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Indianerleichen und Staudammbauer
Der Himmel über den Ebenen von South Dakota war tiefblau und verdunkelte sich ganz oben fast ins Violette. Im Westen fielen unregelmäßige graue Regenvorhänge aus hoch aufgetürmten Kumuluswolken, aber sie verdunsteten, lange bevor sie den Erdboden erreichten. Aus fast 5000 Metern Höhe konnte ich durch das Flugzeugfenster ein weites Stück der hügeligen Prärie überblicken. Gras und Gebüsch waren fast völlig braun; noch brauner war der Missouri, der sich schlammig von Nordwesten durch die Landschaft schlängelte und noch schlammiger nach Südosten wieder aus dem Blickfeld verschwand. Man hatte mir gesagt, es gebe hier nur wenige grüne Flecken: kleine Kreise mit üppigem Gras, die sich irgendwo nördlich von uns über die Hügel am Flussufer verteilten und die Lage eines alten Dorfes der Arikara markierten. Wir schrieben den Sommer 1957, vor mir lag ein gewaltiger neuer Horizont, und meine Spannung wuchs.
Als die Motoren gedrosselt wurden und die DC-3 der Frontier Airlines durch die Turbulenzen langsam tiefer ging, stieg ein neues Gefühl in mir auf: Reisekrankheit, meine lebenslange Achillesferse. Glücklicherweise war das Flugzeug unten, bevor mir das Frühstück hochkam.
Am späten Vormittag landeten wir in Pierre. Die wenigen Passagiere traten mit eingezogenen Köpfen durch die ovale Öffnung im Flugzeugrumpf, kletterten die Treppe hinunter und gingen in die weiß getünchte einzige Halle des Flughafens. Ich sah mich nach Bob Stephenson um, dem Archäologen der Smithsonian Institution. Er hatte versprochen, mich abzuholen, aber jetzt konnte ich ihn nirgendwo entdecken. Wenig später waren die anderen Passagiere verschwunden, und ich stand allein in der leeren Wartehalle, weit weg von zu Hause.
Der Kontrollturm des Flughafens sah aus wie ein Baumhaus auf Stelzen. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, kletterte ich hinauf und fragte den Fluglotsen, ob er die Archäologen kenne, die in der Nähe der Stadt tätig waren. Ich erklärte, Dr. Stephenson habe zugesagt, mich abzuholen und zu ihrer Arbeitsstelle zu bringen. »Na, der ist vermutlich irgendwo im Schlamm stecken geblieben«, sagte der Fluglotse. »Letzte Nacht hatten wir eine Menge Regen, und wenn es hier feucht ist, wird alles ganz schön glitschig.« Am Spätnachmittag tauchte Bob schließlich auf. Er war von oben bis unten voller Schlamm und entschuldigte sich vielmals. Drei Stunden hatte er festgesessen. Damals wusste ich noch wenig, aber auch ich sollte - aus freiem Willen - ebenfalls hier hängen bleiben, und zwar während der nächsten 14 Sommer.
Dass ich nach South Dakota gekommen war, war dem gemeinsamen Einfluss des U.S. Army Corps of Engineers, der Smithsonian Institution und der letzten Eiszeit zu verdanken (die, das sollte ich hinzufügen, schon ein wenig vor meiner Zeit zu Ende war). Vor 20 000 Jahren drang eine dicke Kappe aus Gletschereis erbarmungslos über die großen nordamerikanischen Ebenen nach Süden vor. Sie schob Berge von Erde und Gestein vor sich her, zerrieb Felsen zu feinkörnigem Schwemmlandboden und gab Millionen Quadratkilometern der Erdoberfläche ein ganz neues Gesicht.
Jetzt war eine ebenso erbarmungslose Armee aus Ingenieuren, Archäologen und Anthropologen in der Prärie eingefallen, und auch sie hatten eine Reihe von Änderungen vorgenommen. Die Ingenieure hatten das Gelände unter Wasser gesetzt; wir anderen waren hektisch mit Ausgrabungen beschäftigt, durchstöberten und durchsiebten den Boden nach vergrabenen Schätzen - archäologischen Kostbarkeiten. Es war ein verzweifelter Wettlauf gegen die steigenden Fluten des neu aufgestauten Flusses Missouri.
Der Missouri ist vielleicht der am meisten unterschätzte Fluss der Welt. Bei uns in den Vereinigten Staaten steht er im Schatten des Mississippi, und das ist nach meiner Überzeugung höchst ungerecht. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Der Mississippi ist ein gewaltiger Fluss. Mit seinen 3779 Kilometern vom Lake Ithasca in Minnesota bis zu seinem Delta in Louisiana ist er eine riesige Wasserstraße, die sich mitten durch das Herz der Vereinigten Staaten zieht.
Ungerecht aber ist die Rangordnung, die man zwischen den beiden Flüssen hergestellt hat. Verfolgen wir einmal einen Regentropfen, der am Lake Ithasca in den Oberlauf des Mississippi fällt. Dieser Tropfen wandert 3779 Kilometer und gelangt dann in die salzigen Untiefen des Golfes von Mexiko. Fällt jedoch ein Regentropfen in Montana in eine Quelle am östlichen Abhang der Rocky Mountains, treibt er zunächst mehr als 3700 Kilometer im Missouri, bis er am Zusammenfluss mit dem Mississippi angelangt ist; von dort sind es dann noch einmal 2270 Kilometer bis zum Golf - eine Gesamtstrecke von fast 6000 Kilometern. Länger sind nur der Nil und der Amazonas. Legt man also die Länge zugrunde, sollte man eigentlich den Missouri als Hauptfluss und den Mississippi als Nebenfluss bezeichnen.
Der Missouri ist auch in anderer Hinsicht ein erstaunlicher Fluss. Soweit ich weiß, hat er es sich als Einziger in kontinentalen Ausmaßen anders überlegt und seinen Zielpunkt gewechselt. Vor der letzten Eiszeit floss der Missouri nach Nordosten ins heutige Kanada, wo er in das eisige Wasser der Hudson Bay mündete. Als die Gletscher dann wie riesige Bulldozer das ganze Land neu formten, nutzte der Missouri eine Lücke und wandte sich nach Süden in Richtung der warmen Gewässer vor Mexiko, wo er nun über 3000 Kilometer von seiner ursprünglichen Mündung entfernt endete.
Während dieser ganzen Zeit wurde der Missouri auch Zeuge dramatischer Veränderungen bei den Lebewesen, die in seinem riesigen Einzugsgebiet zu Hause waren. Vor rund 100 Millionen Jahren gehörten Montana sowie North und South Dakota zum Verbreitungsgebiet der Dinosaurier. Später folgte eine Fülle warmblütiger Tiere von Geparden über Kamele und Wollhaar-Mammuts bis zu riesigen Säbelzahnkatzen. Wir selbst erschienen erst recht spät auf der Bildfläche: Die ersten menschlichen Bewohner wanderten vermutlich vor etwa 12 000 Jahren über eine Landbrücke aus Asien ein.
