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Der Tod als Vorbild für die Kunst
Im Jahr 1993 war ich schon seit über 20
Jahren Leiter des anthropologischen Instituts an der University of
Tennessee. Ich hatte dazu beigetragen, dass in der American Academy
of Forensic Sciences (AAFS) eine Sektion für forensische
Anthropologie gegründet wurde, ein wichtiger Meilenstein in der
Entwicklung unseres faszinierenden neuen Fachgebietes. Außerdem war
ich mittlerweile im 22. Jahr als forensischer Anthropologe des
Staates Tennessee tätig, eine Stellung, durch die ich mit
interessanten gerichtsmedizinischen Fällen in nahezu allen 59
Kreisen unseres Bundesstaates in Berührung gekommen war. Zu lokalen
Polizeibehörden, Staatsanwälten, der Kriminalpolizei des
Bundesstaates und dem FBI unterhielt ich enge Beziehungen. Häufig
hielt ich Vorträge vor Gruppen medizinischer Sachverständiger, vor
Ärzten und Zahnärzten, Polizisten und Bestattungsunternehmern.
Mehrmals im Jahr sagte ich als Sachverständiger vor Gericht aus;
hin und wieder schaffte ich es auch bis in die Zeitung oder ins
Fernsehen, insbesondere wenn ich an einem besonders grausigen Fall
arbeitete oder wenn ich eine berufliche Auszeichnung erhalten hatte
wie beispielsweise 1985, als das Council for the Advancement and
Support of Education mich mit der Ernennung zum »Professor des
Jahres« ehrte. Alles in allem glaubte ich, mein Leben könne
überhaupt nicht ausgefüllter und spannender sein.
Aber da hatte ich mich gründlich geirrt. Ein kurzer
Anruf, und alles wurde so hektisch, wie ich es mir in meinen
wildesten Träumen nicht ausgemalt hätte. Schon seit etlichen Jahren
hielt ich im ganzen Land Vorträge auf forensischen Fachtagungen.
Bei einer solchen Konferenz lernte ich Dr. Marcella Fierro kennen,
die junge Assistentin eines medizinischen Sachverständigen aus
Virginia. Nachdem wir uns im Laufe der Jahre auf vielen Tagungen
wiedergesehen hatten, wurden wir gute Freunde. Schließlich wurde
Dr. Fierro die leitende medizinische Sachverständige des Staates
Virginia, und nun lud sie mich einmal im Jahr zu Vorträgen für ihre
Mitarbeiter ein, um deren Horizont zu erweitern oder auch einfach
nur ihren Magen abzuhärten.
Die meisten medizinischen Sachverständigen waren
forensische Pathologen - Ärzte, die sich auf Krankheiten oder
Verletzungen des Gewebes spezialisiert hatten. Wenn sie die
Gelegenheit haben, eine Leiche wenige Stunden oder auch ein paar
Tage nach dem Tod zu obduzieren, gelingt es ihnen häufig
bemerkenswert gut, Todeszeitpunkt und Todesursache festzustellen.
Ist die Verwesung dagegen schon relativ weit fortgeschritten, wird
die Obduktion schwierig. Bakterientätigkeit, chemische
Veränderungen in den Zellen (ein als Autolyse bezeichneter Wechsel
des pH-Wertes) und fressende Maden sorgen gemeinsam dafür, dass das
weiche Gewebe sich verflüssigt, und damit verschwinden auch die
Anhaltspunkte, nach denen ein Pathologe sucht, beispielsweise
Fleischwunden. Sind an den Knochen aber Messerspuren oder andere
Verletzungen zu erkennen, kann ein erfahrener forensischer
Anthropologe aus dem Skelett häufig auch dann noch verblüffend
vielfältige Erkenntnisse gewinnen, wenn eine Obduktion schon lange
nicht mehr möglich ist.
Im Jahr 1984 kam eine junge Fachautorin in das Team
von Dr. Fierro in Richmond. Die frühere Gerichtsreporterin war
eindeutig hochintelligent, sehr wortgewandt und fasziniert von
forensischen Ermittlungen. Außerdem war sie eine viel versprechende
Krimiautorin. Nachdem sie sechs Jahre in Dr. Fierros Behörde
gearbeitet hatte, verkaufte sie ihr erstes Romanmanuskript.
