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Indianerleichen und Staudammbauer
Der Himmel über den Ebenen von South Dakota
war tiefblau und verdunkelte sich ganz oben fast ins Violette. Im
Westen fielen unregelmäßige graue Regenvorhänge aus hoch
aufgetürmten Kumuluswolken, aber sie verdunsteten, lange bevor sie
den Erdboden erreichten. Aus fast 5000 Metern Höhe konnte ich durch
das Flugzeugfenster ein weites Stück der hügeligen Prärie
überblicken. Gras und Gebüsch waren fast völlig braun; noch brauner
war der Missouri, der sich schlammig von Nordwesten durch die
Landschaft schlängelte und noch schlammiger nach Südosten wieder
aus dem Blickfeld verschwand. Man hatte mir gesagt, es gebe hier
nur wenige grüne Flecken: kleine Kreise mit üppigem Gras, die sich
irgendwo nördlich von uns über die Hügel am Flussufer verteilten
und die Lage eines alten Dorfes der Arikara markierten. Wir
schrieben den Sommer 1957, vor mir lag ein gewaltiger neuer
Horizont, und meine Spannung wuchs.
Als die Motoren gedrosselt wurden und die DC-3 der
Frontier Airlines durch die Turbulenzen langsam tiefer ging, stieg
ein neues Gefühl in mir auf: Reisekrankheit, meine lebenslange
Achillesferse. Glücklicherweise war das Flugzeug unten, bevor mir
das Frühstück hochkam.
Am späten Vormittag landeten wir in Pierre. Die
wenigen Passagiere traten mit eingezogenen Köpfen durch die ovale
Öffnung im Flugzeugrumpf, kletterten die Treppe hinunter und gingen
in die weiß getünchte einzige Halle des Flughafens. Ich sah mich
nach Bob Stephenson um, dem Archäologen der Smithsonian
Institution. Er hatte versprochen, mich abzuholen, aber jetzt
konnte ich ihn nirgendwo entdecken. Wenig später waren die anderen
Passagiere verschwunden, und ich stand allein in der leeren
Wartehalle, weit weg von zu Hause.
Der Kontrollturm des Flughafens sah aus wie ein
Baumhaus auf Stelzen. Nachdem ich eine Weile gewartet hatte,
kletterte ich hinauf und fragte den Fluglotsen, ob er die
Archäologen kenne, die in der Nähe der Stadt tätig waren. Ich
erklärte, Dr. Stephenson habe zugesagt, mich abzuholen und zu ihrer
Arbeitsstelle zu bringen. »Na, der ist vermutlich irgendwo im
Schlamm stecken geblieben«, sagte der Fluglotse. »Letzte Nacht
hatten wir eine Menge Regen, und wenn es hier feucht ist, wird
alles ganz schön glitschig.« Am Spätnachmittag tauchte Bob
schließlich auf. Er war von oben bis unten voller Schlamm und
entschuldigte sich vielmals. Drei Stunden hatte er festgesessen.
Damals wusste ich noch wenig, aber auch ich sollte - aus freiem
Willen - ebenfalls hier hängen bleiben, und zwar während der
nächsten 14 Sommer.
Dass ich nach South Dakota gekommen war, war dem
gemeinsamen Einfluss des U.S. Army Corps of Engineers, der
Smithsonian Institution und der letzten Eiszeit zu verdanken (die,
das sollte ich hinzufügen, schon ein wenig vor meiner Zeit zu Ende
war). Vor 20 000 Jahren drang eine dicke Kappe aus Gletschereis
erbarmungslos über die großen nordamerikanischen Ebenen nach Süden
vor. Sie schob Berge von Erde und Gestein vor sich her, zerrieb
Felsen zu feinkörnigem Schwemmlandboden und gab Millionen
Quadratkilometern der Erdoberfläche ein ganz neues Gesicht.
Jetzt war eine ebenso erbarmungslose Armee aus
Ingenieuren, Archäologen und Anthropologen in der Prärie
eingefallen, und auch sie hatten eine Reihe von Änderungen
vorgenommen. Die Ingenieure hatten das Gelände unter Wasser
gesetzt; wir anderen waren hektisch mit Ausgrabungen beschäftigt,
durchstöberten und durchsiebten den Boden nach vergrabenen Schätzen
- archäologischen Kostbarkeiten. Es war ein verzweifelter Wettlauf
gegen die steigenden Fluten des neu aufgestauten Flusses
Missouri.
Der Missouri ist vielleicht der am meisten
unterschätzte Fluss der Welt. Bei uns in den Vereinigten Staaten
steht er im Schatten des Mississippi, und das ist nach meiner
Überzeugung höchst ungerecht. Damit ich nicht falsch verstanden
werde: Der Mississippi ist ein gewaltiger Fluss. Mit seinen 3779
Kilometern vom Lake Ithasca in Minnesota bis zu seinem Delta in
Louisiana ist er eine riesige Wasserstraße, die sich mitten durch
das Herz der Vereinigten Staaten zieht.
Ungerecht aber ist die Rangordnung, die man
zwischen den beiden Flüssen hergestellt hat. Verfolgen wir einmal
einen Regentropfen, der am Lake Ithasca in den Oberlauf des
Mississippi fällt. Dieser Tropfen wandert 3779 Kilometer und
gelangt dann in die salzigen Untiefen des Golfes von Mexiko. Fällt
jedoch ein Regentropfen in Montana in eine Quelle am östlichen
Abhang der Rocky Mountains, treibt er zunächst mehr als 3700
Kilometer im Missouri, bis er am Zusammenfluss mit dem Mississippi
angelangt ist; von dort sind es dann noch einmal 2270 Kilometer bis
zum Golf - eine Gesamtstrecke von fast 6000 Kilometern. Länger sind
nur der Nil und der Amazonas. Legt man also die Länge zugrunde,
sollte man eigentlich den Missouri als Hauptfluss und den
Mississippi als Nebenfluss bezeichnen.
Der Missouri ist auch in anderer Hinsicht ein
erstaunlicher Fluss. Soweit ich weiß, hat er es sich als Einziger
in kontinentalen Ausmaßen anders überlegt und seinen Zielpunkt
gewechselt. Vor der letzten Eiszeit floss der Missouri nach
Nordosten ins heutige Kanada, wo er in das eisige Wasser der Hudson
Bay mündete. Als die Gletscher dann wie riesige Bulldozer das ganze
Land neu formten, nutzte der Missouri eine Lücke und wandte sich
nach Süden in Richtung der warmen Gewässer vor Mexiko, wo er nun
über 3000 Kilometer von seiner ursprünglichen Mündung entfernt
endete.
Während dieser ganzen Zeit wurde der Missouri auch
Zeuge dramatischer Veränderungen bei den Lebewesen, die in seinem
riesigen Einzugsgebiet zu Hause waren. Vor rund 100 Millionen
Jahren gehörten Montana sowie North und South Dakota zum
Verbreitungsgebiet der Dinosaurier. Später folgte eine Fülle
warmblütiger Tiere von Geparden über Kamele und Wollhaar-Mammuts
bis zu riesigen Säbelzahnkatzen. Wir selbst erschienen erst recht
spät auf der Bildfläche: Die ersten menschlichen Bewohner wanderten
vermutlich vor etwa 12 000 Jahren über eine Landbrücke aus Asien
ein.