Jahrtausendelang führten diese amerikanischen Ureinwohner ein Nomadenleben. Vor etwa 2000 Jahren fingen sie dann in ihrer Mehrzahl an, Nutzpflanzen anzubauen und sesshaft zu werden. Sie bauten Dörfer aus Erdhütten, runden Bauwerken, für die ein Loch gegraben und mit einem kuppelförmigen Holzgerüst abgedeckt wurde; dieses wurde dann zum Schutz gegen den sengenden Sommer und die eisigen Winter mit Erde und Gras bedeckt. Heute würde man von »Höhlenbehausungen« sprechen. Die Indianer der großen Ebenen nannten sie einfach »Zuhause«.
Aber die Höhlenbehausungen waren nichts Nachhaltiges. In den Prärien gab es nur wenige Bäume, und die wuchsen vorwiegend in der »untersten Etage« der Flussniederungen. Nach ungefähr einer Generation war das Flussufer viele Kilometer stromaufwärts und stromabwärts von einem Dorf abgeholzt. Die Frauen - ihre Aufgabe war es, Brennstoff und Baumaterial zu sammeln - mussten immer größere Entfernungen zu Fuß zurücklegen, um noch Holz zu finden. Schließlich ließen sie die müden Füße ruhen, und der Stamm zog am Fluss ein paar Dutzend Kilometer aufwärts oder abwärts, um sich in einem unberührten Waldstück niederzulassen. 100 Jahre später, wenn der Wald in der Flussniederung nachgewachsen war, kehrten sie dann unter Umständen zu der Stelle zurück, an der ihre Vorfahren das Dorf verlassen hatten.
Im 18. Jahrhundert waren in den großen Ebenen des amerikanischen Mittelwestens zahlreiche Indianerstämme ansässig. Im Norden lebten und kämpften vier große Stämme: die Furcht erregenden Sioux, die Nomaden geblieben waren, sowie die sesshaften Mandan, Hidatsa und Arikara. Im heutigen mittleren South Dakota bauten die Arikara riesige Dörfer aus Erdhütten, die neben den Häusern mehrerer hundert Familien auch große Gebäude für Zeremonien umfassten.
Dann brach mit der Ankunft der weißen Entdecker und Pelzhändler eine neue Zeitrechnung an. Unter ihnen waren Lewis und Clark, aber sie waren keineswegs die Ersten. Als das Corps of Discovery 1804 in ein Dorf der Mandan kam, traf es dort auf blonde, blauäugige Indianer, die Nachkommen einheimischer Frauen und französischer Entdecker oder Trapper.
Auf ihrem Weg stromaufwärts in das neu erworbene Territorium von Louisiana unternahmen Lewis und Clark den Versuch, die Arikara und die Mandan in einem Dreierbündnis mit der US-Regierung gegen die Sioux zu vereinigen, aber die Arikara widersetzten sich der Koalition und lieferten sich mit der Expedition, die weiter stromaufwärts unterwegs war, sogar ein kurzes Scharmützel. Mehr Glück hatten die Entdecker mit den Mandan. Bei ihnen überwinterte das Corps of Discovery in jenem Jahr; die Entdecker trieben Handel und jagten mit den Männern der Mandan, genossen aber auch die sexuelle Gunst ihrer Frauen. Häufig geschah dies mit ausdrücklicher Unterstützung der Ehemänner, denn die glaubten, ihre Frauen würden den »Zauber« der Weißen empfangen und weitergeben. Leider wurde dabei in der Regel ausschließlich die Syphilis übertragen.
Als die Lewis-Clark-Expedition 1806 den Rückweg stromabwärts antrat, hatte sie erneut einen Zusammenstoß mit den Arikara. Meriwether Lewis schickte 1809 - während seiner Amtszeit als Gouverneur des Territoriums von Louisiana, die in ausgesprochen schlechter Erinnerung blieb - eine Armee aus 500 Weißen und Indianern am Missouri stromaufwärts; sie hatte den Befehl, die Arikara auszulöschen, falls sie sich noch einmal auf einen Kampf einließen.
Aber bei aller Tapferkeit standen die Arikara damals im Begriff, auszusterben. 50 Jahre nach der Expedition von Lewis und Clark war der Stamm so gut wie verschwunden, ausgerottet durch die Sioux, die weißen Siedler und die Pocken. Die Arikara ließen auf der zweiten und dritten Etage der Flussniederungen am Missouri Hunderte von Erdhütten und Tausende von Gräbern zurück.
Im Jahr 1957, als die letzten Spuren der Arikara-Kultur im großen Strom des Fortschritts zu ertrinken drohten, erteilte mir die Smithsonian Institution den Auftrag, in der kurzen noch verbleibenden Zeit bei der Ausgrabung von möglichst vielen Überresten mitzuwirken.
 
 
Zu den großen Museen der Smithsonian Institution an der Mall in Washington, D. C., gehört das National Museum of Natural History. In seinem Erdgeschoss, unter der gewaltigen Kuppel, wacht ein riesiger afrikanischer Elefant. Mehrere Etagen darüber, auf den Galerien, die das vierte, fünfte und sechste Stockwerk der Rotunde säumen, befinden sich Schränke, Schubladen und Regale voller Skelette von amerikanischen Ureinwohnern. So war es jedenfalls früher.
Heute haben sich unsere Ansichten über die Ausgrabung von Gräbern und das Sammeln von Knochen grundlegend verändert. Im Jahr 1990 verabschiedete der US-Kongress nach hartnäckiger Lobbyarbeit der Ureinwohnerstämme ein Gesetz, das die Bergung von Skelettresten amerikanischer Ureinwohner verbietet. Darüber hinaus schreibt das Gesetz vor, dass Museen und andere Institutionen solche Skelettteile zurückgeben müssen, wenn der betreffende Stamm heute noch existiert. Dahinter steht ein ganz einfacher Gedanke: Sterbliche Überreste von Toten sind keine Sammler- oder Ausstellungsstücke, sondern heilige Reliquien, die man ihrem Heimatland zurückgeben und mit der gebotenen Ehrfurcht bestatten soll. Aus spiritueller Sicht leuchtet das völlig ein.
Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten jedoch haben Ausgrabungen und Sammlungen wie die der Smithsonian Institution entscheidend dazu beigetragen, die Geschichte, Kultur und Evolution der Menschen im Allgemeinen und der amerikanischen Ureinwohner im Besonderen aufzuklären. Durch Vergleich der Knochen von vielen tausend Menschen konnten die Wissenschaftler ein detailliertes Bild von den ursprünglichen Bewohnern Nordamerikas zeichnen: Heute kennen wir ihre Größe, ihre Körperkraft, ihre Ernährung, ihre durchschnittliche Lebensdauer, die Kindersterblichkeit und vieles andere. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gingen solche Knochen in derart großer Zahl bei der Smithsonian Institution ein, dass die Wissenschaftler des Museums sie nicht alle sofort auswerten konnten.
Das war mein Glück.
