7
Ein halber Hektar für die Toten: Die Body
Farm entsteht
Wenn das Opfer bereits seit längerer Zeit tot
ist, sind Kopf und Gesicht angeschwollen, Haut und Haare haben sich
gelöst, Lippen und Mund stehen offen, die Augen treten hervor, und
Maden fressen an ihm.
Sung Tz’u, Vom Hinwegwaschen des
Ungerechten, Chinesisches Werk über Gerichtsmedizin, erschienen
1247
Als mir klar wurde, dass ich die Zeit seit
dem Tod von Colonel Shy falsch eingeschätzt hatte - und zwar um
nicht weniger als 112 Jahre -, bestand meine erste Reaktion darin,
dass es mir zutiefst peinlich war. Gegenüber den Journalisten, die
über den Vorfall berichteten, hatte ich mich voller Überzeugung
geäußert, und hinterher musste ich viele meiner Worte widerrufen -
Worte, die von Tennessee bis nach Thailand überall in gedruckter
Form erschienen waren.
Aber demütigende Erfahrungen können auch den Weg zu
den großartigsten Erkenntnissen eröffnen, vorausgesetzt, wir sind
bereit, aus ihnen zu lernen. Es dauerte nicht lange, dann machte
bei mir das Gefühl der Peinlichkeit einer beruflichen Neugier
Platz. Dass gerichtsmedizinische Fälle mir immer so reizvoll
erschienen, liegt unter anderem daran, dass sie eine
Herausforderung darstellen: Oft handelt es sich um tragische
Verbrechen, aber es sind auch wissenschaftliche Rätsel, die es zu
lösen gilt. Ich bin nie gern auf die Jagd gegangen - die
Vorstellung, Tiere aus sportlichen Gründen zu töten, hat für mich
absolut keinen Reiz -, aber die Spannung beim Entschlüsseln eines
gerichtsmedizinischen Rätsels unterscheidet sich vermutlich nicht
sonderlich stark von der Erregung eines Großwildjägers, der sich an
ein gefährliches Raubtier heranpirscht.
Aber worin bestand in diesem Fall das Rätsel -
welcher Erkenntnis würde ich nachjagen? Je mehr ich darüber
nachdachte, desto spannender wurde es: Meine Beute war der Tod
selbst. Um genau zu begreifen, was dem Colonel Shy widerfahren war
- und was am Ende uns allen widerfahren wird -, musste ich dem Tod
bis weit in sein eigenes Revier hinein folgen, seine
Fressgewohnheiten beobachten, seine Bewegungen und Zeitpläne
festhalten.
Vor mehr als 700 Jahren stellte ein chinesischer
Beamter namens Sung Tz’u ein bemerkenswertes Handbuch für
gerichtsmedizinische Untersuchungen zusammen. Dieses Werk - sein
Titel wird häufig mit den Worten Vom Hinwegwaschen des
Ungerechten übersetzt - schlägt eine eindrucksvolle Vielfalt
von Untersuchungen vor, die man in den ersten Stunden oder Tagen
nach einem verdächtigen Todesfall an der Leiche vornehmen soll.
Außerdem beschreibt das Buch in sehr anschaulichen Begriffen,
welche Veränderungen ein Leichnam nach dem Tod über längere Zeit
hinweg durchmacht - in den Wochen oder Monaten, bis sich der Körper
vom Fleisch in nackte Knochen verwandelt hat.
In dem Dreivierteljahrtausend, seit Sung Tz’u sein
Werk verfasste, hatte man über die längere Phase nach dem Tod
praktisch nichts Neues mehr entdeckt oder veröffentlicht. Als ich
1977 die sterblichen Überreste von Colonel Shy untersuchte, konnte
ich der wissenschaftlichen Literatur keine größeren Kenntnisse
entnehmen als die, welche Sung Tz’u bereits 1247 besessen
hatte.