Die junge Frau hieß Patricia Cornwell, und der
Roman mit dem Titel Postmortem (deutsch Ein Fall für Kay
Scarpetta) verhalf ihr als höchst talentierter Schriftstellerin
zum Durchbruch. Er wurde im ersten Jahr nach dem Erscheinen mit
fünf internationalen Preisen ausgezeichnet und ist damit bis heute
der einzige derart hoch dekorierte Kriminalroman. Postmortem
war nicht nur Patricia Cornwells Erstlingswerk, sondern sie stellte
darin auch ihre Hauptfigur vor, die medizinische Sachverständige
Kay Scarpetta aus Virginia, eine nach außen harte, innerlich aber
sanfte und verletztliche Frau. Was die berufliche Seite anging,
bezog Cornwell die Anregung nach meiner Vermutung von Dr. Marcella
Fierro, während sie mit den privaten Aspekten wohl eher sich selbst
zeichnete. Jedenfalls wurde Scarpetta schnell zu einer
charismatischen Gestalt der Kriminalliteratur. Das Gleiche gilt
auch für Patricia Cornwell.
Ich lernte die Schriftstellerin auf einem der
alljährlichen Weiterbildungsseminare von Dr. Fierro kennen. Damals
arbeitete sie noch in der Behörde der medizinischen
Sachverständigen. Wie gewöhnlich zeigte ich Dias von madenbedeckten
Leichen. Nach dem Vortrag stellte Patricia Cornwell sich vor,
erkundigte sich ausführlich nach meinen Forschungsarbeiten und
machte mir Komplimente wegen meines Vortrages. Das war es dann -
oder jedenfalls glaubte ich das.
Im Sommer 1993 erhielt ich einen Anruf. Die Stimme
am anderen Ende der Leitung sagte: »Dr. Bass, hier ist Patricia
Cornwell.« Sie rief mir wieder ins Gedächtnis, wer sie war und wo
wir uns kennen gelernt hatten - mittlerweile war sie reich und
berühmt, und bei Dr. Fierro arbeitete sie auch nicht mehr -, um
dann direkt zur Sache zu kommen: »Ich wollte fragen, ob Sie
vielleicht in Ihrer Forschungseinrichtung ein kleines Experiment
für mich machen könnten.« Wie sie mir erklärte, arbeitete sie
gerade an einem neuen Roman; darin sollte der Mörder einige Tage
nach der Tat an den Ort des Geschehens - den Keller eines Hauses -
zurückkehren und die Leiche an einen anderen Ort bringen. Was sie
von mir wissen wollte: Welche besonderen Eigenschaften oder
Kennzeichen nimmt eine Leiche im Laufe der Verwesung an, und wie
viel davon bleibt erhalten, wenn man sie von einer Stelle zur
anderen transportiert?
So etwas hatte ich noch nie erlebt. Medizinische
Sachverständige und Mordermittler hatten mich schon häufiger
gebeten, bestimmte Phänomene zu untersuchen, aber von einem
Romanschriftsteller war ich noch nie gefragt worden. Aus einem
ersten Impuls heraus wollte ich ablehnen, aber als sie mir näher
erklärte, was ihr vorschwebte, war meine wissenschaftliche Neugier
geweckt. Es waren interessante Fragen. In der anthropologischen
Forschungseinrichtung befassten wir uns schon seit einem Dutzend
Jahren mit der Verwesung, aber bisher hatten wir die Leichen meist
vergraben oder einfach im Freien auf dem Boden liegen lassen. Mit
unseren Forschungsarbeiten hatten wir immer das Ziel verfolgt, mehr
über die Vorgänge und den zeitlichen Ablauf der Verwesung zu
erfahren, damit wir der Polizei helfen konnten, den Todeszeitpunkt
genauer zu ermitteln. Cornwells Anfrage eröffnete ein ganz neues
Forschungsgebiet.
Ich rief meinen Freund und Kollegen Detective
Arthur Bohanan bei der Polizei von Knoxville an, um aus der Sicht
eines Mordermittlers zu erfahren, ob solche Experimente nützlich
sein könnten und welche Erkenntnisse dabei am wichtigsten wären.
Art war kein Durchschnittspolizist. Er hatte sich im Laufe der
Jahre zu einem richtigen Experten für Fingerabdrücke weitergebildet
und interessierte sich insbesondere für Methoden, um sie auch von
bisher nicht »fingerabdruckfähigen« Oberflächen zu gewinnen: von
Stoff, Papier, sogar von der Haut eines Mordopfers. Er ließ sich
sogar einen Apparat patentieren, der Cyanacrylat - Superkleber -
verdampft und auf einer Oberfläche oder in einem ganzen Raum
versprüht. Wer sich schon einmal versehentlich die Finger damit
zusammengeklebt hat, der weiß, wie gern das Zeug sich mit
menschlicher Haut verbindet. Wie Art entdeckte, bindet es sich auch
an die Fettsubstanzen, die zurückbleiben, wenn Fingerspitzen eine
Fläche berührt haben. Sein Apparat ist heute bei den
Polizeibehörden auf der ganzen Welt in Gebrauch; er macht
verborgene Fingerabdrücke sichtbar, die einem mit konventionellem
Einstäuben entgehen würden. Erst kürzlich bestellte das FBI wieder
einmal 66 Maschinen von Art; eine bessere Werbung für ein
Fingerabdruck-Gerät kann man sich nicht wünschen.