 
 
Die Anthropologie hatte ich für mich während der letzten beiden Jahre meines Grundstudiums an der University of Virginia entdeckt. Für mein Hauptfach, die Psychologie, hatte ich damals die meisten Lehrveranstaltungen abgeschlossen, sodass ich am Ende ein wenig Zeit für Wahlfächer frei hatte. Als ich die Seminarangebote durchlas, blieb mein Blick als erstes bei »Anthropologie« hängen. (Was nicht verwunderlich ist, denn es war eine alphabetische Liste. Hätte ich nicht am Anfang, sondern am Ende zu lesen begonnen, wäre ich vielleicht Zoologe geworden!)
An der University of Virginia gab es eigentlich nicht einmal ein anthropologisches Institut, sondern nur Clifford Evans, einen einsamen Professor, den man in das Institut für Soziologie gesteckt hatte. Aber Evans war ein abenteuerlustiger Freilandforscher und anregender Lehrer. Er war kurz zuvor von Ausgrabungsarbeiten an einem prähistorischen Dorf in Brasilien zurückgekommen, und er machte die vorzeitlichen Bewohner in seinen Vorlesungen mit Dias und Erzählungen lebendig. Ich versäumte keine einzige Stunde bei ihm.
Als ich im Frühjahr 1956 an der University of Kentucky mein Examen in Anthropologie ablegte, berichtete ich Evans in einem Brief darüber. Ich glaubte, ich sei vielleicht sein einziger Student, der jemals einen Studienabschluss in Anthropologie gemacht hatte, und dachte, er würde sich über die Nachricht freuen. Er hatte aber mittlerweile die University of Virginia verlassen und eine Stelle als Kurator für Archäologie an der Smithsonian Institution angenommen.
Evans antwortete sofort auf meinen Brief. Er konnte sich noch gut an mich erinnern und erklärte, er sei froh über meine Fortschritte. Außerdem teilte er mir mit, die Smithsonian Institution brauche unbedingt Hilfe bei der Analyse der vielen Skelettfunde von amerikanischen Ureinwohnern, die sie aus den großen Ebenen des Mittelwestens erhielt. Er bot an, mir die Stelle zu verschaffen. Es war eine großartige Gelegenheit, und sie kam zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt.
Der Auslöser für die Flut der Knochen war das U. S. Army Corps of Engineers. Man hatte diese Einheit geschaffen, um die überschwemmungsträchtigen Flüsse zu bändigen, und dieser Aufgabe widmete sie sich mit Nachdruck. Ende der vierziger Jahre hatten ihre Ingenieure den Mississippi zum größten Teil begradigt und mit Deichen versehen, und jetzt machten sie sich über andere Flüsse her. In den fünfziger Jahren arbeiteten sie sich am Missouri aufwärts.
Als sie in der Mitte von South Dakota ankamen, hatte ihre Tätigkeit bereits einen gewaltigen Umfang. Etwa zehn Kilometer stromaufwärts von der Stadt Pierre (die nicht wie der französische Vorname, sondern »Pier« ausgesprochen wird) türmten sie einen fast 80 Meter hohen und drei Kilometer langen Damm auf. Der Oahe-Damm, wie er nach einem Versammlungshaus der Sioux genannt wurde, war zu Beginn der Arbeiten 1948 der größte aufgeschüttete Erddamm der Vereinigten Staaten und ist es bis heute geblieben.
Entsprechend riesig war auch der Stausee, der hinter ihm entstand. Mit einer vorgesehenen Länge von 365 Kilometern und einer größten Breite von 32 Kilometern wurde der Lake Oahe zu einem der größten künstlichen Seen Nordamerikas. Er sollte viele hundert Quadratmeter der Prärie überfluten - und auch unzählige archäologische Stätten der amerikanischen Ureinwohner.
Das Corps of Engineers hatte einen Teil der Baukosten für archäologische Forschung und Ausgrabungen vorgesehen und mit der Smithsonian Institution einen Vertrag über die wissenschaftlichen Arbeiten geschlossen. Die dafür vorgesehenen Mittel waren ein winziger Bruchteil - ungefähr ein halbes Prozent - des Gesamtetats für den Damm, aber dieser Gesamtetat war so riesig, dass die Smithsonian River Basin Surveys, wie man das Projekt nannte, nach archäologischen Maßstäben immer noch zu einem umfangreichen, gut finanzierten Vorhaben wurde. Während das Corps of Engineers immer mehr Erde auftürmte, um den Fluss aufzustauen, machte sich ein kleines Heer von Archäologen und ihren Helfern - Studenten und Doktoranden - in dem zukünftigen Überschwemmungsgebiet an die Ausgrabungsarbeiten. Den Anfang machte eine wichtige Stätte der Arikara unmittelbar stromaufwärts vom Damm, die als Erste unter Wasser liegen würde. Man nannte sie Sully-Stätte - das war einfach der Name des Landkreises, in dem sie sich befand. Auf der zweiten Geländestufe, oberhalb der eigentlichen Flussniederung, hatten die Arikara das größte Erdhüttendorf errichtet, das man jemals entdeckt hat.
Das wichtigste Indiz für den archäologischen Gehalt der Stelle war eine Reihe von Kreisen, manche mit einem Durchmesser von fünf bis sechs Metern, andere aber auch in allen Größen bis zu knapp 20 Metern. Sie zeigten an, wo sich die Erdhütten befunden hatten; als diese abgebrannt oder in sich zusammengestürzt waren, hatten sie in der Prärie jeweils eine flache Senke hinterlassen, weil sie bis zu einem Meter in das umgebende Gelände hineingegraben waren. In der Region regnet es wenig - in der Regel nur knapp 400 Millimeter im Jahr -, und deshalb wurden die Senken, in denen sich Regen und Sickerwasser sammelten, zu winzigen grünen Inseln in der braunen Prärie. (Nur 120 Millimeter Niederschlag mehr, und die Gegend wäre nicht mit Gras bewachsen, sondern bewaldet gewesen.) Die kleineren grünen Kreise waren die Reste mehrerer hundert Häuser, in denen jeweils bis zu 15 oder 20 Personen gewohnt hatten; die wenigen größeren waren Gemeinschaftsräume oder wurden für Zeremonien benutzt.
Wie viele Erdhüttendörfer der Arikara, so war auch die Stätte von Sully ungefähr seit dem Jahr 1600 mehrmals besiedelt worden. Wenn alle Bäume in der Umgebung abgeholzt waren, gab man sie auf, und wenn der Wald am Flussufer nachgewachsen war, war sie wieder bewohnt. Aus der Datierung der Funde ergab sich für die Archäologen die Erkenntnis, dass sie mindestens drei Mal besiedelt wurde, bevor man sie um 1750 endgültig aufgab.
Am Boden waren die Senken der früheren Erdhütten nicht ohne weiteres zu sehen, aber man konnte sie leicht fühlen: Jeder Bauer oder Archäologe, der in einem Last- oder Geländewagen über die Prärie fuhr, spürte ganz deutlich, wie das Fahrzeug ein wenig absackte und dann wieder in die Höhe stieg. An der Sully-Fundstätte gab es so viele derartige Senken, dass eine Fahrt über das Gelände einer Runde auf einer riesigen Achterbahn gleichkam.