Schon lange bevor ich die Bekanntschaft von Colonel
Shy machte, hatte sich in meinem Hinterkopf die Idee festgesetzt,
die Verwesung wissenschaftlich zu untersuchen. Der Keim war bereits
1964 gepflanzt worden: Damals schrieb ich an Harold Nye von der
Polizei des Bundesstaates Kansas und schlug ihm vor, wir sollten
einen Bauern finden, bei dem wir die Verwesung von Schlachtvieh
untersuchen konnten (»Wenn Sie einen Farmer kennen, der bereit
wäre, eine Kuh zu schlachten und liegen zu lassen...«). Der gleiche
Keim schlummerte auch 1971 in mir, als ich nach Knoxville zog und
an der University of Tennessee die Leitung des anthropologischen
Instituts übernahm. Die Stellung an der dortigen Universität war
nicht nur mit Lehrverpflichtungen verbunden, sondern auch mit einer
offiziellen Funktion auf Bundesstaatsebene: Ich wurde zum ersten
(und bis heute einzigen) forensischen Anthropologen des Staates
Tennessee ernannt. Das Ernennungsschreiben traf bereits ein, als
ich noch damit beschäftigt war, Hunderte von Kisten mit Knochen von
Arikara-Indianern in den muffigen Büroräumen unterhalb des Neyland
Stadium zu verstauen. Es zeigte mir, wie wichtig vielschichtige
Beziehungen sind.
Ein oder zwei Jahre zuvor hatte Bob Gilbert, einer
meiner Doktoranden an der University of Kansas, Gerichtsmediziner
aus dem ganzen Land um die Überlassung von Schambeinen gebeten. Bob
erforschte die Unterschiede im Knochenbau von Männern und Frauen.
Insbesondere interessierte er sich für die Veränderungen, die sich
an der Schambeinfuge von Frauen abspielen, jener Verbindungsstelle
auf der Vorderseite des Beckens, wo die beiden Schambeine, die
bogenförmig von den Hüftbeinen ausgehen, zusammentreffen. Bei
jungen Erwachsenen ist die Oberfläche der Schambeinfuge uneben mit
Höckern und Vertiefungen; bei Frauen Mitte 30 ist der Knochen
dichter, und er hat eine glattere Konsistenz; vom 50. Lebensjahr an
beginnt dann der Abbau der Knochenflächen. Mit seiner Doktorarbeit
verfolgte Bob das Ziel, diese Veränderungen der weiblichen
Schambeinfuge im Einzelnen festzuhalten und so den Anthropologen
eine genauere Altersabschätzung zu ermöglichen. Zu diesem Zweck
brauchte er Schambeine, und zwar viele.
Einige Gerichtsmediziner, mit denen er zu diesem
Zweck Kontakt aufnahm, waren über sein Ansinnen entsetzt und
lehnten ab. Dr. Jerry Francisco, der leitende medizinische
Sachverständige des Staates Tennessee, hielt den Forschungsansatz
jedoch für reizvoll und erkannte, welch wichtigen Beitrag er zur
forensischen Wissenschaft leisten konnte. Er schickte Bob ein
großes Paket mit Schambeinen und wurde für mich zu einem guten
Freund, mit dem ich auf Fachtagungen regelmäßig Neuigkeiten
austauschte.
Als ich Jerry erzählte, dass ich nach Tennessee
ziehen würde, fragte er mich, ob ich als forensischer Anthropologe
in seiner Behörde mitarbeiten wollte. Das Honorar war nicht üppig -
eine Pauschale von 150 Dollar pro Fall -, aber es versprach eine
faszinierende Tätigkeit zu werden. Ungeheuer geschmeichelt, sagte
ich sofort zu. Wenig später erhielt ich einen schicken
Dienstausweis als Sonderberater der Staatspolizei von Tennessee.