Als wir uns darüber unterhielten, was für
Experimente Cornwell machen wollte, wurde Arts Begeisterung immer
größer. Wenn ein Fingerabdruck auf einer Leiche dazu beitragen
konnte, einen Fall zu lösen, warum dann nicht auch irgendein
anderes charakteristisches Kennzeichen? Er hatte an Leichen schon
früher eigenartige Abdrücke und Verfärbungen gesehen, verfügte aber
über keine Befunde, mit denen er sie erklären könnte. Damit war die
Sache entschieden: Ich wollte das Experiment machen. Gemeinsam
riefen Art und ich sie an, um die Planung im Einzelnen zu
besprechen.
Cornwell wollte den Mord im Keller eines Hauses in
der Kleinstadt Black Mountain (North Carolina) ansiedeln. Zu den
Markenzeichen ihrer Romane gehört es, dass sie häufig Schauplätze
wählt, an denen sie selber schon gewesen ist, und dass sie eigene
Erfahrungen einfließen lässt. Black Mountain ist ein Urlaubsort,
und sie hat dort einen großen Teil ihrer Jugend verbracht. North
Carolina und Tennessee liegen ungefähr auf dem gleichen Breitengrad
und haben eine gemeinsame Grenze, die auf dem Kamm der Great Smoky
Mountains verläuft. Black Mountain liegt östlich ungefähr ebenso
weit von diesem Gebirgskamm entfernt wie Knoxville im Westen, das
heißt, an Cornwells Verbrechensschauplatz herrscht ein ganz
ähnliches Klima wie in unserer Forschungseinrichtung.
Um einen Keller nachzustellen, brauchten wir eine
Betonplatte. Zufällig war dieser Teil der experimentellen
Rahmenbedingungen bereits in Arbeit: Wir bauten in der
Forschungseinrichtung gerade einen Schuppen für Gartengeräte,
medizinische Instrumente (Skalpelle und andere Gerätschaften, mit
denen die Skelette am Ende der Untersuchung auseinander geschnitten
wurden) und eine kleine Wetterstation. Als Erstes hatten wir kurz
zuvor ein Fundament gegossen, dessen Größe für das Experiment mehr
als ausreichend war. Um einen geschlossenen Keller nachzuahmen,
brauchten wir über diesem Fundament nur ein »Zimmer« zu errichten -
es bestand aus einer einfachen Sperrholzkiste von zweieinhalb Meter
Länge, 1,20 Meter Breite und 1,20 Meter Höhe.
Dann aber wurde Bohanan und mir eine Schwierigkeit
bewusst. Der Sommer kam schnell näher, und im Osten von Tennessee
ist es in dieser Jahreszeit heiß und feucht; die Temperaturen
liegen häufig bei 30 bis 35 Grad - erheblich wärmer als in einem
kühlen Keller in Black Mountain. Wir riefen Cornwell an und
besprachen das Problem mit ihr; darauf erwiderte sie, wenn die
Schwierigkeit damit zu beseitigen wäre, sollten wir eine
Klimaanlage bestellen und ihr die Rechnung schicken. Wir hätten uns
keine Sorgen machen müssen. Manchmal werden mehr Leichen gespendet
und manchmal weniger, und dieser Sommer war aus irgendeinem Grund
eine Sauregurkenzeit. Nicht lange, dann war die warme Jahreszeit
vorüber; mit der neuen Footballsaison kam der Herbst.
Und Patricia Cornwell. An einem Footballwochenende
im September 1993 besuchte sie uns. An solchen Wochenenden steht
Knoxville Kopf; sie hatte vermutlich das letzte freie Hotelzimmer
der Stadt gebucht und aß mittags zwischen orange gewandeten UT-Fans
in einem beliebten Restaurant am Flussufer nicht weit vom Stadion.
Ich begleitete sie zu unserer Forschungseinrichtung, zeigte ihr die
Leichen in unterschiedlichen Verwesungsstadien und erläuterte ihr
die Forschungsprojekte einiger Studenten. Sie machte sich eifrig
Notizen.
Ein paar Wochen später nahmen Arthur Bohanan und
ich einer gespendeten Leiche die Fingerabdrücke ab, und dann
brachten wir den Toten - Nummer 4-93 - zur Forschungseinrichtung.
Gemeinsam hievten wir die Leiche aus dem Lastwagen in unsere
Sperrholzkiste. Wie Cornwell es gewünscht hatte, legten wir sie auf
den Rücken. Unter den Körper steckten wir ein Ein-Cent-Stück mit
der Kopfseite nach oben, einen Schlüssel, eine
Messing-Schließplatte aus einem Türrahmen, eine Schere und die
Kette einer Kettensäge. Dann schlossen wir die Tür und entfernten
uns wie der Mörder in Cornwells Geschichte.