Jahrtausendelang führten diese amerikanischen
Ureinwohner ein Nomadenleben. Vor etwa 2000 Jahren fingen sie dann
in ihrer Mehrzahl an, Nutzpflanzen anzubauen und sesshaft zu
werden. Sie bauten Dörfer aus Erdhütten, runden Bauwerken, für die
ein Loch gegraben und mit einem kuppelförmigen Holzgerüst abgedeckt
wurde; dieses wurde dann zum Schutz gegen den sengenden Sommer und
die eisigen Winter mit Erde und Gras bedeckt. Heute würde man von
»Höhlenbehausungen« sprechen. Die Indianer der großen Ebenen
nannten sie einfach »Zuhause«.
Aber die Höhlenbehausungen waren nichts
Nachhaltiges. In den Prärien gab es nur wenige Bäume, und die
wuchsen vorwiegend in der »untersten Etage« der Flussniederungen.
Nach ungefähr einer Generation war das Flussufer viele Kilometer
stromaufwärts und stromabwärts von einem Dorf abgeholzt. Die Frauen
- ihre Aufgabe war es, Brennstoff und Baumaterial zu sammeln -
mussten immer größere Entfernungen zu Fuß zurücklegen, um noch Holz
zu finden. Schließlich ließen sie die müden Füße ruhen, und der
Stamm zog am Fluss ein paar Dutzend Kilometer aufwärts oder
abwärts, um sich in einem unberührten Waldstück niederzulassen. 100
Jahre später, wenn der Wald in der Flussniederung nachgewachsen
war, kehrten sie dann unter Umständen zu der Stelle zurück, an der
ihre Vorfahren das Dorf verlassen hatten.
Im 18. Jahrhundert waren in den großen Ebenen des
amerikanischen Mittelwestens zahlreiche Indianerstämme ansässig. Im
Norden lebten und kämpften vier große Stämme: die Furcht erregenden
Sioux, die Nomaden geblieben waren, sowie die sesshaften Mandan,
Hidatsa und Arikara. Im heutigen mittleren South Dakota bauten die
Arikara riesige Dörfer aus Erdhütten, die neben den Häusern
mehrerer hundert Familien auch große Gebäude für Zeremonien
umfassten.
Dann brach mit der Ankunft der weißen Entdecker und
Pelzhändler eine neue Zeitrechnung an. Unter ihnen waren Lewis und
Clark, aber sie waren keineswegs die Ersten. Als das Corps of
Discovery 1804 in ein Dorf der Mandan kam, traf es dort auf blonde,
blauäugige Indianer, die Nachkommen einheimischer Frauen und
französischer Entdecker oder Trapper.
Auf ihrem Weg stromaufwärts in das neu erworbene
Territorium von Louisiana unternahmen Lewis und Clark den Versuch,
die Arikara und die Mandan in einem Dreierbündnis mit der
US-Regierung gegen die Sioux zu vereinigen, aber die Arikara
widersetzten sich der Koalition und lieferten sich mit der
Expedition, die weiter stromaufwärts unterwegs war, sogar ein
kurzes Scharmützel. Mehr Glück hatten die Entdecker mit den Mandan.
Bei ihnen überwinterte das Corps of Discovery in jenem Jahr; die
Entdecker trieben Handel und jagten mit den Männern der Mandan,
genossen aber auch die sexuelle Gunst ihrer Frauen. Häufig geschah
dies mit ausdrücklicher Unterstützung der Ehemänner, denn die
glaubten, ihre Frauen würden den »Zauber« der Weißen empfangen und
weitergeben. Leider wurde dabei in der Regel ausschließlich die
Syphilis übertragen.
Als die Lewis-Clark-Expedition 1806 den Rückweg
stromabwärts antrat, hatte sie erneut einen Zusammenstoß mit den
Arikara. Meriwether Lewis schickte 1809 - während seiner Amtszeit
als Gouverneur des Territoriums von Louisiana, die in ausgesprochen
schlechter Erinnerung blieb - eine Armee aus 500 Weißen und
Indianern am Missouri stromaufwärts; sie hatte den Befehl, die
Arikara auszulöschen, falls sie sich noch einmal auf einen Kampf
einließen.
Aber bei aller Tapferkeit standen die Arikara
damals im Begriff, auszusterben. 50 Jahre nach der Expedition von
Lewis und Clark war der Stamm so gut wie verschwunden, ausgerottet
durch die Sioux, die weißen Siedler und die Pocken. Die Arikara
ließen auf der zweiten und dritten Etage der Flussniederungen am
Missouri Hunderte von Erdhütten und Tausende von Gräbern
zurück.
Im Jahr 1957, als die letzten Spuren der
Arikara-Kultur im großen Strom des Fortschritts zu ertrinken
drohten, erteilte mir die Smithsonian Institution den Auftrag, in
der kurzen noch verbleibenden Zeit bei der Ausgrabung von möglichst
vielen Überresten mitzuwirken.
Zu den großen Museen der Smithsonian Institution
an der Mall in Washington, D. C., gehört das National Museum of
Natural History. In seinem Erdgeschoss, unter der gewaltigen
Kuppel, wacht ein riesiger afrikanischer Elefant. Mehrere Etagen
darüber, auf den Galerien, die das vierte, fünfte und sechste
Stockwerk der Rotunde säumen, befinden sich Schränke, Schubladen
und Regale voller Skelette von amerikanischen Ureinwohnern. So war
es jedenfalls früher.
Heute haben sich unsere Ansichten über die
Ausgrabung von Gräbern und das Sammeln von Knochen grundlegend
verändert. Im Jahr 1990 verabschiedete der US-Kongress nach
hartnäckiger Lobbyarbeit der Ureinwohnerstämme ein Gesetz, das die
Bergung von Skelettresten amerikanischer Ureinwohner verbietet.
Darüber hinaus schreibt das Gesetz vor, dass Museen und andere
Institutionen solche Skelettteile zurückgeben müssen, wenn der
betreffende Stamm heute noch existiert. Dahinter steht ein ganz
einfacher Gedanke: Sterbliche Überreste von Toten sind keine
Sammler- oder Ausstellungsstücke, sondern heilige Reliquien, die
man ihrem Heimatland zurückgeben und mit der gebotenen Ehrfurcht
bestatten soll. Aus spiritueller Sicht leuchtet das völlig
ein.
Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten jedoch
haben Ausgrabungen und Sammlungen wie die der Smithsonian
Institution entscheidend dazu beigetragen, die Geschichte, Kultur
und Evolution der Menschen im Allgemeinen und der amerikanischen
Ureinwohner im Besonderen aufzuklären. Durch Vergleich der Knochen
von vielen tausend Menschen konnten die Wissenschaftler ein
detailliertes Bild von den ursprünglichen Bewohnern Nordamerikas
zeichnen: Heute kennen wir ihre Größe, ihre Körperkraft, ihre
Ernährung, ihre durchschnittliche Lebensdauer, die
Kindersterblichkeit und vieles andere. Ende der fünfziger und
Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gingen solche
Knochen in derart großer Zahl bei der Smithsonian Institution ein,
dass die Wissenschaftler des Museums sie nicht alle sofort
auswerten konnten.
Das war mein Glück.