Später wurde mir klar, dass ich auch ein deftiges privates
Beraterhonorar hätte berechnen können, wenn ich nicht als
Staatsbediensteter an diesen Fällen gearbeitet hätte. Aber als ich
das merkte, hatte ich den hübschen Titel und den eindrucksvollen
Dienstausweis bereits so lieb gewonnen, dass ich sie für etwas so
Gewöhnliches wie Geld nicht mehr hergegeben hätte. In den neunziger
Jahren nahm ein besonders komplizierter forensischer Fall mehrere
hundert Stunden meiner Arbeitszeit in Anspruch; mit meiner
Fallpauschale von 150 Dollar verdiente ich dabei also noch nicht
einmal einen Dollar in der Stunde. Andererseits verschaffte mir die
Stellung aber auch das Privileg, im Zeugenstand eine Menge
Gemeinheiten über mich ergehen zu lassen. Die Strafverteidiger
spielten gern auf den Colonel Shy an, selbst wenn er in keinerlei
Zusammenhang zum Fall ihres Mandanten stand. Sie wollten einfach
bei den Richtern Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit säen. (»Stimmt
es nicht, Dr. Bass, dass Ihre Schätzung für die Zeit seit dem Tod
in diesem Fall um fast 113 Jahre danebenlag?!«)
Ich war noch dabei, mich für das erste Semester an
der University of Tennessee einzurichten, da ging es schon los mit
Anrufen, Fällen und Leichen. Es dauerte nicht lange, bis mir ein
Unterschied zwischen Leichen aus Kansas und Tennessee auffiel. In
Kansas hatte ich es in den meisten Fällen mit sauberen, von der
Sonne gebleichten Skeletten zu tun gehabt, wie man sie auch in
Hollywood-Western sieht. Dagegen merkte ich sehr schnell, dass
Leichen aus Tennessee in den meisten Fällen eine verwesende Masse
voller Maden waren. Von den Überresten der ersten zehn Menschen,
die Gesetzeshüter aus Tennessee mir nach meiner Ankunft in
Knoxville zur Untersuchung brachten, waren fünf über und über mit
Maden bedeckt.
Der Unterschied hatte seine Ursache in Geografie
und Demografie: Kansas ist mit rund 212 000 Quadratkilometern knapp
doppelt so groß wie Tennessee mit seinen 109 000 Quadratkilometern,
hat aber nur knapp die Hälfte der Einwohnerzahl. Statistisch
betrachtet, besteht also in Tennessee eine viermal größere
Wahrscheinlichkeit, über eine frische Leiche zu stolpern, als in
Kansas. (In Wirklichkeit ist der Unterschied sogar noch größer,
weil die Bewohner von Tennessee im Durchschnitt früher sterben:
Morde sind dort doppelt so häufig - ein Problem, mit dessen Lösung
sich Vertreter eines anderen Fachgebietes beschäftigen sollten.) Da
also in Tennessee viel mehr Leichen herumliegen und auf ihre
Entdeckung warten - häufig werden sie von Jägern gefunden, die
durch die Wälder streifen -, leuchtet es völlig ein, dass sie in
der Regel schneller gefunden werden als die wenigen Leichen in
Kansas, die dort in der riesigen, einsamen Prärie in aller Ruhe zu
Skeletten werden können. Deshalb sind tote Bewohner von Tennessee
in der Regel viel unsauberer, und sie riechen auch stärker.
Aber der Gerechtigkeit musste Genüge getan werden.
Und für einen forensischen Anthropologen - insbesondere einen, der
einen offiziellen Dienstausweis der Polizei bei sich trug und eine
amtliche Position bekleidete - kam Zimperlichkeit nicht in Frage.
Ich hatte ausdrücklich erklärt, dass man mich ansprechen konnte,
wenn man Hilfe bei der Identifizierung von Toten oder der
Feststellung von Todesursachen brauchte. Deshalb war mir jeder Fall
und jede Leiche willkommen. Aber manche waren willkommener als
andere - nicht nur für mich, sondern auch für die anderen Kollegen
und Mitarbeiter, mit denen wir uns die Räumlichkeiten unter dem
Footballstadion teilten. Der erste, der sich schließlich
beschwerte, war der Hausmeister.
Ein Fischer hatte im Emory River etwa 80 Kilometer
von Knoxville entfernt einen »Schwimmer« - eine schwimmende Leiche
- gefunden, und ein Kreispolizist aus Roane brachte sie mir zur
Identifizierung. Der tote Mann trug noch den größten Teil seiner
Kleidungsstücke; nur seinen Kopf trug er leider nicht mehr. Das
machte es schwierig oder vielleicht sogar unmöglich, ihn eindeutig
zu identifizieren. »Wir müssen den Kopf finden«, sagte ich dem
Polizisten. Er konnte durchaus am Boden des Emory weit weg von der
Stelle liegen, wo der Fischer die Leiche gefunden hatte, aber es
bestand auch die Chance, dass jemand den Schädel irgendwo am
Flussufer gefunden und vielleicht sogar mitgenommen hatte.