Da das Dorf so groß und so lange bewohnt war, wurde es für die Archäologen zu einer ungeheuren Fundgrube: Man fand Küchenutensilien, landwirtschaftliche Gerätschaften, Waffen, Schmuck und Knochen - Tausende und Abertausende von Knochen, weit mehr, als die wenigen medizinischen Anthropologen der Smithsonian Institution in Washington ordnen und vermessen konnten.
Das war der Stand der Dinge, als ich auf der Bildfläche erschien, an dem ausgestopften Elefanten unter der Rotunde vorüberging und zum ersten Mal einen Sommer dem Katalogisieren von Knochen widmete. Als kleiner Studienanfänger hatte ich kein Telefon, keine eigenen Lieblingsprojekte, keine Fachaufsätze, die ich schreiben oder begutachten musste, und auch sonst keine der Ablenkungen, mit denen es ein Wissenschaftler von höheren Graden zu tun hat; ich konnte also von morgens bis abends Knochen untersuchen. Und das tat ich auch - einen ganzen Sommer lang und den größten Teil des nächsten. Im Spätsommer 1957 nahm der Leiter des Projekts mich dann mit nach South Dakota.
Ich war zuvor noch nie westlich des Mississippi gewesen, und ich hatte noch nicht einmal in einem Flugzeug gesessen. Durch die Reise nach South Dakota eröffnete sich mir eine ganz neue Welt. Die Knochen, die dort in der Erde verborgen waren, sollten mich vieles lehren. Manche Lektionen lernte ich auch durch die jungen Studenten, die sich in der Hitze und dem Staub der Flussterrassen am Missouri abmühten. Andere vermittelten mir die Ameisen und Klapperschlangen, die sich mit uns durch die Erde wühlten. Alle diese Lehren sollten mir in den folgenden Jahren nützlich werden, als ich die Geheimnisse, die ich bei den vor Jahrhunderten Verstorbenen gelüftet hatte, zur Aufklärung neuer Mordfälle nutzte.
 
Als ich im August 1957 in South Dakota ankam, ging der Sommer dort seinem Ende entgegen. Nur noch zwei Wochen, dann wollte man das Projekt abschließen, damit Professoren und Studenten an ihre Hochschulen zurückkehren konnten. Ich hoffte, dass ich Stephenson in diesen beiden kurzen Wochen bei der Beantwortung einer Frage helfen konnte, die ihn schon seit zwei Jahren beschäftigte und frustrierte: Wo hatten die Arikara ihre Toten versteckt?
Aus der Zahl der ausgegrabenen Erdhütten schloss er, dass die Bevölkerung des Dorfes aus mehreren hundert Menschen bestanden hatte und dass es mehrere Jahrzehnte lang besiedelt war. Aber bisher hatten Stephensons Mitarbeiter nur die Überreste weniger Dutzend Personen gefunden. Wo waren die anderen?
Manche Indianerstämme, beispielsweise die Sioux, legen die Leichen der Verstorbenen auf erhöhte Gerüste, sodass sie im Freien verwesen. Ein altes Sioux-Skelett findet man deshalb nur selten, denn die Knochen werden häufig von Kojoten, Geiern und anderen Aasverwertern über ein großes Gebiet verstreut. Dagegen gab es bei den Arikara für Bestattungen offensichtlich eine einheitliche Praxis. In der Regel hoben die Frauen das Grab aus, und dazu benutzten sie Schaufeln, die sie aus den Schulterblättern von Bisons hergestellt hatten. Es war harte Arbeit mit primitiven Werkzeugen; um die Aufgabe überhaupt bewältigen zu können, gestalteten sie die Gräber so klein und kompakt wie möglich: Die Grube war rund und nur einen knappen Meter tief - oder noch kleiner, wenn es sich um ein Kind oder eine Frau handelte -, und der Leichnam wurde in einer gekrümmten Embryonalhaltung mit zur Brust gezogenen Beinen und gekreuzten Armen hineingelegt. Anschließend füllte man die Grube auf und bedeckte sie mit Ästen, Baumstämmen oder Gebüsch, um Aasfresser abzuhalten; auf das Holz kamen Erde und Gras.
Im August dieses zweiten Sommers war Stephensons Frustration groß. Einerseits stellten die aufgefundenen menschlichen Überreste keine ausreichende Erklärung für die Bevölkerungszahl des Dorfes dar, andererseits konnte man aus ihnen aber auch keine ausreichenden Schlüsse über Leben und Tod der Arikara ziehen. Stephenson war nicht dumm: Er wusste genau, dass es irgendwo in der Nähe einen Arikara-Friedhof geben musste. Aber wenn wir ihn nicht bald fanden, hatten wir unsere Chance vertan.
Bei archäologischen Grabungen geht man nach Planquadraten vor: Das Gebiet wird in Quadrate von eineinhalb mal eineinhalb Metern eingeteilt, von denen man dann eine dünne Erdschicht nach der anderen abträgt. Die Quadrate werden nummeriert, und wenn man sich dann bei den Grabungen von einem Quadrat zum nächsten vorarbeitet, wird genau protokolliert, in welchem Quadrat und wo innerhalb des Quadrates - in horizontaler und vertikaler Richtung - Fundstücke entdeckt werden. Diese Methode ist ordentlich, genau und zum Verrücktwerden langsam - manchmal braucht man für ein Quadrat eine Woche oder mehr. Im Laufe eines ganzen Sommers gräbt man dann unter Umständen nur eine Fläche mit einer Kantenlänge von zwölf bis 15 Metern aus. Wir mussten in viel weniger Zeit ein viel größeres Gebiet untersuchen. Stephenson übertrug mir die Leitung einer Gruppe von zehn Studenten und drängte mich, die Toten der Arikara bis zum Monatsende zu finden.
In South Dakota ist es im August sengend heiß, und die Prärie ist ein riesiges Gebiet. Um mit der Suche schnell voranzukommen, brauchten wir eine kleine Armee von Helfern. Und wie sich herausstellt, hatten wir eine sehr große Armee von sehr kleinen Helfern: die Ameisen, die zu Milliarden in der Prärie ihre Gänge gruben.
Den Boden der großen Ebenen bezeichnet man als Löss. Der Begriff hängt mit dem Wort »lose« zusammen. Löss ist so fein wie Mehl und wird bei Trockenheit zu Staub. Gibt man jedoch Wasser hinzu, verändert er sich völlig. Nasser Löss ist vielleicht das Glitschigste, was es auf der Erde gibt, und wenn er über nassem Schiefer liegt - dem vermutlich zweitglitschigsten Material der Welt -, wird die Sache wirklich interessant: Als wären die Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt, verschwinden Reibungskräfte (und damit der Halt für Autoreifen) praktisch völlig. Das war der Grund, warum der arme Bob Stephenson sich so verspätet hatte, als er mich am ersten Tag abholen wollte.