Die Anthropologie hatte ich für mich während der
letzten beiden Jahre meines Grundstudiums an der University of
Virginia entdeckt. Für mein Hauptfach, die Psychologie, hatte ich
damals die meisten Lehrveranstaltungen abgeschlossen, sodass ich am
Ende ein wenig Zeit für Wahlfächer frei hatte. Als ich die
Seminarangebote durchlas, blieb mein Blick als erstes bei
»Anthropologie« hängen. (Was nicht verwunderlich ist, denn es war
eine alphabetische Liste. Hätte ich nicht am Anfang, sondern am
Ende zu lesen begonnen, wäre ich vielleicht Zoologe
geworden!)
An der University of Virginia gab es eigentlich
nicht einmal ein anthropologisches Institut, sondern nur Clifford
Evans, einen einsamen Professor, den man in das Institut für
Soziologie gesteckt hatte. Aber Evans war ein abenteuerlustiger
Freilandforscher und anregender Lehrer. Er war kurz zuvor von
Ausgrabungsarbeiten an einem prähistorischen Dorf in Brasilien
zurückgekommen, und er machte die vorzeitlichen Bewohner in seinen
Vorlesungen mit Dias und Erzählungen lebendig. Ich versäumte keine
einzige Stunde bei ihm.
Als ich im Frühjahr 1956 an der University of
Kentucky mein Examen in Anthropologie ablegte, berichtete ich Evans
in einem Brief darüber. Ich glaubte, ich sei vielleicht sein
einziger Student, der jemals einen Studienabschluss in
Anthropologie gemacht hatte, und dachte, er würde sich über die
Nachricht freuen. Er hatte aber mittlerweile die University of
Virginia verlassen und eine Stelle als Kurator für Archäologie an
der Smithsonian Institution angenommen.
Evans antwortete sofort auf meinen Brief. Er konnte
sich noch gut an mich erinnern und erklärte, er sei froh über meine
Fortschritte. Außerdem teilte er mir mit, die Smithsonian
Institution brauche unbedingt Hilfe bei der Analyse der vielen
Skelettfunde von amerikanischen Ureinwohnern, die sie aus den
großen Ebenen des Mittelwestens erhielt. Er bot an, mir die Stelle
zu verschaffen. Es war eine großartige Gelegenheit, und sie kam zu
einem bemerkenswerten Zeitpunkt.
Der Auslöser für die Flut der Knochen war das U. S.
Army Corps of Engineers. Man hatte diese Einheit geschaffen, um die
überschwemmungsträchtigen Flüsse zu bändigen, und dieser Aufgabe
widmete sie sich mit Nachdruck. Ende der vierziger Jahre hatten
ihre Ingenieure den Mississippi zum größten Teil begradigt und mit
Deichen versehen, und jetzt machten sie sich über andere Flüsse
her. In den fünfziger Jahren arbeiteten sie sich am Missouri
aufwärts.
Als sie in der Mitte von South Dakota ankamen,
hatte ihre Tätigkeit bereits einen gewaltigen Umfang. Etwa zehn
Kilometer stromaufwärts von der Stadt Pierre (die nicht wie der
französische Vorname, sondern »Pier« ausgesprochen wird) türmten
sie einen fast 80 Meter hohen und drei Kilometer langen Damm auf.
Der Oahe-Damm, wie er nach einem Versammlungshaus der Sioux genannt
wurde, war zu Beginn der Arbeiten 1948 der größte aufgeschüttete
Erddamm der Vereinigten Staaten und ist es bis heute
geblieben.
Entsprechend riesig war auch der Stausee, der
hinter ihm entstand. Mit einer vorgesehenen Länge von 365
Kilometern und einer größten Breite von 32 Kilometern wurde der
Lake Oahe zu einem der größten künstlichen Seen Nordamerikas. Er
sollte viele hundert Quadratmeter der Prärie überfluten - und auch
unzählige archäologische Stätten der amerikanischen
Ureinwohner.
Das Corps of Engineers hatte einen Teil der
Baukosten für archäologische Forschung und Ausgrabungen vorgesehen
und mit der Smithsonian Institution einen Vertrag über die
wissenschaftlichen Arbeiten geschlossen. Die dafür vorgesehenen
Mittel waren ein winziger Bruchteil - ungefähr ein halbes Prozent -
des Gesamtetats für den Damm, aber dieser Gesamtetat war so riesig,
dass die Smithsonian River Basin Surveys, wie man das Projekt
nannte, nach archäologischen Maßstäben immer noch zu einem
umfangreichen, gut finanzierten Vorhaben wurde. Während das Corps
of Engineers immer mehr Erde auftürmte, um den Fluss aufzustauen,
machte sich ein kleines Heer von Archäologen und ihren Helfern -
Studenten und Doktoranden - in dem zukünftigen
Überschwemmungsgebiet an die Ausgrabungsarbeiten. Den Anfang machte
eine wichtige Stätte der Arikara unmittelbar stromaufwärts vom
Damm, die als Erste unter Wasser liegen würde. Man nannte sie
Sully-Stätte - das war einfach der Name des Landkreises, in dem sie
sich befand. Auf der zweiten Geländestufe, oberhalb der
eigentlichen Flussniederung, hatten die Arikara das größte
Erdhüttendorf errichtet, das man jemals entdeckt hat.
Das wichtigste Indiz für den archäologischen Gehalt
der Stelle war eine Reihe von Kreisen, manche mit einem Durchmesser
von fünf bis sechs Metern, andere aber auch in allen Größen bis zu
knapp 20 Metern. Sie zeigten an, wo sich die Erdhütten befunden
hatten; als diese abgebrannt oder in sich zusammengestürzt waren,
hatten sie in der Prärie jeweils eine flache Senke hinterlassen,
weil sie bis zu einem Meter in das umgebende Gelände hineingegraben
waren. In der Region regnet es wenig - in der Regel nur knapp 400
Millimeter im Jahr -, und deshalb wurden die Senken, in denen sich
Regen und Sickerwasser sammelten, zu winzigen grünen Inseln in der
braunen Prärie. (Nur 120 Millimeter Niederschlag mehr, und die
Gegend wäre nicht mit Gras bewachsen, sondern bewaldet gewesen.)
Die kleineren grünen Kreise waren die Reste mehrerer hundert
Häuser, in denen jeweils bis zu 15 oder 20 Personen gewohnt hatten;
die wenigen größeren waren Gemeinschaftsräume oder wurden für
Zeremonien benutzt.
Wie viele Erdhüttendörfer der Arikara, so war auch
die Stätte von Sully ungefähr seit dem Jahr 1600 mehrmals besiedelt
worden. Wenn alle Bäume in der Umgebung abgeholzt waren, gab man
sie auf, und wenn der Wald am Flussufer nachgewachsen war, war sie
wieder bewohnt. Aus der Datierung der Funde ergab sich für die
Archäologen die Erkenntnis, dass sie mindestens drei Mal besiedelt
wurde, bevor man sie um 1750 endgültig aufgab.
Am Boden waren die Senken der früheren Erdhütten
nicht ohne weiteres zu sehen, aber man konnte sie leicht fühlen:
Jeder Bauer oder Archäologe, der in einem Last- oder Geländewagen
über die Prärie fuhr, spürte ganz deutlich, wie das Fahrzeug ein
wenig absackte und dann wieder in die Höhe stieg. An der
Sully-Fundstätte gab es so viele derartige Senken, dass eine Fahrt
über das Gelände einer Runde auf einer riesigen Achterbahn
gleichkam.