Die Leiche traf an einem Mittwoch ein. Am
Donnerstag brachte die Roane County News, das lokale
Wochenblatt, auf der ersten Seite einen Bericht über die Entdeckung
der Leiche; dabei wurde auch erwähnt, wie wichtig der fehlende
Schädel war. In dem Artikel hieß es ausdrücklich, wer einen Schädel
gefunden oder in seinen Besitz gebracht habe, solle ihn auf das
Polizeirevier bringen. In den folgenden Tagen wurden zwei Schädel
abgegeben, und die Polizisten brachten sie pflichtschuldigst zu
mir.
Den ersten erhielten wir am Freitag. Er war trocken
und von Staub bedeckt, stammte also eindeutig nicht von unserer
erst kürzlich verstorbenen, verwesten Wasserleiche. Dennoch fand
ich zweierlei an diesem Schädel faszinierend: seine ethnische
Zugehörigkeit und ein riesiges Loch, das aus der Schädelbasis
herausgebrochen war. Unser Schwimmer war ein Weißer, dieser Schädel
sah jedoch japanisch oder chinesisch aus und war damit im Osten von
Tennessee ein ungewöhnlicher Fund. Ich erkundigte mich bei der
Polizei nach der zugehörigen Geschichte und erfuhr, er sei von
einem Schrotthändler abgegeben worden. Dieser hatte einige Tage
zuvor bei einem Grundbesitzer aus der Gegend ein Schrottauto
aufgekauft. In einem Zwanzig-Liter-Farbkanister, der im Motorraum
des Autos stand, hatte der Schädel gelegen.
Wie sich herausstellte, hatte der Verkäufer des
Schrottautos im Zweiten Weltkrieg an der Schlacht im Pazifik
teilgenommen. Als er an einem Strand auf Okinawa entlangging, war
er zu einem abgestürzten japanischen Kampfflugzeug gekommen; darin
befand sich der Schädel des toten Piloten, den unser patriotischer
GI als Kriegstrophäe mit nach Hause nahm. (In den folgenden Jahren
hatte ich es noch häufiger mit Schädeltrophäen aus dem Zweiten
Weltkrieg zu tun; sie waren fast immer japanischen und so gut wie
nie europäischen Ursprungs - ein interessanter Aspekt unserer
Haltung gegenüber den Toten aus unterschiedlichen Kulturkreisen.)
Irgendwann zwischen 1945 und 1973 hatte man die Schädelbasis des
japanischen Piloten - das Foramen magnum - herausgebrochen, sodass
man eine Glühlampe in den Schädel stecken konnte: Der tote Soldat
wurde zu einer schlichten Halloween-Dekoration degradiert.