Löss ist ein idealer Untergrund für Ameisen. Er ist weich, man kann leicht darin graben, aber er hält auch gut zusammen; wenn eine Arbeiterameise darin einen Tunnel gebaut hat, kann sie ziemlich sicher sein, dass dieser Hohlraum in nächster Zeit nicht in sich zusammenstürzen wird.
Noch besser als jungfräulicher Löss ist aus der Sicht unserer fleißigen Ameisen ein Löss, der bereits aufgewühlt und gelockert wurde - zum Beispiel weil Menschen darin ein Grab geschaufelt und wieder aufgefüllt haben. Das ist schön, hier gräbt es sich leicht, denkt die Ameise, wenn sie sich durch eine Grabstätte wühlt. Aber Moment mal - was ist denn das hier? Wenn sie etwas Großes findet, das sie nicht bewegen kann, gräbt sie sich darum herum. Kann sie es dagegen wegschleppen, zerrt sie es an die Oberfläche und schiebt es ins Freie.
Der Abfall des einen Gräbers ist der Schatz des anderen. An den ersten Tagen meines Aufenthalts in South Dakota kroch ich häufig in gebückter Haltung durch das kurze Gras und Buschwerk der Prärie. Die meisten Ameisenhaufen bestanden nur aus aufgeworfenem Löss mit ein paar untergemischten kleinen Kieselsteinen. Aber hin und wieder fand ich auch etwas anderes. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich winzige Fingerknochen, verwitterte Fußknochen und - besonders verblüffend - leuchtend bunte Farbflecken: blaue Glasperlen, wie sie vor 200 Jahren von den Kaufleuten und Indianern nicht nur für Schmuckstücke, sondern auch als Währung verwendet wurden. Als wir unmittelbar unter solchen Ameisenhügeln zu graben begannen, fanden wir in nur 30 Zentimetern Tiefe die verrotteten hölzernen Abdeckungen von Gräbern. Bingo! Wir durchkämmten das Gelände von dem Dorf aus sternförmig in alle Richtungen und hielten fest, wo die Ameisen solche winzigen Grabkennzeichnungen in besonders viel versprechender Dichte angebracht hatten. Dann gruben wir entlang von Linien, die von dem eigentlichen Dorf ausgingen, probeweise einzelne Quadrate aus, die aber nicht mehr nebeneinander lagen, sondern jeweils einen Abstand von mindestens eineinhalb Meter hatten, manchmal aber auch sechs oder sogar zehn Meter vom vorherigen Quadrat entfernt waren.
Diese letzte, hektische Anstrengung war fast zu viel für die Mitarbeiter. Aber als wir fertig waren, wussten wir, dass wir einen riesigen Friedhof der Arikara gefunden hatten. Schon in unseren Reihen von Probequadraten hatten wir Dutzende von Gräbern gefunden; danach zu urteilen, musste es hier insgesamt Hunderte von Begräbnisstätten geben.
Aber jetzt wurde die Zeit knapp. Mit den Ausgrabungen mussten wir uns bis zum nächsten Sommer gedulden.
 
 
Ich war den fleißigen Ameisen von South Dakota zutiefst dankbar und bin es bis heute geblieben.
Gegenüber den Klapperschlangen hege ich keine solchen Gefühle. Im Gegenteil: Wenn ich etwas fürchtete, als der Sommer 1959 nahte, dann waren es diese blöden Klapperschlangen.
Die Prärie ist für Schlangen ein idealer Lebensraum. Es gibt dort eine Fülle von Mäusen, Kaninchen, Vögeln und anderen kleinen Beutetieren. Wie die Ameisen, so können auch die Schlangen leicht Tunnel durch den Boden graben. Deshalb lebt in der Prärie schon von vornherein ein dichter Bestand von Klapperschlangen. Hinzu kommt der Druck durch den schrumpfenden Lebensraum: Seit 1957 füllte sich der Lake Oahe, und die Flussniederungen verschwanden zunehmend im Wasser. Wie nicht anders zu erwarten, zogen die Klapperschlangen in höher gelegenes Gelände - auf die Terrassen, wo eine Meute geistesabwesender Anthropologen im Gras herumkroch, in Gräbern stocherte und blind aus Gruben heraus nach einer Maurerkelle oder einer Bürste griff.
Prärieklapperschlangen sind für Klapperschlangen relativ klein. Im Gegensatz zur Diamantklapperschlange, die bis auf zwei Meter heranwachsen kann und so dick wie das Handgelenk eines Totengräbers wird, sind die Prärieklapperschlangen kaum einmal länger als einen Meter. Aber sie sind ekelhafte kleine Teufel und neigen dazu, ohne große Umstände anzugreifen. Das, so erkannte ich, war auch für uns eine gute Strategie.
Als Wissenschaftler weiß ich, dass die Klapperschlangen eine wichtige ökologische Nische besetzen: Sie sind ein unentbehrliches Glied der Nahrungskette, die wichtigste Raubtierart, die verhindert, dass Mäuse und andere Nagetiere in der Prärie überhand nehmen. Auf der Vernunftebene begreife ich das vollkommen. Aber auf der Ebene von Instinkt und Gefühl habe ich Angst vor den verdammten Viechern. Vielleicht sollte ich es lieber nicht eingestehen, aber ich war immer davon überzeugt, dass nur eine tote Klapperschlange eine gute Klapperschlange ist. Wenn mir ein lebendes Exemplar begegnet, neige ich zu der Haltung: »Die Prärie ist nicht groß genug für uns beide.« Wenig später stand ich in dem Ruf, die schnellste Schaufel im ganzen Westen zu führen.
Zu den morgendlichen Ritualen der Anthropologen gehört das Schärfen der Schaufeln. Eine scharfe Schaufel dringt viel besser in den Boden ein als eine stumpfe. Auch eine Schlange zerschneidet sie viel besser. Jeden Morgen ließen wir eine Feile herumgehen und schärften unsere Gerätschaften, wetzten Scharten aus, die das Gestein hinterlassen hatte, und schliffen sie dann, bis sie scharf wie ein Rasiermesser waren. Ob eine Schaufel wirklich scharf ist, kann man ganz einfach überprüfen: Schneidet sie die Haare vom Unterarm? Ich nahm mir nicht immer die Zeit, mein Gesicht einzuseifen und zu rasieren, aber mein Unterarm war jeden Morgen glatt und nackt wie ein Babypopo. Hätte ich für jede Prärieklapperschlange, die ich mit meiner Schaufel erlegte, eine Kerbe in den Griff geschnitten, wäre irgendwann vor lauter Kerben kein Griff mehr übrig geblieben.