Da das Dorf so groß und so lange bewohnt war, wurde
es für die Archäologen zu einer ungeheuren Fundgrube: Man fand
Küchenutensilien, landwirtschaftliche Gerätschaften, Waffen,
Schmuck und Knochen - Tausende und Abertausende von Knochen, weit
mehr, als die wenigen medizinischen Anthropologen der Smithsonian
Institution in Washington ordnen und vermessen konnten.
Das war der Stand der Dinge, als ich auf der
Bildfläche erschien, an dem ausgestopften Elefanten unter der
Rotunde vorüberging und zum ersten Mal einen Sommer dem
Katalogisieren von Knochen widmete. Als kleiner Studienanfänger
hatte ich kein Telefon, keine eigenen Lieblingsprojekte, keine
Fachaufsätze, die ich schreiben oder begutachten musste, und auch
sonst keine der Ablenkungen, mit denen es ein Wissenschaftler von
höheren Graden zu tun hat; ich konnte also von morgens bis abends
Knochen untersuchen. Und das tat ich auch - einen ganzen Sommer
lang und den größten Teil des nächsten. Im Spätsommer 1957 nahm der
Leiter des Projekts mich dann mit nach South Dakota.
Ich war zuvor noch nie westlich des Mississippi
gewesen, und ich hatte noch nicht einmal in einem Flugzeug
gesessen. Durch die Reise nach South Dakota eröffnete sich mir eine
ganz neue Welt. Die Knochen, die dort in der Erde verborgen waren,
sollten mich vieles lehren. Manche Lektionen lernte ich auch durch
die jungen Studenten, die sich in der Hitze und dem Staub der
Flussterrassen am Missouri abmühten. Andere vermittelten mir die
Ameisen und Klapperschlangen, die sich mit uns durch die Erde
wühlten. Alle diese Lehren sollten mir in den folgenden Jahren
nützlich werden, als ich die Geheimnisse, die ich bei den vor
Jahrhunderten Verstorbenen gelüftet hatte, zur Aufklärung neuer
Mordfälle nutzte.
Als ich im August 1957 in South Dakota ankam, ging
der Sommer dort seinem Ende entgegen. Nur noch zwei Wochen, dann
wollte man das Projekt abschließen, damit Professoren und Studenten
an ihre Hochschulen zurückkehren konnten. Ich hoffte, dass ich
Stephenson in diesen beiden kurzen Wochen bei der Beantwortung
einer Frage helfen konnte, die ihn schon seit zwei Jahren
beschäftigte und frustrierte: Wo hatten die Arikara ihre Toten
versteckt?
Aus der Zahl der ausgegrabenen Erdhütten schloss
er, dass die Bevölkerung des Dorfes aus mehreren hundert Menschen
bestanden hatte und dass es mehrere Jahrzehnte lang besiedelt war.
Aber bisher hatten Stephensons Mitarbeiter nur die Überreste
weniger Dutzend Personen gefunden. Wo waren die anderen?
Manche Indianerstämme, beispielsweise die Sioux,
legen die Leichen der Verstorbenen auf erhöhte Gerüste, sodass sie
im Freien verwesen. Ein altes Sioux-Skelett findet man deshalb nur
selten, denn die Knochen werden häufig von Kojoten, Geiern und
anderen Aasverwertern über ein großes Gebiet verstreut. Dagegen gab
es bei den Arikara für Bestattungen offensichtlich eine
einheitliche Praxis. In der Regel hoben die Frauen das Grab aus,
und dazu benutzten sie Schaufeln, die sie aus den Schulterblättern
von Bisons hergestellt hatten. Es war harte Arbeit mit primitiven
Werkzeugen; um die Aufgabe überhaupt bewältigen zu können,
gestalteten sie die Gräber so klein und kompakt wie möglich: Die
Grube war rund und nur einen knappen Meter tief - oder noch
kleiner, wenn es sich um ein Kind oder eine Frau handelte -, und
der Leichnam wurde in einer gekrümmten Embryonalhaltung mit zur
Brust gezogenen Beinen und gekreuzten Armen hineingelegt.
Anschließend füllte man die Grube auf und bedeckte sie mit Ästen,
Baumstämmen oder Gebüsch, um Aasfresser abzuhalten; auf das Holz
kamen Erde und Gras.
Im August dieses zweiten Sommers war Stephensons
Frustration groß. Einerseits stellten die aufgefundenen
menschlichen Überreste keine ausreichende Erklärung für die
Bevölkerungszahl des Dorfes dar, andererseits konnte man aus ihnen
aber auch keine ausreichenden Schlüsse über Leben und Tod der
Arikara ziehen. Stephenson war nicht dumm: Er wusste genau, dass es
irgendwo in der Nähe einen Arikara-Friedhof geben musste. Aber wenn
wir ihn nicht bald fanden, hatten wir unsere Chance vertan.
Bei archäologischen Grabungen geht man nach
Planquadraten vor: Das Gebiet wird in Quadrate von eineinhalb mal
eineinhalb Metern eingeteilt, von denen man dann eine dünne
Erdschicht nach der anderen abträgt. Die Quadrate werden
nummeriert, und wenn man sich dann bei den Grabungen von einem
Quadrat zum nächsten vorarbeitet, wird genau protokolliert, in
welchem Quadrat und wo innerhalb des Quadrates - in horizontaler
und vertikaler Richtung - Fundstücke entdeckt werden. Diese Methode
ist ordentlich, genau und zum Verrücktwerden langsam - manchmal
braucht man für ein Quadrat eine Woche oder mehr. Im Laufe eines
ganzen Sommers gräbt man dann unter Umständen nur eine Fläche mit
einer Kantenlänge von zwölf bis 15 Metern aus. Wir mussten in viel
weniger Zeit ein viel größeres Gebiet untersuchen. Stephenson
übertrug mir die Leitung einer Gruppe von zehn Studenten und
drängte mich, die Toten der Arikara bis zum Monatsende zu
finden.
In South Dakota ist es im August sengend heiß, und
die Prärie ist ein riesiges Gebiet. Um mit der Suche schnell
voranzukommen, brauchten wir eine kleine Armee von Helfern. Und wie
sich herausstellt, hatten wir eine sehr große Armee von sehr
kleinen Helfern: die Ameisen, die zu Milliarden in der Prärie ihre
Gänge gruben.
Den Boden der großen Ebenen bezeichnet man als
Löss. Der Begriff hängt mit dem Wort »lose« zusammen. Löss ist so
fein wie Mehl und wird bei Trockenheit zu Staub. Gibt man jedoch
Wasser hinzu, verändert er sich völlig. Nasser Löss ist vielleicht
das Glitschigste, was es auf der Erde gibt, und wenn er über nassem
Schiefer liegt - dem vermutlich zweitglitschigsten Material der
Welt -, wird die Sache wirklich interessant: Als wären die Gesetze
der Physik außer Kraft gesetzt, verschwinden Reibungskräfte (und
damit der Halt für Autoreifen) praktisch völlig. Das war der Grund,
warum der arme Bob Stephenson sich so verspätet hatte, als er mich
am ersten Tag abholen wollte.
