einem anderen Komplizen von Fat Sam die Leiche verscharrt.
Knudsen führte mich zu der fraglichen Stelle. Sie war mit Unkraut, wilden Rosen, Büschen und Giftefeu bewachsen, aber ich sah dennoch auf den ersten Blick, dass der Boden hier vor relativ kurzer Zeit durchwühlt worden war. Über die umgegrabene Erde hatte man einen Baumstamm und mehrere Äste nebeneinander gelegt. Mit dem rötlich braunen Lehm war ein weißes, pulveriges Material vermischt; Carroll hatte Knudsen erzählt, sie hätten Kalk über die Leiche von Monty Hudson geschüttet, weil sie fälschlicherweise glaubten, dies werde die Verwesung beschleunigen. (Diese falsche Vorstellung ist unter Mördern anscheinend weit verbreitet. Kalk dämpft den Verwesungsgeruch, aber er verringert auch die Geschwindigkeit der Zersetzung. Deshalb kann man eine mit Kalk bedeckte Leiche vielleicht nicht ohne weiteres riechen, aber sie bleibt auch länger erhalten.)
Während ein Kriminalbeamter alles auf Video festhielt, gingen wir an die Arbeit. Zunächst fotografierte Steve Symes den Schauplatz aus mehreren Blickwinkeln; er fing neben den Autos an und ging dann nach und nach näher heran. Anschließend machten Pat Willey und ich uns an die Beseitigung von Buschwerk, Ranken und Gras. Schon bevor wir zu graben begannen, fanden wir etwas sehr Wichtiges. In einem Gewirr aus Unkraut, Blättern und kleinen Steinen lag der Ellenknochen aus dem rechten Unterarm eines Menschen.
Wer auch die Leiche transportiert hatte - ob Fat Sam oder seine Handlanger -, er hatte die Aufgabe recht schlampig erledigt, und das war auch nicht verwunderlich. Den Grund erkennt man sofort, wenn man sich in die Lage eines Leichentransporteurs versetzt - man muss ein Grab öffnen, die Leiche herausholen und anderswo verstecken. Wohlgemerkt: Die Leiche verwest schon seit Monaten in einem flachen Grab, das heißt, sie stinkt und ist weit gehend zersetzt. Man hält die Luft an, greift nach einem Arm, zieht - und hat den Arm in der Hand. Wenn es so weit ist, muss man schon besonders gewissenhaft sein und einen widerstandsfähigen Magen haben; ansonsten ringt man nach frischer Luft und rafft zwischendurch alle Stücke zusammen, derer man habhaft werden kann - Kopf, Rumpf, ein Stück von den Beinen, den größten Teil der Arme -, und bringt sie so schnell wie möglich weg. Was mir dabei zugute kommt: Die meisten Bösewichter, die mit dem Transport einer Leiche beauftragt werden, wissen nicht oder kümmern sich nicht darum, dass Zähne häufig schon nach wenigen Wochen ausfallen, dass Hände sich lösen oder abgebissen werden, dass Pistolenkugeln manchmal frei werden und zurückbleiben.
Da es sich anscheinend um ein flaches Grab handelte, arbeiteten wir nicht mit Schaufeln, sondern mit Maurerkellen. Nachdem wir einige Stunden vorsichtig gegraben hatten, waren wir bis zu einer Schicht mit unberührter Erde vorgedrungen. Neben der Elle hatten wir mittlerweile ein Sammelsurium anderer Dinge gefunden: zwei Brustwirbel, fünfzehn Zähne, vier Bruchstücke des Hinterhauptsbeins, eine zerschmetterte Schädelbasis, fünf Finger- und Zehenknochen, ein Stück eines langen Knochens (vermutlich aus dem Schienbein), menschliche Haare, leere Puppenhüllen von Maden, die sich in ausgewachsene Fliegen verwandelt hatten, Stofffetzen und eine Pistolenkugel.
Zähne und Knochen steckten wir in Beutel, um sie im anthropologischen Institut einer gründlichen Prüfung zu unterziehen; den Stoff und die Kugel übergaben wir der Kriminalpolizei von Tennessee zur weiteren Analyse. Wir stiegen wieder in die Dienstwagen und fuhren zurück nach Nashville. Von dort gingen wir munter und gesund getrennte Wege.
Wieder in Knoxville, durchsuchten wir das Material, um die »großen Vier« zu ermitteln: Geschlecht, Alter, Rasse und Körpergröße. Leider hatten wir nicht viel in der Hand. Die Feststellung des Geschlechts war schwierig, da wir weder das Schambein noch Hüft- oder Gesichtsknochen besaßen. Die Elle war allerdings sehr kräftig, und das legte die Vermutung nahe, dass es sich um einen Mann handelte. Das Gleiche konnte man auch an den Fragmenten des Hinterhauptsbeins ablesen: Die Protuberantia occipitalis externa - der Höcker an der Unterseite des Schädels - war stark ausgeprägt und trug kräftige Muskelansätze, ein Hinweis auf die Nackenmuskulatur eines Mannes.