Schlangenliebhaber wären über mein rigoroses Vorgehen sicher entsetzt, aber man muss es im richtigen Zusammenhang betrachten. Nachdem der Stausee anstieg und immer mehr Lebensräume verloren gingen, war die Zahl der Klapperschlangen ohnehin so groß, dass die verbliebenen Flächen sie nicht ernähren konnten. Zweitens - und das war für mich viel wichtiger - hatte man mir die Verantwortung für die Sicherheit der Studenten übertragen, die bei mir arbeiteten. Insgesamt war ich 14 Jahre lang jeweils im Sommer zu Ausgrabungen in South Dakota, eine Zeit, die von meiner Tätigkeit als Doktorand in Philadelphia über den Lehrbeauftragten an der University of Nebraska bis zum Professor auf Lebenszeit an der University of Kansas reichte. In diesen Jahren waren insgesamt fast 150 Studenten bei mir in der Prärie tätig, und während dabei eine ganze Reihe von Klapperschlangen durch solche artübergreifenden Begegnungen zu Tode kamen, blieben meine Studenten ausnahmslos unversehrt.
Anderswo dagegen starben leider auch Studenten.
Die Prärie ist insbesondere im Sommer berüchtigt für ihre plötzlichen, heftigen Wetterumschwünge. Das viele Gras gibt ungeheure Feuchtigkeitsmengen ab. In der sengenden Sonne steigt der Wasserdampf auf, bis er kondensiert, und dann bilden sich flauschige weiße Schäfchenwolken, manchmal aber auch schwarze, sieben Kilometer hohe Gewitterwolkenberge.
Vier Studenten aus der Mannschaft eines Archäologen waren gerade mit dem Boot auf dem Rückweg von einem abgelegenen Dorf, als sie in ein Unwetter gerieten. Sie hatten es kommen sehen und waren bemüht, vorher zurück zu sein, aber in der Prärie kann ein Sturm ebenso schnell und unbarmherzig zuschlagen wie eine verärgerte Klapperschlange. Bei orkanartigem Wind und ozeanartigen Wellen kenterte das Boot, und alle vier ertranken. Schwimmwesten hatten sie zwar an Bord, aber sie waren jung und hielten sich für unsterblich - keiner hatte das lebensrettende Kleidungsstück angelegt. Als das Boot dann umschlug, war es zu spät.
Manchmal grinsten die Studenten über mein Sicherheitsbewusstsein, aber ich war immer ein vorsichtiger Mensch, und das hat sich ausgezahlt: Ernsthafte Verletzungen habe ich mir nie zugezogen, und auch meinen Studenten blieben sie stets erspart. Im Sommer 1958 waren wir auf die zweite Flussterrasse des Missouri zurückgekehrt und hatten mehrere Dutzend Gräber der Arikara ausgegraben. Nach manchen archäologischen Maßstäben wäre das eine hervorragende Ausbeute gewesen, insbesondere wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, auf Jahre hinaus immer wieder hierher zu kommen. Aber wir wussten, dass wir an der Sully-Stätte - und an allen anderen Stellen auf den nächsten 370 Kilometern flussaufwärts - nur sehr wenig Zeit hatten. Die Schleusen des Oahe-Dammes hatten sich bereits geschlossen, und das Wasser stieg. Wir mussten schneller vorankommen.
Zehn Jahre zuvor, als Studienanfänger auf dem College, hatte ich im Sommer öfter im Steinbruch meines Stiefvaters Bulldozer und Kipplader gefahren. Es war ein toller Ferienjob für ein großes Kind, das gern mit riesigen Modellautos spielt.
Für Geschwindigkeit hatte ich mich nie besonders interessiert - schnelle Autos haben für mich keinen großen Reiz. Kraft dagegen war ganz etwas anderes. Gebt mir einen Lastwagen mit einem riesigen Dieselmotor und einem dicken Untersetzungsgetriebe, dann bin ich glücklich.
Bei meiner sommerlichen Tätigkeit im Steinbruch musste ich mir als Sohn des Chefs so manche Stichelei gefallen lassen. Manches davon war gutmütig, anderes nicht. Insbesondere ein Arbeiter, ein hagerer, einfältiger Mann Mitte 40, ließ nichts unversucht, um mir das Leben schwer zu machen. Eines Tages - ich fuhr gerade durch eine schmale Passage zwischen zwei Gebäuden - kam er mir geradewegs mit einem Tieflader entgegen.
In einem Steinbruch gibt es für solche Begegnungen ganz genaue Regeln: Das beladene Fahrzeug hat immer Vorfahrt. Ich hatte 15 Tonnen Steine geladen; sein Tieflader war leer. Es war kein Platz, um aneinander vorbeizufahren, und es war kein Platz zum Wenden. Er musste zurücksetzen.
Aber er setzte nicht zurück. Ich wartete, und er grinste mich an. Ich hupte; er grinste nur noch breiter.
Den ganzen Sommer über hatte ich versucht, freundlich zu dem Burschen zu sein, aber es hatte ganz offensichtlich nichts genützt. Schließlich rastete bei mir etwas aus. Krachend legte ich den ersten Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Als die Stoßstange meines Lastwagens den Bug seines Tiefladers berührte, bekam er große Augen. Aber er setzte immer noch nicht zurück. Ich trat auf das Gaspedal, der große Lastwagen kroch vorwärts und schob den Tieflader zurück.
Nur eines hatte ich anfangs nicht erkannt: Die Stoßstange des Lastwagens war ungefähr 30 Zentimeter höher als die des Tiefladers. Aber ich merkte es sehr schnell: Der Kühlergrill seines Wagens gab nach, der Kühler platzte, und Dampffontänen schossen heraus. O Mist, dachte ich, aber der Schaden war schon angerichtet. Demnach, so dachte ich, kann ich ebenso gut weiterschieben, bis mein Weg frei ist.
Von meinem Stiefvater musste ich mir anschließend eine Strafpredigt anhören, die sich gewaschen hatte, aber die älteren Männer im Steinbruch behandelten mich von nun an mit Respekt - und dieser niederträchtige Dummkopf ging mir aus dem Weg. Seither ist mir Kraft stets wichtiger als Geschwindigkeit.
Aber in South Dakota mussten wir schnell sein. Nur dann bestand die Aussicht, dem steigenden Wasser des Missouri zuvorzukommen. In den nächsten beiden Jahren, als ich im Sommer jedes Mal über dem Problem brütete, kam mir eine Idee: Vielleicht war Kraft hier tatsächlich der Schlüssel zur Geschwindigkeit.
An einem kühlen Morgen im Juni 1960 kroch ein Lastwagen mit Tiefladeanhänger holpernd zur Sully-Stätte. Er brachte einen Bulldozer und eine Planiermaschine. Ich hatte bei der National Science Foundation Forschungsmittel beantragt, um für die Ausgrabungen schweres Gerät mieten zu können, und sie hatten sich - ganz offensichtlich mit gemischten Gefühlen - bereit erklärt, mir das Experiment zu ermöglichen.