Löss ist ein idealer Untergrund für Ameisen. Er ist
weich, man kann leicht darin graben, aber er hält auch gut
zusammen; wenn eine Arbeiterameise darin einen Tunnel gebaut hat,
kann sie ziemlich sicher sein, dass dieser Hohlraum in nächster
Zeit nicht in sich zusammenstürzen wird.
Noch besser als jungfräulicher Löss ist aus der
Sicht unserer fleißigen Ameisen ein Löss, der bereits aufgewühlt
und gelockert wurde - zum Beispiel weil Menschen darin ein Grab
geschaufelt und wieder aufgefüllt haben. Das ist schön, hier
gräbt es sich leicht, denkt die Ameise, wenn sie sich durch
eine Grabstätte wühlt. Aber Moment mal - was ist denn das
hier? Wenn sie etwas Großes findet, das sie nicht bewegen kann,
gräbt sie sich darum herum. Kann sie es dagegen wegschleppen, zerrt
sie es an die Oberfläche und schiebt es ins Freie.
Der Abfall des einen Gräbers ist der Schatz des
anderen. An den ersten Tagen meines Aufenthalts in South Dakota
kroch ich häufig in gebückter Haltung durch das kurze Gras und
Buschwerk der Prärie. Die meisten Ameisenhaufen bestanden nur aus
aufgeworfenem Löss mit ein paar untergemischten kleinen
Kieselsteinen. Aber hin und wieder fand ich auch etwas anderes. Bei
genauerem Hinsehen entdeckte ich winzige Fingerknochen, verwitterte
Fußknochen und - besonders verblüffend - leuchtend bunte
Farbflecken: blaue Glasperlen, wie sie vor 200 Jahren von den
Kaufleuten und Indianern nicht nur für Schmuckstücke, sondern auch
als Währung verwendet wurden. Als wir unmittelbar unter solchen
Ameisenhügeln zu graben begannen, fanden wir in nur 30 Zentimetern
Tiefe die verrotteten hölzernen Abdeckungen von Gräbern. Bingo! Wir
durchkämmten das Gelände von dem Dorf aus sternförmig in alle
Richtungen und hielten fest, wo die Ameisen solche winzigen
Grabkennzeichnungen in besonders viel versprechender Dichte
angebracht hatten. Dann gruben wir entlang von Linien, die von dem
eigentlichen Dorf ausgingen, probeweise einzelne Quadrate aus, die
aber nicht mehr nebeneinander lagen, sondern jeweils einen Abstand
von mindestens eineinhalb Meter hatten, manchmal aber auch sechs
oder sogar zehn Meter vom vorherigen Quadrat entfernt waren.
Diese letzte, hektische Anstrengung war fast zu
viel für die Mitarbeiter. Aber als wir fertig waren, wussten wir,
dass wir einen riesigen Friedhof der Arikara gefunden hatten. Schon
in unseren Reihen von Probequadraten hatten wir Dutzende von
Gräbern gefunden; danach zu urteilen, musste es hier insgesamt
Hunderte von Begräbnisstätten geben.
Aber jetzt wurde die Zeit knapp. Mit den
Ausgrabungen mussten wir uns bis zum nächsten Sommer
gedulden.
Ich war den fleißigen Ameisen von South Dakota
zutiefst dankbar und bin es bis heute geblieben.
Gegenüber den Klapperschlangen hege ich keine
solchen Gefühle. Im Gegenteil: Wenn ich etwas fürchtete, als der
Sommer 1959 nahte, dann waren es diese blöden
Klapperschlangen.
Die Prärie ist für Schlangen ein idealer
Lebensraum. Es gibt dort eine Fülle von Mäusen, Kaninchen, Vögeln
und anderen kleinen Beutetieren. Wie die Ameisen, so können auch
die Schlangen leicht Tunnel durch den Boden graben. Deshalb lebt in
der Prärie schon von vornherein ein dichter Bestand von
Klapperschlangen. Hinzu kommt der Druck durch den schrumpfenden
Lebensraum: Seit 1957 füllte sich der Lake Oahe, und die
Flussniederungen verschwanden zunehmend im Wasser. Wie nicht anders
zu erwarten, zogen die Klapperschlangen in höher gelegenes Gelände
- auf die Terrassen, wo eine Meute geistesabwesender Anthropologen
im Gras herumkroch, in Gräbern stocherte und blind aus Gruben
heraus nach einer Maurerkelle oder einer Bürste griff.
Prärieklapperschlangen sind für Klapperschlangen
relativ klein. Im Gegensatz zur Diamantklapperschlange, die bis auf
zwei Meter heranwachsen kann und so dick wie das Handgelenk eines
Totengräbers wird, sind die Prärieklapperschlangen kaum einmal
länger als einen Meter. Aber sie sind ekelhafte kleine Teufel und
neigen dazu, ohne große Umstände anzugreifen. Das, so erkannte ich,
war auch für uns eine gute Strategie.
Als Wissenschaftler weiß ich, dass die
Klapperschlangen eine wichtige ökologische Nische besetzen: Sie
sind ein unentbehrliches Glied der Nahrungskette, die wichtigste
Raubtierart, die verhindert, dass Mäuse und andere Nagetiere in der
Prärie überhand nehmen. Auf der Vernunftebene begreife ich das
vollkommen. Aber auf der Ebene von Instinkt und Gefühl habe ich
Angst vor den verdammten Viechern. Vielleicht sollte ich es lieber
nicht eingestehen, aber ich war immer davon überzeugt, dass nur
eine tote Klapperschlange eine gute Klapperschlange ist. Wenn mir
ein lebendes Exemplar begegnet, neige ich zu der Haltung: »Die
Prärie ist nicht groß genug für uns beide.« Wenig später stand ich
in dem Ruf, die schnellste Schaufel im ganzen Westen zu
führen.
Zu den morgendlichen Ritualen der Anthropologen
gehört das Schärfen der Schaufeln. Eine scharfe Schaufel dringt
viel besser in den Boden ein als eine stumpfe. Auch eine Schlange
zerschneidet sie viel besser. Jeden Morgen ließen wir eine Feile
herumgehen und schärften unsere Gerätschaften, wetzten Scharten
aus, die das Gestein hinterlassen hatte, und schliffen sie dann,
bis sie scharf wie ein Rasiermesser waren. Ob eine Schaufel
wirklich scharf ist, kann man ganz einfach überprüfen: Schneidet
sie die Haare vom Unterarm? Ich nahm mir nicht immer die Zeit, mein
Gesicht einzuseifen und zu rasieren, aber mein Unterarm war jeden
Morgen glatt und nackt wie ein Babypopo. Hätte ich für jede
Prärieklapperschlange, die ich mit meiner Schaufel erlegte, eine
Kerbe in den Griff geschnitten, wäre irgendwann vor lauter Kerben
kein Griff mehr übrig geblieben.