Noch schwieriger war eine Aussage über das Alter; hier bestand der einzige Anhaltspunkt in den arthritischen Wucherungen. An der Elle war auf der Ellenbogenseite eine geringfügige Gewebsvermehrung (»erstes Stadium«) zu erkennen; gleiches galt für Finger- und Zehenknochen sowie für die Brustwirbel. Das bedeutete, dass der Mann vermutlich zwischen 30 und 50 Jahre alt war - vielleicht also um die 40 -, aber genauer konnte man es unmöglich sagen.
Auch die Feststellung der Rasse war ohne Gesichts- und Gehirnschädel schwierig. Die Haare waren dunkel und glanzlos; die Rasse des Opfers war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Wir legten eine Probe beiseite, um sie später genauer zu untersuchen.
Besser waren die Voraussetzungen für die Ermittlung der Körpergröße. Mit der Elle besaßen wir einen langen Knochen, und aus ihrer Länge konnten wir die Körpergröße des Opfers hochrechnen. Dabei gab es nur eine Schwierigkeit: Das untere Ende der Elle war von einem Raubtier abgebissen worden; deshalb mussten wir zunächst einmal feststellen, wie lang der Knochen gewesen war, bevor das Tier ihn auf 29,5 Zentimeter abgenagt hatte. Durch Vergleich mit mehreren vollständigen Ellen fanden wir heraus, dass weniger als fünf Prozent des Knochens fehlten; ursprünglich war er demnach etwa 31 Zentimeter lang gewesen. Diese Zahl setzten wir in eine Formel ein, welche die Anthropologin Mildred Totter schon in den fünfziger Jahren entwickelt hatte, und gelangten damit zu einer Körpergröße von schätzungsweise 182 bis 185 Zentimetern.
Unsere Untersuchungen auf der Body Farm, in denen wir uns mit der Verwesung und dem Zeitraum seit dem Tod beschäftigten, steckten 1981 noch in den Anfängen. Deshalb besaßen wir kaum Daten, die wir mit unseren Beobachtungen an Leichen aus dem Freiland vergleichen konnten. An einem Knochen hingen kleine, eingetrocknete Gewebestücke; der Verwesungsgeruch war deutlich wahrnehmbar, aber nicht übermäßig stark, und zwischen den Knochen lagen zahlreiche leere Puppenhüllen. Auf Grund der Beobachtungen, die ich während der vergangenen 25 Jahre an anderen verwesten Leichen angestellt hatte, schätzte ich die Zeit seit dem Tod auf ein bis drei Jahre.
Den Schlüssel zur Beantwortung der Frage, ob wir Leichenteile von Monty Hudson gefunden hatten, erhoffte ich mir von den Zähnen. Von den 15 Zähnen, die wir eingesammelt hatten, waren sieben, also fast die Hälfte, mit Füllungen versehen, einige davon sehr groß und charakteristisch. Wenn wir zahnmedizinische Röntgenaufnahmen von Monty in die Hand bekamen - vorausgesetzt, es gab sie -, konnten wir relativ schnell feststellen, ob Earl Carrolls Geschichte stimmte.
Mittlerweile hatte Liz Hudson vom FBI die Mitteilung erhalten, dass Monty vermutlich tot war, und erklärte sich zu jeglicher Mitarbeit bereit. Mit ihrem anfänglichen Schweigen hatte sie gute Absichten verfolgt: dass Monty bereits tot war, als sie in Nashville freigelassen wurde, wusste sie nicht, und sie hatte verzweifelt gehofft, er werde am Leben bleiben, wenn sie den Mund hielt. Damit war sie vielleicht ein wenig naiv gewesen, aber auch sehr loyal und tapfer. Jetzt erzählte sie dem Agenten Knudsen alles, woran sie sich im Zusammenhang mit der Entführung erinnerte, und sie hatte auch eine Vermutung, wo wir uns nach zahnärztlichen Unterlagen erkundigen konnten.
Ihren Angaben zufolge hatte Monty ziemlich lange in Tulsa gewohnt, und mit den dortigen Zahnärzten nahm Knudsen jetzt Kontakt auf. Dabei traf er relativ schnell ins Schwarze: Dr. R. Jack Wadlin bestätigte, Monty Hudson sei sein Patient gewesen, und schickte Zahnschemata sowie vier Röntgenaufnahmen von Montys Gebiss. Die Füllungen und Wurzelhöhlen auf Dr. Wadlins Röntgenaufnahmen stimmten mit den Merkmalen der Zähne überein, die wir in dem flachen Grab in einer ländlichen Gegend von Tennessee gefunden hatten. Wir hatten tatsächlich Monty Hudson ausgegraben - oder jedenfalls einen kleinen Teil von ihm.