Ich wollte eine besondere Eigenschaft des hiesigen Bodens nutzen: Die durchwühlte Erde der Arikara-Gräber war dunkler und sah lockerer aus als der dichte, unberührte Löss in ihrem Umfeld. Deshalb waren die Umrisse der Gräber für das geübte Auge leicht zu erkennen. Es klappte zumindest dann, wenn man die oberste Bodenschicht vorsichtig von Hand entfernte. Würde es auch dann gelingen, wenn wir die ersten 30 Zentimeter der Deckschicht mit schwerem Räumgerät abtrugen? Konnten wir dann noch die hölzernen Abdeckungen der Gräber und ihre charakteristischen, kreisförmigen Umrisse ausmachen - oder würden die Schaufeln und Räder der schweren Maschinen alles zu einer Masse aus Erde und Knochentrümmern zermahlen? Wenn ja, wäre das für mich ein unerwünschtes Ergebnis gewesen, denn ich war ja nach South Dakota gekommen, um Knochen zu bewahren und nicht um sie zu zertrümmern.
Den Anfang machten wir in einem Gebiet, wo wir durch die Ameisen und unsere eigenen Ausgrabungen bereits wussten, dass wir wahrscheinlich Grabstätten finden würden. Der Bulldozerfahrer schlug eine gerade Schneise, die 25 Meter lang, aber nur fünf Zentimeter tief war. Außer Gras und feinkörnigem Löss kam nichts zum Vorschein.
Mehrere weitere Gräben; immer noch nichts. In der Überzeugung, dass es eine dumme Idee gewesen war, wollte ich die Arbeiten gerade einstellen lassen, da sah ich es: Hinter Planierraupe und Bulldozer, in der magischen Tiefe von 30 Zentimetern, war eindeutig ein Kreis aus dunklerem, lockerem Boden zu erkennen. Ich stieß einen Schrei aus, auf den jeder Arikara-Krieger stolz gewesen wäre.
In jenem Sommer legten wir mit Hilfe der schweren Geräte über 300 Gräber der Arikara frei - zehn Mal so viele, wie wir im Jahr zuvor von Hand ausgegraben hatten.
Mittlerweile hatten wir in South Dakota den Sommer über eine richtige kleine Siedlung. Anfangs wohnten wir an der Grabungsstätte in Zelten, aber nach den ersten Jahren mieteten wir ein Haus für die Mitarbeiter und ein zweites für die Familie Bass, zu der außer mir jetzt auch Ann, Charlie und seit neuestem William M. Bass IV gehörte, unser Billy. Die übrige Mannschaft umfasste zehn Studenten und einen Koch, der sich immer mächtig anstrengen musste, um uns alle satt zu bekommen (manchmal scheinbar mit nichts anderem als Erdnussbutter aus staatlichen Überschussbeständen, einem Lebensmittel, das ich noch heute, 40 Jahre später, nicht ausstehen kann).
Die Häuser waren spärlich möbliert. Alle schliefen auf Militärfeldbetten, Pritschen aus grünem oder beigefarbenem Segeltuch, das über ein wackeliges Holzgestell gespannt war. Von Anfang an bemerkte ich, dass die Feldbetten immer wieder das gleiche Problem bereiteten: Sie gingen kaputt. Nachdem Millionen Soldaten auf Armeefeldbetten schlafen konnten, ohne sie zu ruinieren, sollte eine Hand voll Studenten eigentlich ebenfalls dazu in der Lage sein. Die Ursache war, wie sich bald herausstellte, der Sex: Zwei Körper, die sich in Bewegung befanden, stellten für die Scharniere der Feldbetten eine zu starke Belastung dar. Also erließ ich eine Vorschrift, die erste meiner beiden Hauptregeln für die Mannschaft bei den sommerlichen Ausgrabungen: kein Sex auf den Feldbetten. Jetzt blieben die Schlafstätten intakt.
Die Regel Nummer zwei war ebenso einfach, hatte aber einen ernsteren Hintergrund: Lasst euch nicht festnehmen - nicht wegen zu schnellen Fahrens, nicht wegen Trunkenheit, Schlägereien, Störung der öffentlichen Ordnung oder Spuckens auf den Bürgersteig; wem das passiert, der fliegt. Wir standen durch das steigende Wasser des Flusses bereits unter einem solchen Druck, dass wir es uns nicht leisten konnten, alles durch Konflikte mit den örtlichen Behörden noch komplizierter zu machen. Die Regel Nummer zwei musste ich nur ein einziges Mal anwenden, und glücklicherweise brauchte ich nie wegen einer Übertretung der Regel Nummer eins einzuschreiten.
Trotz der Maschinen zur Erdbewegung waren die Ausgrabungen anstrengende Arbeit. Wir kamen jetzt zwar viel schneller voran, aber immer noch mussten wir eine Menge Erde mit der Hand abtragen. Um die Mitarbeiter bei Laune zu halten, inszenierte ich Spiele und Wettbewerbe - ich zeigte beispielsweise auf eine Astgabel an einem Baum, der bald versinken würde, und setzte einen Preis für denjenigen aus, der sie mit den meisten Schaufeln voller Erde traf. Es mag verrückt klingen, aber solche Aktionen hielten die Arbeitsmoral aufrecht. Im Sommer war es anstrengend und heiß, aber die Arbeit machte auch Spaß.
Außerdem war das, war wir taten, eine wissenschaftliche Offenbarung. Als die Zahl der ausgegrabenen Gräber in die Hunderte ging, kristallisierte sich aus dem Prärieboden allmählich ein höchst interessantes Bild heraus. Zum ersten Mal, seit in den großen Ebenen des Mittelwestens archäologische Arbeiten stattfanden, besaßen wir umfangreiche, gut dokumentierte Funde von Skelettresten eines ganzen Stammes von der Geburt bis zum hohen Alter. Dabei erkannten wir, dass die Arikara ein hartes, gewalttätiges und häufig sehr kurzes Leben geführt hatten. Wir fanden eine erstaunliche Zahl kleiner Gräber mit den sterblichen Überresten von Säuglingen und Kindern. Bei der statistischen Auswertung stellte sich heraus, dass fast die Hälfte der Bevölkerung vor dem zweiten Geburtstag gestorben war, und bis zum sechsten Lebensjahr lag dieser Anteil bereits bei 55 Prozent. Dann aber war eine gewisse Grenze erreicht: Im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren gab es nur sehr wenige Todesfälle - wer die frühe Kindheit überlebte, schaffte es offensichtlich in der Regel auch bis zur Pubertät. Ungefähr vom 16. Lebensjahr an wurde das Leben dann wieder gefährlich. Die Frauen bekamen Kinder, die Männer jagten Büffel und zogen in den Krieg. Es war ein Leben voller Gewalt und Gefahren.
Die Arikara selbst waren sesshaft, ganz im Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Sioux, von denen sie häufig angegriffen wurden. Viele männliche Skelette trugen insbesondere an Becken und Brustkorb tiefe Narben von Verletzungen, die von Pfeilen herrührten. Vielfach waren die Pfeilspitzen tief in die Knochen eingedrungen. Die Wunden waren häufig tödlich, in manchen Fällen war der Knochen aber auch um die steinerne Pfeilspitze herumgewachsen; solche Krieger hatten also jahrelang mit einer Pfeilspitze der Sioux im Leib weitergelebt.