Schlangenliebhaber wären über mein rigoroses
Vorgehen sicher entsetzt, aber man muss es im richtigen
Zusammenhang betrachten. Nachdem der Stausee anstieg und immer mehr
Lebensräume verloren gingen, war die Zahl der Klapperschlangen
ohnehin so groß, dass die verbliebenen Flächen sie nicht ernähren
konnten. Zweitens - und das war für mich viel wichtiger - hatte man
mir die Verantwortung für die Sicherheit der Studenten übertragen,
die bei mir arbeiteten. Insgesamt war ich 14 Jahre lang jeweils im
Sommer zu Ausgrabungen in South Dakota, eine Zeit, die von meiner
Tätigkeit als Doktorand in Philadelphia über den Lehrbeauftragten
an der University of Nebraska bis zum Professor auf Lebenszeit an
der University of Kansas reichte. In diesen Jahren waren insgesamt
fast 150 Studenten bei mir in der Prärie tätig, und während dabei
eine ganze Reihe von Klapperschlangen durch solche
artübergreifenden Begegnungen zu Tode kamen, blieben meine
Studenten ausnahmslos unversehrt.
Anderswo dagegen starben leider auch
Studenten.
Die Prärie ist insbesondere im Sommer berüchtigt
für ihre plötzlichen, heftigen Wetterumschwünge. Das viele Gras
gibt ungeheure Feuchtigkeitsmengen ab. In der sengenden Sonne
steigt der Wasserdampf auf, bis er kondensiert, und dann bilden
sich flauschige weiße Schäfchenwolken, manchmal aber auch schwarze,
sieben Kilometer hohe Gewitterwolkenberge.
Vier Studenten aus der Mannschaft eines Archäologen
waren gerade mit dem Boot auf dem Rückweg von einem abgelegenen
Dorf, als sie in ein Unwetter gerieten. Sie hatten es kommen sehen
und waren bemüht, vorher zurück zu sein, aber in der Prärie kann
ein Sturm ebenso schnell und unbarmherzig zuschlagen wie eine
verärgerte Klapperschlange. Bei orkanartigem Wind und ozeanartigen
Wellen kenterte das Boot, und alle vier ertranken. Schwimmwesten
hatten sie zwar an Bord, aber sie waren jung und hielten sich für
unsterblich - keiner hatte das lebensrettende Kleidungsstück
angelegt. Als das Boot dann umschlug, war es zu spät.
Manchmal grinsten die Studenten über mein
Sicherheitsbewusstsein, aber ich war immer ein vorsichtiger Mensch,
und das hat sich ausgezahlt: Ernsthafte Verletzungen habe ich mir
nie zugezogen, und auch meinen Studenten blieben sie stets erspart.
Im Sommer 1958 waren wir auf die zweite Flussterrasse des Missouri
zurückgekehrt und hatten mehrere Dutzend Gräber der Arikara
ausgegraben. Nach manchen archäologischen Maßstäben wäre das eine
hervorragende Ausbeute gewesen, insbesondere wenn wir die
Möglichkeit gehabt hätten, auf Jahre hinaus immer wieder hierher zu
kommen. Aber wir wussten, dass wir an der Sully-Stätte - und an
allen anderen Stellen auf den nächsten 370 Kilometern flussaufwärts
- nur sehr wenig Zeit hatten. Die Schleusen des Oahe-Dammes hatten
sich bereits geschlossen, und das Wasser stieg. Wir mussten
schneller vorankommen.
Zehn Jahre zuvor, als Studienanfänger auf dem
College, hatte ich im Sommer öfter im Steinbruch meines Stiefvaters
Bulldozer und Kipplader gefahren. Es war ein toller Ferienjob für
ein großes Kind, das gern mit riesigen Modellautos spielt.
Für Geschwindigkeit hatte ich mich nie besonders
interessiert - schnelle Autos haben für mich keinen großen Reiz.
Kraft dagegen war ganz etwas anderes. Gebt mir einen Lastwagen mit
einem riesigen Dieselmotor und einem dicken Untersetzungsgetriebe,
dann bin ich glücklich.
Bei meiner sommerlichen Tätigkeit im Steinbruch
musste ich mir als Sohn des Chefs so manche Stichelei gefallen
lassen. Manches davon war gutmütig, anderes nicht. Insbesondere ein
Arbeiter, ein hagerer, einfältiger Mann Mitte 40, ließ nichts
unversucht, um mir das Leben schwer zu machen. Eines Tages - ich
fuhr gerade durch eine schmale Passage zwischen zwei Gebäuden - kam
er mir geradewegs mit einem Tieflader entgegen.
In einem Steinbruch gibt es für solche Begegnungen
ganz genaue Regeln: Das beladene Fahrzeug hat immer Vorfahrt. Ich
hatte 15 Tonnen Steine geladen; sein Tieflader war leer. Es war
kein Platz, um aneinander vorbeizufahren, und es war kein Platz zum
Wenden. Er musste zurücksetzen.
Aber er setzte nicht zurück. Ich wartete, und er
grinste mich an. Ich hupte; er grinste nur noch breiter.
Den ganzen Sommer über hatte ich versucht,
freundlich zu dem Burschen zu sein, aber es hatte ganz
offensichtlich nichts genützt. Schließlich rastete bei mir etwas
aus. Krachend legte ich den ersten Gang ein und ließ die Kupplung
kommen. Als die Stoßstange meines Lastwagens den Bug seines
Tiefladers berührte, bekam er große Augen. Aber er setzte immer
noch nicht zurück. Ich trat auf das Gaspedal, der große Lastwagen
kroch vorwärts und schob den Tieflader zurück.
Nur eines hatte ich anfangs nicht erkannt: Die
Stoßstange des Lastwagens war ungefähr 30 Zentimeter höher als die
des Tiefladers. Aber ich merkte es sehr schnell: Der Kühlergrill
seines Wagens gab nach, der Kühler platzte, und Dampffontänen
schossen heraus. O Mist, dachte ich, aber der Schaden war schon
angerichtet. Demnach, so dachte ich, kann ich ebenso gut
weiterschieben, bis mein Weg frei ist.
Von meinem Stiefvater musste ich mir anschließend
eine Strafpredigt anhören, die sich gewaschen hatte, aber die
älteren Männer im Steinbruch behandelten mich von nun an mit
Respekt - und dieser niederträchtige Dummkopf ging mir aus dem Weg.
Seither ist mir Kraft stets wichtiger als Geschwindigkeit.
Aber in South Dakota mussten wir schnell sein. Nur
dann bestand die Aussicht, dem steigenden Wasser des Missouri
zuvorzukommen. In den nächsten beiden Jahren, als ich im Sommer
jedes Mal über dem Problem brütete, kam mir eine Idee: Vielleicht
war Kraft hier tatsächlich der Schlüssel zur Geschwindigkeit.
An einem kühlen Morgen im Juni 1960 kroch ein
Lastwagen mit Tiefladeanhänger holpernd zur Sully-Stätte. Er
brachte einen Bulldozer und eine Planiermaschine. Ich hatte bei der
National Science Foundation Forschungsmittel beantragt, um für die
Ausgrabungen schweres Gerät mieten zu können, und sie hatten sich -
ganz offensichtlich mit gemischten Gefühlen - bereit erklärt, mir
das Experiment zu ermöglichen.