Einge Monate nach unserem Ausflug in das Revier von Fat Sam wurden er und seine beiden Partner wegen der Entführung von Monty und Liz Hudson vor Gericht gestellt, Big Daddy Turner außerdem des Mordes an Monty angeklagt. Alle drei wurden des Menschenraubes in beiden Fällen überführt. Passarella musste bereits eine lange Gefängnisstrafe wegen Falschmünzerei absitzen; die Verurteilung wegen Kidnapping brachte ihm weitere 20 Jahre ein. Mittlerweile habe ich gehört, Fat Sam sei während seiner Haft religiös geworden und habe sich außerdem zu einem begeisterten Gärtner und Hobbybotaniker entwickelt. Außerdem hat man mir erzählt, sein Spitzname treffe immer noch zu.
Am schlimmsten erging es Big Daddy Turner. Man bot ihm eine Strafe von nur zwei Jahren an, wenn er sich wegen einiger kleiner Vergehen schuldig bekannte, aber er lehnte ab und wollte seine Chance vor einem Geschworenengericht nutzen. Das Glücksspiel ging schlecht für ihn aus: Er wurde wegen der Entführung zu 40 Jahren verurteilt - doppelt so viel wie Fat Sam - und zusätzlich zu lebenslanger Haft für in Tateinheit begangenen Mord. Nach mehreren Berufungsverhandlungen bekannte er sich des schweren Menschenraubes in zwei Fällen und des »hilfsweise begangenen« Mordes für schuldig, aber auch für diese drei Verbrechen erhielt er eine Gefängnisstrafe von 45 Jahren. Turner hatte sozusagen die Tür Nummer 2 gewählt, und dahinter befanden sich stählerne Gitterstäbe, und zwar für viele Jahre. Die Hoffnung von Earl Carroll dagegen erfüllte sich: Er kam mit der geringsten Strafe davon. Aus der Zeitung erfuhr ich, dass die Staatsanwaltschaft nur ein Strafmaß von zwei bis zehn Jahren gefordert hatte. Meine Freunde von der Polizei haben mir erzählt, er sei seitdem mindestens einmal erneut verhaftet worden, aber derzeit befindet er sich ganz buchstäblich auf einem neuen, steinigen Weg: Er arbeitet als Lastwagenfahrer.
Wie sich herausstellte, war Montys Cadillac einige Kilometer entfernt auf einem Feld bestattet worden, auf dem Fat Sam später in großem Stil Marihuana anbaute. Die Polizei von Tennessee hatte auf dem Acker eine Razzia durchgeführt und die Pflanzen vernichtet; als der Polizeibeamte Bill Coleman die Zerstörung der Pflanzen beaufsichtigte, saß er durch einen verblüffenden Zufall gerade auf dem Erdhügel, den sie mit einem Bulldozer über den Cadillac geschoben hatten. Nachdem man den Wagen dann ausgegraben hatte, wurde er zur Untersuchung ins kriminaltechnische Labor nach Nashville gebracht. Fat Sam hätte sich nicht die Mühe zu machen brauchen, den Wagen zu beerdigen: Die Kriminaltechniker fanden darin keinerlei Blutflecken und auch sonst keine belastenden Indizien.
Wo der Rest von Montys Leiche geblieben ist, habe ich nie erfahren. Nachdem Earl und B. R. ihn in dem flachen Grab verscharrt hatten, soll Fat Sam angeblich hingefahren sein, um sich das Werk anzusehen, und die Besichtigung fiel nicht zu seiner Zufriedenheit aus; offensichtlich lag die Leiche noch fast völlig frei. Wie ein altes Sprichwort sagt: Wenn du willst, dass etwas richtig gemacht wird, mach es selbst. Fat Sam mochte als Grabräuber nicht besonders gründlich gewesen sein, aber in jedem Fall konnte er seine Zunge besser im Zaum halten als Earl Carroll.
Von den »Silberbarren«, die den Anlass für den Mord gegeben hatten, wurden 31 Stück schließlich in einem Bach im ländlichen Kreis Giles gefunden, nicht weit von Montys ursprünglichem Grab entfernt. Sie lagen genau da, wo man sie nach Angaben von Earl Carroll abgeladen hatte. Bill Coleman, der mittlerweile pensionierte Beamte der Kriminalpolizei von Tennessee, nahm sich einen davon als Andenken mit. Liz Hudson, Montys schöne Witwe, ließ sich in Nashville nieder, nahm eine Stelle bei einer der vielen Musikfirmen an und zog schließlich mit einem Countrymusic-Komponisten zusammen. Irgendwie scheint alles zu passen. Mittlerweile rechne ich jeden Tag damit, dass ich im Radio eine melancholische Ballade über Fat Sam und Cadillac-Joe zu hören bekomme. Sollte es jemals so kommen, wird Monty am Ende doch noch ein Vermögen verdienen - nicht ganz auf die beabsichtigte Weise, aber vielleicht in viel größerem Maßstab. Durch die Alchemie der Countrymusic könnten sich seine Zinkbarren in Gold oder sogar Platin verwandeln. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.