Manche Schädel von Männern und Frauen waren zertrümmert, ein Indiz für die grausige Wirksamkeit von Kriegsgeräten aus Stein. Andere Schädel trugen Schnittspuren; am auffälligsten waren sie meist am Haaransatz über der Stirn, wo beim Abziehen des Skalps der erste Schnitt gemacht wurde. Bei manchen dieser skalpierten Opfer steckten noch kleine Flintsteinstücke im Schädel. In einigen gruseligen Fällen gab es sogar Anzeichen dafür, dass der Schädel geheilt war - der Betreffende hatte das entsetzliche Ereignis überlebt und konnte später davon berichten.
Eines jedoch fanden wir bei Sully nicht: Gewehrkugeln. Das Dorf wurde um 1750 zum letzten Mal aufgegeben. Zu jener Zeit waren die Weißen und ihre Waffen kaum mehr als eine weit entfernte Kuriosität. Das jedoch sollte sich in dem kurzen Zeitraum von nur 50 Jahren tief greifend ändern - mit tragischen Folgen für die Arikara.
Die Ausgrabungsstätte von Sully war das größte Dorf der Arikara. Das bitterste Schicksal jedoch erlitt die rund 300 Kilometer stromaufwärts gelegene Stätte von Leavenworth. Dort sammelten sich die Arikara um 1800 vor ihrer letzten Schlacht gegen die Sioux und die Weißen sowie gegen tödliche Feinde, die sie noch nicht einmal sehen konnten. Zwölf Arikara-Sippen schlossen sich hier zusammen, weil sie sich in größerer Anzahl sicherer fühlten. Knapp südlich der heutigen Grenze von North Dakota bauten sie auf der ersten Terrasse des Missouri im Abstand von wenigen hundert Metern zwei Dörfer, die durch einen hübschen kleinen Wasserlauf getrennt waren.
Dort trafen Lewis und Clark mit den Arikara zusammen und gerieten mit ihnen in Streit. Dort setzten skrupellose Agenten der Pelzhandelsgesellschaften biologische Kampfstoffe ein: Aus Saint Louis brachten sie Decken mit, die absichtlich mit Pockenerregern verunreinigt waren, sodass die Indianer, deren Immunsystem darauf nicht vorbereitet war, dieser Krankheit reihenweise zum Opfer fielen. Und dort griff Colonel Henry Leavenworth am 9. August 1823 mit einer Streitmacht von fast 300 Soldaten der US-Armee, Milizionären aus Missouri und Sioux-Kriegern die Dörfer mit Gewehren, Pfeil und Bogen, Knüppeln und Kanonenbooten an. Am Abend des 14. August flüchteten die überlebenden Arikara heimlich aus ihren zerstörten Dörfern.
 
 
Im Sommer 1965 war der Wasserstand des Lake Oahe auf mehr als 450 Meter über dem Meeresspiegel angestiegen und lag damit über 30 Meter höher als das natürliche Niveau des Flusses. Die beiden Arikara-Dörfer bei Leavenworth waren im Wasser verschwunden. Glücklicherweise lagen die beiden wichtigsten Friedhöfe auf der Terrasse über den Dörfern und damit fast 15 Meter höher. Es blieb uns also noch Zeit für weitere Ausgrabungen, wir standen allerdings unter einem unbarmherzigen Druck.
Im Juni 1966 jedoch holte uns das Wasser ein: Einige Gräber liefen voll, während wir dort noch mit Grabungen beschäftigt waren - was dem Ausdruck feuchtes Grab eine ganz neue Bedeutung gab. Mittlerweile hatten wir an der Stätte von Leavenworth fast 300 Arikara-Gräber gefunden und ausgegraben. Wir arbeiteten weiter und zogen immer knapper vor dem Wasser bergauf. Aber irgendwann fanden wir nichts mehr. Wir zogen mit dem schweren Gerät lange Gräben und entfernten uns dabei immer weiter vom eigentlichen Friedhofsgebiet. Dann griffen wir sogar auf die altmodische Methode zurück und gruben mit der Hand. Aber es war nichts mehr zu finden. Am 18. Juli 1966 traten wir die Leavenworth-Stätte an den Fluss ab, wie die Arikara es 143 Jahre zuvor getan hatten.
Viele Jahre später bezeichnete mich ein Aktivist der Indianer in einem Zeitungsinterview als »Indianergrabräuber Nummer eins«. Ich vermute, dass er Recht hatte. Im Laufe von 14 Jahren hatte ich auf den großen Ebenen zwischen vier- und fünftausend indianische Begräbnisstätten ausgegraben, nach meiner Kenntnis mehr als jeder andere auf der Welt.
Dennoch hatte ich in diesen 14 Jahren nie auch nur einen einzigen Zusammenstoß mit den amerikanischen Ureinwohnern. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens arbeitete meine Frau Ann, eine Ernährungswissenschaftlerin, im Sommer regelmäßig daran mit, die Ernährung der Sioux-Indianer in der Standing Rock Reservation in South Dakota zu verbessern. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über die große Diabeteshäufigkeit bei den Sioux und wurde von ihnen wie eine Freundin behandelt. Davon profitierte ich als ihr Ehemann. Und zweitens half ich den heutigen Sioux, ihre Rechnung mit den alten Arikara zu begleichen: Durch mich konnten sie »endlich abrechnen«, wie sie es nannten.
Aber gegen Ende der sechziger Jahre zeichnete sich ein deutlicher Wandel ab. Der Lake Oahe füllte sich, und die Ü bersichtsuntersuchungen der Smithsonian Institution in den Flussniederungen wurden zurückgefahren. Bevor der Stausee anzusteigen begann, hatte man mehrere hundert archäologische Stätten identifiziert, aber nur ein geringer Bruchteil davon wurde überhaupt ausgegraben. Für mehr fehlten Zeit, Geld und Arbeitskräfte.
Aber es war nicht nur ein Wettlauf mit dem steigenden Wasser; wir schwammen auch gegen eine neue kulturelle Strömung. Ende der sechziger Jahre - es war die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, des Vietnamkrieges und großer gesellschaftlicher Umwälzungen - erhoben die amerikanischen Ureinwohner auch neue Ansprüche auf ihre Kultur, ihr historisches Erbe und die sterblichen Überreste ihrer Vorfahren. Hier braute sich offensichtlich ein großer Konflikt zwischen Wissenschaft und kulturellen Werten zusammen. Bob Dylans volkstümliche Hymnen der sechziger Jahre sprachen von veränderlichen Zeiten und steigendem Wasser, und sie enthielten den Rat: »You better start swimmin’ or you’ll sink like a stone.« Als das schlammige Wasser des Missouri mir bis zu den Fußgelenken stand, hielt ich es für an der Zeit, mit dem Schwimmen zu beginnen.
In diesem entscheidenden Augenblick trat die University of Tennessee an mich heran. Und die forensische Anthropologie. Meine Karriere als »Indianergrabräuber Nummer eins« war zu Ende. Jetzt sollte meine eigentliche Laufbahn beginnen: als Gerichtsmediziner.