Bei dem Schädel Nummer zwei handelte es sich um
einen amerikanischen Ureinwohner. Auch er war trocken, staubig und
wesentlich älter als unsere Wasserleiche. Wir mussten also weiter
nach dem fehlenden Schädel suchen. Inzwischen fing das ungelöste
Rätsel ganz buchstäblich an zu stinken. In den meisten Städten gibt
es Leichenschauhäuser, wo man die Leichen in Kühlkammern
aufbewahren kann, bis sie identifiziert sind und dann entweder von
den Angehörigen übernommen oder von den Kommunalbehörden bestattet
werden. In ländlichen Kleinstädten besteht diese Möglichkeit jedoch
nicht - und eine solche Kleinstadt war Kingston, der
Verwaltungssitz des Kreises Roane, wo unsere Leiche ans Licht
gekommen war, nachdem sich in der Bauchhöhle durch die Verwesung so
viele Gase gebildet hatten, dass sie auf dem Wasser schwamm. Der
Polizist wollte die stinkende Leiche nicht wieder mit nach Kingston
nehmen, und um ihm zu helfen, sagte ich zu, sie an der Universität
zu behalten. Allerdings verfügte auch ich nicht über eine
Kühlmöglichkeit. Da das Wochenende bevorstand, wickelte ich den
Leichnam in Plastikfolie, verschloss die Hülle so gut wie möglich
und verstaute ihn in der Putzmittelkammer einer Toilette nicht weit
von meinem Büro. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen sich noch
im Gebäude befanden, als der Hausmeister an jenem Wochenende den
Fußboden des Korridors wischen wollte, aber ich nehme an, alle -
und vermutlich auch ein paar Autofahrer, die gerade draußen
vorüberkamen - hörten ihn, als er das stinkende Bündel in seinem
Abstellraum öffnete und sah, was sich darin befand. Am Montagmorgen
machte er mir in einer Sprache, die für Wissenschaftler und
Seeleute gleichermaßen verständlich war, eines ein für alle Mal
klar: Institutsleiter hin oder her, ich dürfte unter keinen
Umständen noch einmal eine verwesende Leiche in seiner Besenkammer
oder irgendwo sonst in seinem Gebäude deponieren. Ein Verstoß, so
erfuhr ich, könne dazu führen, dass man wenig später auch meinen
Körper ohne Kopf auffinden werde.
Immer bereit, Anregungen aufzunehmen, wandte ich
mich Hilfe suchend an meinen Vorgesetzten, den Dekan der
Hochschule. Ich erklärte ihm unser kleines Dilemma, das er schnell
und gelassen zur Kenntnis nahm. Er schlug das Telefonverzeichnis
der Universität auf, blätterte in den Eintragungen der
landwirtschaftlichen Abteilung, rief kurz jemanden an, und mein
Problem war gelöst: Die Landwirtschaftsschule besaß außerhalb der
Stadt mehrere Höfe, und auf einem davon stand ein leerer
Schweinestall, der eigentlich nicht mehr als ein offener Schuppen
war. Die einzigen Nachbarn des Anwesens waren Häftlinge eines
Kreisgefängnisses, und die hatten vermutlich andere Sorgen als
einen gelegentlichen Hauch von Verwesungsgeruch. Offensichtlich war
es ein guter Ort, um Leichen vorübergehend aufzubewahren, bis wir
sie reinigen und die Knochen untersuchen konnten.
Ein paar Jahre lang klappte es gut. Irgendwann fiel
mir jedoch etwas Seltsames auf: Hin und wieder fand ich eine Leiche
in einer etwas anderen Lage vor als der, in der ich sie ein oder
zwei Tage zuvor zurückgelassen hatte. Außerdem bemerkte ich
Fußabdrücke und andere Spuren ungebetener Besucher. Schließlich
fanden wir heraus, was dort vorging. Die Häftlinge von nebenan, die
auf dem Gelände der Haftanstalt im Freien arbeiteten, hatten die
gruseligen neuen Bewohner des Stalls entdeckt und
Besichtigungstouren unternommen. Bisher war nichts gestohlen
worden, aber ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass
entscheidende kriminalistische Beweise verloren gingen -
beispielsweise ein Schädel, in dem eine aufschlussreiche Kugel
steckte.
Als ich darüber nachgrübelte, dass wir eine neue
Aufbewahrungsmöglichkeit brauchten, fiel mir Colonel Shy wieder
ein. Von ihm erfuhr ich, dass es nicht ausreicht, Leichen nur
abzulegen. Ich musste mehr tun, als nur das verwesende Fleisch von
den Knochen zu entfernen; ich musste es studieren, beobachten,
alles in Erfahrung bringen, was es mir über Tod und Verwesung sagen
konnte. Solche Forschungsarbeiten konnte ich nicht in einem
staubigen alten Stall durchführen, vor allem dann nicht, wenn er 45
Autominuten von meinen Büros und Labors entfernt war. Ich brauchte
etwas Größeres, und zwar in der Nähe.