Ich wollte eine besondere Eigenschaft des hiesigen
Bodens nutzen: Die durchwühlte Erde der Arikara-Gräber war dunkler
und sah lockerer aus als der dichte, unberührte Löss in ihrem
Umfeld. Deshalb waren die Umrisse der Gräber für das geübte Auge
leicht zu erkennen. Es klappte zumindest dann, wenn man die oberste
Bodenschicht vorsichtig von Hand entfernte. Würde es auch dann
gelingen, wenn wir die ersten 30 Zentimeter der Deckschicht mit
schwerem Räumgerät abtrugen? Konnten wir dann noch die hölzernen
Abdeckungen der Gräber und ihre charakteristischen, kreisförmigen
Umrisse ausmachen - oder würden die Schaufeln und Räder der
schweren Maschinen alles zu einer Masse aus Erde und
Knochentrümmern zermahlen? Wenn ja, wäre das für mich ein
unerwünschtes Ergebnis gewesen, denn ich war ja nach South Dakota
gekommen, um Knochen zu bewahren und nicht um sie zu
zertrümmern.
Den Anfang machten wir in einem Gebiet, wo wir
durch die Ameisen und unsere eigenen Ausgrabungen bereits wussten,
dass wir wahrscheinlich Grabstätten finden würden. Der
Bulldozerfahrer schlug eine gerade Schneise, die 25 Meter lang,
aber nur fünf Zentimeter tief war. Außer Gras und feinkörnigem Löss
kam nichts zum Vorschein.
Mehrere weitere Gräben; immer noch nichts. In der
Überzeugung, dass es eine dumme Idee gewesen war, wollte ich die
Arbeiten gerade einstellen lassen, da sah ich es: Hinter
Planierraupe und Bulldozer, in der magischen Tiefe von 30
Zentimetern, war eindeutig ein Kreis aus dunklerem, lockerem Boden
zu erkennen. Ich stieß einen Schrei aus, auf den jeder
Arikara-Krieger stolz gewesen wäre.
In jenem Sommer legten wir mit Hilfe der schweren
Geräte über 300 Gräber der Arikara frei - zehn Mal so viele, wie
wir im Jahr zuvor von Hand ausgegraben hatten.
Mittlerweile hatten wir in South Dakota den Sommer
über eine richtige kleine Siedlung. Anfangs wohnten wir an der
Grabungsstätte in Zelten, aber nach den ersten Jahren mieteten wir
ein Haus für die Mitarbeiter und ein zweites für die Familie Bass,
zu der außer mir jetzt auch Ann, Charlie und seit neuestem William
M. Bass IV gehörte, unser Billy. Die übrige Mannschaft umfasste
zehn Studenten und einen Koch, der sich immer mächtig anstrengen
musste, um uns alle satt zu bekommen (manchmal scheinbar mit nichts
anderem als Erdnussbutter aus staatlichen Überschussbeständen,
einem Lebensmittel, das ich noch heute, 40 Jahre später, nicht
ausstehen kann).
Die Häuser waren spärlich möbliert. Alle schliefen
auf Militärfeldbetten, Pritschen aus grünem oder beigefarbenem
Segeltuch, das über ein wackeliges Holzgestell gespannt war. Von
Anfang an bemerkte ich, dass die Feldbetten immer wieder das
gleiche Problem bereiteten: Sie gingen kaputt. Nachdem Millionen
Soldaten auf Armeefeldbetten schlafen konnten, ohne sie zu
ruinieren, sollte eine Hand voll Studenten eigentlich ebenfalls
dazu in der Lage sein. Die Ursache war, wie sich bald
herausstellte, der Sex: Zwei Körper, die sich in Bewegung befanden,
stellten für die Scharniere der Feldbetten eine zu starke Belastung
dar. Also erließ ich eine Vorschrift, die erste meiner beiden
Hauptregeln für die Mannschaft bei den sommerlichen Ausgrabungen:
kein Sex auf den Feldbetten. Jetzt blieben die Schlafstätten
intakt.
Die Regel Nummer zwei war ebenso einfach, hatte
aber einen ernsteren Hintergrund: Lasst euch nicht festnehmen -
nicht wegen zu schnellen Fahrens, nicht wegen Trunkenheit,
Schlägereien, Störung der öffentlichen Ordnung oder Spuckens auf
den Bürgersteig; wem das passiert, der fliegt. Wir standen durch
das steigende Wasser des Flusses bereits unter einem solchen Druck,
dass wir es uns nicht leisten konnten, alles durch Konflikte mit
den örtlichen Behörden noch komplizierter zu machen. Die Regel
Nummer zwei musste ich nur ein einziges Mal anwenden, und
glücklicherweise brauchte ich nie wegen einer Übertretung der Regel
Nummer eins einzuschreiten.
Trotz der Maschinen zur Erdbewegung waren die
Ausgrabungen anstrengende Arbeit. Wir kamen jetzt zwar viel
schneller voran, aber immer noch mussten wir eine Menge Erde mit
der Hand abtragen. Um die Mitarbeiter bei Laune zu halten,
inszenierte ich Spiele und Wettbewerbe - ich zeigte beispielsweise
auf eine Astgabel an einem Baum, der bald versinken würde, und
setzte einen Preis für denjenigen aus, der sie mit den meisten
Schaufeln voller Erde traf. Es mag verrückt klingen, aber solche
Aktionen hielten die Arbeitsmoral aufrecht. Im Sommer war es
anstrengend und heiß, aber die Arbeit machte auch Spaß.
Außerdem war das, war wir taten, eine
wissenschaftliche Offenbarung. Als die Zahl der ausgegrabenen
Gräber in die Hunderte ging, kristallisierte sich aus dem
Prärieboden allmählich ein höchst interessantes Bild heraus. Zum
ersten Mal, seit in den großen Ebenen des Mittelwestens
archäologische Arbeiten stattfanden, besaßen wir umfangreiche, gut
dokumentierte Funde von Skelettresten eines ganzen Stammes von der
Geburt bis zum hohen Alter. Dabei erkannten wir, dass die Arikara
ein hartes, gewalttätiges und häufig sehr kurzes Leben geführt
hatten. Wir fanden eine erstaunliche Zahl kleiner Gräber mit den
sterblichen Überresten von Säuglingen und Kindern. Bei der
statistischen Auswertung stellte sich heraus, dass fast die Hälfte
der Bevölkerung vor dem zweiten Geburtstag gestorben war, und bis
zum sechsten Lebensjahr lag dieser Anteil bereits bei 55 Prozent.
Dann aber war eine gewisse Grenze erreicht: Im Alter zwischen sechs
und zwölf Jahren gab es nur sehr wenige Todesfälle - wer die frühe
Kindheit überlebte, schaffte es offensichtlich in der Regel auch
bis zur Pubertät. Ungefähr vom 16. Lebensjahr an wurde das Leben
dann wieder gefährlich. Die Frauen bekamen Kinder, die Männer
jagten Büffel und zogen in den Krieg. Es war ein Leben voller
Gewalt und Gefahren.
Die Arikara selbst waren sesshaft, ganz im
Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Sioux, von denen sie häufig
angegriffen wurden. Viele männliche Skelette trugen insbesondere an
Becken und Brustkorb tiefe Narben von Verletzungen, die von Pfeilen
herrührten. Vielfach waren die Pfeilspitzen tief in die Knochen
eingedrungen. Die Wunden waren häufig tödlich, in manchen Fällen
war der Knochen aber auch um die steinerne Pfeilspitze
herumgewachsen; solche Krieger hatten also jahrelang mit einer
Pfeilspitze der Sioux im Leib weitergelebt.