Mittlerweile war ich seit fast sechs Jahren Leiter
des anthropologischen Instituts. Aus einer Professorenstelle für
physische Anthropologie waren mittlerweile drei geworden, und unser
Lehrangebot hatte sich von Anfängerkursen zu einem richtigen
Studiengang mit Promotionsmöglichkeit entwickelt. Allmählich wurden
wir zum Anziehungspunkt für einige der begabtesten, besten
Doktoranden im ganzen Land. Kurz gesagt, verfügten wir über die
Mittel für etwas, das man zuvor noch nie versucht hatte: Wir
konnten eine Forschungseinrichtung gründen, wie es sie auf der Welt
noch nicht gab, eine Einrichtung zur systematischen Untersuchung
mehrerer Dutzend und später sogar einiger hundert menschlicher
Leichen; ein Labor, wo die Natur am sterblichen Fleisch unter den
verschiedensten experimentellen Bedingungen ihren Lauf nehmen
konnte. Wissenschaftler und Doktoranden sollten die Vorgänge in
allen Stadien beobachten, Variablen wie Temperatur und
Luftfeuchtigkeit festhalten und den zeitlichen Ablauf der Verwesung
systematisch erfassen. Wir würden den Faden da wieder aufnehmen, wo
Sung Tz’u ihn 700 Jahre zuvor zurückgelassen hatte.
Es war eine einfache Idee, aber eine mit weit
reichenden Implikationen - und potenziellen Komplikationen. Nach
den Maßstäben und Werten der meisten Kulturkreise würden solche
Forschungsarbeiten grausig, respektlos oder sogar schockierend
wirken. Dennoch stellte der Rektor der Universität nie in Frage,
dass es sich um einen klugen Gedanken handelte; er hatte die
Entwicklung unseres Instituts auch bisher schon beobachtet und
bewundert, und jetzt zögerte er keinen Augenblick, uns zu
unterstützen. Wieder einmal war es die Frage eines einzigen
Telefongesprächs.
Genau gegenüber vom Hauptgelände der Universität,
auf der anderen Seite des Tennessee River - also eigentlich nur
einen Ballwurf vom Footballstadion entfernt - lag hinter dem
Klinikum der University of Tennessee ein ungenutztes Landstück von
ungefähr einem halben Hektar. Jahrelang hatte man dort die Abfälle
des Krankenhauses verbrannt, und es war sicher keine erstklassige
Immobilie, aber ich glaube, wenn es das gewesen wäre, hätte ich
mich dort nicht zu Hause gefühlt.
Während meines ganzen Lebens habe ich geknickert
und geknausert, um mit sehr wenig auszukommen. Ich bin während der
Weltwirtschaftskrise aufgewachsen und habe zugesehen, wie
sorgfältig meine Mutter mit dem Geld umging, das wir nach dem Tod
meines Vaters von der Versicherung erhielten. Während der
Ausgrabungen an den Indianergräbern von South Dakota fütterte ich
ganze Kompanien von hungrigen Collegestudenten mit Erdnussbutter
aus Überschussbeständen und ließ sie auf überzähligen
Armeefeldbetten übernachten. Als wir in die baufälligen, engen
Räumlichkeiten unter dem Footballstadion umzogen - die Fenster
gingen auf ein Gewirr von Stahlträgern unter der Tribüne -,
pinselte ich Wände, von denen die Farbe abblätterte, lackierte alte
Schreibtische neu und reparierte abgenutzte Aktenschränke. Als der
Rektor mir jetzt nur fünf Minuten von meinem Büro entfernt einen
halben Hektar Land anbot - selbst wenn es sich um ein
Müllgrundstück handelte -, nahm ich dankbar an: ein halber Hektar
für die Toten.
Im Herbst 1980 ging ich mit meinen Studenten an die
Arbeit. In der Mitte des Grundstücks holzten wir Bäume und Gebüsch
ab. Wir legten einen Kiesweg an, sodass Lastwagen mit Leichen und
Gerätschaften auf das Gelände fahren konnten. Von der Klinik aus
verlegten wir Wasser- und Stromleitungen. Vorwiegend in Handarbeit
rodeten und ebneten wir ein Quadrat von etwa fünf mal fünf Metern
unter schützenden Bäumen und verteilten darauf eine rund zehn
Zentimeter dicke Kiesschicht. Als diese Fläche fertig war, ließ ich
einen Lastwagen mit einer Ladung Beton kommen, deren Oberfläche ich
gemeinsam mit den Studenten glättete. Auf dem Betonfundament bauten
wir ein einfaches, fensterloses Holzhaus mit einem Dach aus
billiger Teerpappe. In diesem Gebäude konnten wir Werkzeug
aufbewahren - Schaufeln und Rechen, aber auch Skalpelle,
chirurgische Scheren und andere Instrumente sowie Gummihandschuhe
und Leichensäcke. Es nahm die volle Breite der Betonplattform ein,
war aber nur zwei Meter tief. Davor befand sich also gewissermaßen
eine Veranda von drei mal fünf Metern, wo wir ohne weiteres ein
Dutzend Leichen für unsere Verwesungsstudien ablegen konnten.
Die Besuche der Häftlinge in unserem Schweinestall
hatten deutlich gemacht, dass wir uns auch um die Sicherheit
kümmern mussten. Ich gelangte zu dem Schluss, dass wir es uns
gerade eben leisten konnten, unsere kleine quadratische
Untersuchungsfläche einzäunen zu lassen.
Wenn man die Body Farm heute sieht, denkt man
meist, sie sei von Anfang an in ihrem fertigen Zustand gewesen,
aber so war es natürlich keineswegs. Sie wuchs aus bescheidenen
Anfängen in kleinen Schritten heran. Die Fragen, die wir
beantworten wollten, waren fast lächerlich einfach: Nach welcher
Zeit fällt ein Arm ab? Wodurch und wann entsteht unter einer
verwesten Leiche die schwarze Schmiere? Wann lösen sich die Zähne
aus dem Schädel? Wie lange dauert es, bis eine Leiche zum Skelett
wird? Um nach Antworten suchen zu können, mussten wir zunächst
Forschungsobjekte finden. Wir hatten das Gelände, jetzt brauchten
wir die Leichen. Ich schrieb an die amtlichen medizinischen
Sachverständigen und Bestattungsunternehmer in allen 95 Kreisen von
Tennessee.
An einem Donnerstagabend Mitte Mai 1981 fuhr ich
schließlich mit einem geschlossenen Lieferwagen zum Burris Funeral
Home in Crossville, Tennessee - der Ort liegt auf dem Cumberland
Plateau, etwa eine Autostunde von Knoxville entfernt. Dort holte
ich unser erstes gespendetes Forschungsobjekt ab: die Leiche eines
73-jährigen weißen Mannes, der an chronischem Alkoholismus,
Emphysemen und einer Herzkrankheit gelitten hatte. Seine Identität
kannten wir - seine Tochter hatte die Leiche zur Verfügung gestellt
-, aber aus Gründen der Vertraulichkeit teilten wir ihm eine
eindeutige Identifizierungsnummer zu. Im Leben hatte er eine
Familie und einen Namen gehabt; im Tod hieß er schlicht »1-81«: die
erste Leiche, die dem Institut für Anthropologie im Jahr 1981
gestiftet worden war. (Meine gerichtsmedizinischen Fälle erhielten
die gleichen Zahlenpaare, aber in umgekehrter Reihenfolge: Der
erste Kriminalfall aus diesem Jahr trug die Bezeichnung 81-1. Es
war kein besonders fantasievolles System, aber es erfüllte seinen
Zweck.)
Am nächsten Morgen legte ich zusammen mit einer
Hand voll Doktoranden die Leiche 1-81 auf die Betonfläche, die wir
ein paar Monate zuvor gegossen hatten. Um 1-81 vor Nagetieren und
anderen kleinen Räubern zu schützen, die sich durch den Zaun
quetschen konnten, stellten wir ein mit feinem Maschendraht
überzogenes Holzgestell über die Leiche. Einer nach dem anderen
verließen wir das eingezäunte Areal. Ich schloss die Tür und hängte
ein Vorhängeschloss an den Riegel. An meinem Ohr strich eine Fliege
vorüber. Die anthropologische Forschungseinrichtung hatte mit ihrem
ersten wissenschaftlichen Projekt begonnen. Der halbe Hektar für
die Toten war in Betrieb. Die Body Farm war geboren.