Manche Schädel von Männern und Frauen waren
zertrümmert, ein Indiz für die grausige Wirksamkeit von
Kriegsgeräten aus Stein. Andere Schädel trugen Schnittspuren; am
auffälligsten waren sie meist am Haaransatz über der Stirn, wo beim
Abziehen des Skalps der erste Schnitt gemacht wurde. Bei manchen
dieser skalpierten Opfer steckten noch kleine Flintsteinstücke im
Schädel. In einigen gruseligen Fällen gab es sogar Anzeichen dafür,
dass der Schädel geheilt war - der Betreffende hatte das
entsetzliche Ereignis überlebt und konnte später davon
berichten.
Eines jedoch fanden wir bei Sully nicht:
Gewehrkugeln. Das Dorf wurde um 1750 zum letzten Mal aufgegeben. Zu
jener Zeit waren die Weißen und ihre Waffen kaum mehr als eine weit
entfernte Kuriosität. Das jedoch sollte sich in dem kurzen Zeitraum
von nur 50 Jahren tief greifend ändern - mit tragischen Folgen für
die Arikara.
Die Ausgrabungsstätte von Sully war das größte Dorf
der Arikara. Das bitterste Schicksal jedoch erlitt die rund 300
Kilometer stromaufwärts gelegene Stätte von Leavenworth. Dort
sammelten sich die Arikara um 1800 vor ihrer letzten Schlacht gegen
die Sioux und die Weißen sowie gegen tödliche Feinde, die sie noch
nicht einmal sehen konnten. Zwölf Arikara-Sippen schlossen sich
hier zusammen, weil sie sich in größerer Anzahl sicherer fühlten.
Knapp südlich der heutigen Grenze von North Dakota bauten sie auf
der ersten Terrasse des Missouri im Abstand von wenigen hundert
Metern zwei Dörfer, die durch einen hübschen kleinen Wasserlauf
getrennt waren.
Dort trafen Lewis und Clark mit den Arikara
zusammen und gerieten mit ihnen in Streit. Dort setzten skrupellose
Agenten der Pelzhandelsgesellschaften biologische Kampfstoffe ein:
Aus Saint Louis brachten sie Decken mit, die absichtlich mit
Pockenerregern verunreinigt waren, sodass die Indianer, deren
Immunsystem darauf nicht vorbereitet war, dieser Krankheit
reihenweise zum Opfer fielen. Und dort griff Colonel Henry
Leavenworth am 9. August 1823 mit einer Streitmacht von fast 300
Soldaten der US-Armee, Milizionären aus Missouri und Sioux-Kriegern
die Dörfer mit Gewehren, Pfeil und Bogen, Knüppeln und
Kanonenbooten an. Am Abend des 14. August flüchteten die
überlebenden Arikara heimlich aus ihren zerstörten Dörfern.
Im Sommer 1965 war der Wasserstand des Lake Oahe
auf mehr als 450 Meter über dem Meeresspiegel angestiegen und lag
damit über 30 Meter höher als das natürliche Niveau des Flusses.
Die beiden Arikara-Dörfer bei Leavenworth waren im Wasser
verschwunden. Glücklicherweise lagen die beiden wichtigsten
Friedhöfe auf der Terrasse über den Dörfern und damit fast 15 Meter
höher. Es blieb uns also noch Zeit für weitere Ausgrabungen, wir
standen allerdings unter einem unbarmherzigen Druck.
Im Juni 1966 jedoch holte uns das Wasser ein:
Einige Gräber liefen voll, während wir dort noch mit Grabungen
beschäftigt waren - was dem Ausdruck feuchtes Grab eine ganz
neue Bedeutung gab. Mittlerweile hatten wir an der Stätte von
Leavenworth fast 300 Arikara-Gräber gefunden und ausgegraben. Wir
arbeiteten weiter und zogen immer knapper vor dem Wasser bergauf.
Aber irgendwann fanden wir nichts mehr. Wir zogen mit dem schweren
Gerät lange Gräben und entfernten uns dabei immer weiter vom
eigentlichen Friedhofsgebiet. Dann griffen wir sogar auf die
altmodische Methode zurück und gruben mit der Hand. Aber es war
nichts mehr zu finden. Am 18. Juli 1966 traten wir die
Leavenworth-Stätte an den Fluss ab, wie die Arikara es 143 Jahre
zuvor getan hatten.
Viele Jahre später bezeichnete mich ein Aktivist
der Indianer in einem Zeitungsinterview als »Indianergrabräuber
Nummer eins«. Ich vermute, dass er Recht hatte. Im Laufe von 14
Jahren hatte ich auf den großen Ebenen zwischen vier- und
fünftausend indianische Begräbnisstätten ausgegraben, nach meiner
Kenntnis mehr als jeder andere auf der Welt.
Dennoch hatte ich in diesen 14 Jahren nie auch nur
einen einzigen Zusammenstoß mit den amerikanischen Ureinwohnern.
Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens arbeitete meine Frau Ann, eine
Ernährungswissenschaftlerin, im Sommer regelmäßig daran mit, die
Ernährung der Sioux-Indianer in der Standing Rock Reservation in
South Dakota zu verbessern. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über die
große Diabeteshäufigkeit bei den Sioux und wurde von ihnen wie eine
Freundin behandelt. Davon profitierte ich als ihr Ehemann. Und
zweitens half ich den heutigen Sioux, ihre Rechnung mit den alten
Arikara zu begleichen: Durch mich konnten sie »endlich abrechnen«,
wie sie es nannten.
Aber gegen Ende der sechziger Jahre zeichnete sich
ein deutlicher Wandel ab. Der Lake Oahe füllte sich, und die Ü
bersichtsuntersuchungen der Smithsonian Institution in den
Flussniederungen wurden zurückgefahren. Bevor der Stausee
anzusteigen begann, hatte man mehrere hundert archäologische
Stätten identifiziert, aber nur ein geringer Bruchteil davon wurde
überhaupt ausgegraben. Für mehr fehlten Zeit, Geld und
Arbeitskräfte.
Aber es war nicht nur ein Wettlauf mit dem
steigenden Wasser; wir schwammen auch gegen eine neue kulturelle
Strömung. Ende der sechziger Jahre - es war die Zeit der
Bürgerrechtsbewegung, des Vietnamkrieges und großer
gesellschaftlicher Umwälzungen - erhoben die amerikanischen
Ureinwohner auch neue Ansprüche auf ihre Kultur, ihr historisches
Erbe und die sterblichen Überreste ihrer Vorfahren. Hier braute
sich offensichtlich ein großer Konflikt zwischen Wissenschaft und
kulturellen Werten zusammen. Bob Dylans volkstümliche Hymnen der
sechziger Jahre sprachen von veränderlichen Zeiten und steigendem
Wasser, und sie enthielten den Rat: »You better start swimmin’
or you’ll sink like a stone.« Als das schlammige Wasser des
Missouri mir bis zu den Fußgelenken stand, hielt ich es für an der
Zeit, mit dem Schwimmen zu beginnen.
In diesem entscheidenden Augenblick trat die
University of Tennessee an mich heran. Und die forensische
Anthropologie. Meine Karriere als »Indianergrabräuber Nummer eins«
war zu Ende. Jetzt sollte meine eigentliche Laufbahn beginnen: als
Gerichtsmediziner.