Sechs Tage später kamen wir wieder, nahmen die
Kiste auseinander und holten die Leiche. Aber im Gegensatz zu
Cornwells Mörder, der den Toten an einem Seeufer ablegt, brachten
wir unseren ins Leichenschauhaus; dort untersuchten und
dokumentierten wir, welche Spuren und Indizien von der
nachgestellten Mordszene übrig geblieben sein könnten. Am unteren
Rücken trug die Leiche eine genau kreisförmige Vertiefung, in deren
Mitte schwach, aber eindeutig das Bild von Abraham Lincoln zu
erkennen war. Der Abdruck war nicht ganz so scharf, als wenn man
ein Blatt Papier über die Münze legt und mit einem Bleistift
darüber streicht, aber es kam einem solchen Bild erstaunlich nahe.
Die Vertiefung war braun mit grünen Flecken - Kupferoxid,
entstanden durch die Korrosionswirkung der Körperflüssigkeiten auf
die Münze.
Der Schlüssel und die Schließplatte hatten an den
Beinen scharfe Umrisse hinterlassen. Den gleichen Effekt hatte die
Schere, die wir unter den Rücken gelegt hatten; ihre Griffe hatten
im Fleisch zwei exakte Ovale hinterlassen. Der Abdruck der
Sägekette sah gewunden und unheilvoll aus; die Zähne hatten das
Fleisch dunkel rötlich braun verfärbt, fast als hätten sie in die
Haut gebissen.
Noch etwas anderes fiel uns an der Leiche auf: eine
scharf umgrenzte, erhabene Leiste aus Fleisch, die sich im Zickzack
über Rücken und Schulter zog. Anfangs stellte sie uns vor ein
Rätsel, aber dann sahen wir uns die Stelle, wo der Tote gelegen
hatte, noch einmal genauer an. Quer über unsere Betonplatte, die
von blutigen Amateuren - meinen Studenten und mir - gegossen worden
war, zog sich ein Riss, dessen Zacken genau mit der Linie auf der
Leiche übereinstimmten.
Arthur und ich waren über die Ergebnisse
begeistert; den gleichen Effekt hatten sie auch auf Patricia
Cornwell, als wir ihr den Forschungsbericht und Kopien unserer
Fotos schickten. Sie erklärte, sie habe durch das Experiment genau
die Details erfahren, die sie für ihr Buch brauchte.
Das nächste Mal traf ich Cornwell im darauf
folgenden Februar bei der Jahrestagung der American Academy of
Forensic Sciences im texanischen San Antonio. Als Krimiautorin war
sie immer auf der Suche nach neuen Methoden, durch die ihre Bücher
noch interessanter und realitätsnäher wurden, und die Tagungen der
AAFS dienten den Wissenschaftlern häufig als Forum für die
Bekanntgabe neuer wissenschaftlicher Fortschritte und forensischer
Methoden. Ich traf Cornwell auf einer Galerie über der Lobby des
Marriott River Central Hotel, in dem die Konferenz stattfand. Als
ich mich nach ihrer Arbeit an dem Buch erkundigte, erwiderte sie,
es sei fertig, und sie sei damit sehr zufrieden. Dann dankte sie
mir noch einmal für das Experiment und fügte hinzu: »Ich habe ihm
den Titel The Body Farm (deutsch Das geheime Abc der
Toten) gegeben.« Da war ich platt.
Als wir 1980 anfingen, die Verwesung von Leichen zu
untersuchen, hatte unsere Forschungseinrichtung nicht einmal einen
Namen. Schließlich war es nur ein Grundstück von einem knappen
Hektar, das wir eingezäunt hatten, um Fleisch fressende Tiere und
neugierige Menschen fern zu halten. Ursprünglich war es von einem
Maschendrahtzaun umgeben, aber nachdem mehrere Passanten beim
Anblick der Leichen traumatische Erlebnisse gehabt hatten, setzten
wir zusätzlich einen Sichtschutzzaun aus Holz. Irgendwann -
vermutlich zu der Zeit, als wir erste Forschungsergebnisse zu
Papier brachten und in Fachzeitschriften wie dem Journal of
Forensic Sciences veröffentlichen wollten - dachten wir uns
eine wissenschaftlich klingende Bezeichnung aus. Also tauften wir
das Ganze auf den Namen Anthropology Research Facility
(»anthropologische Forschungseinrichtung«) oder kurz ARF. Wenig
später schlug die Bezirksstaatsanwaltschaft vor, sie in Bass
Anthropology Research Facility oder BARF umzubenennen.
Glücklicherweise setzte dieser Spitzname sich nie durch;
stattdessen sprachen Polizei und FBI-AGENTEN immer häufiger von der
Body Farm. Wenig später nannte auch ich sie so. Es spricht
sich leichter aus und ist viel anschaulicher als »anthropologische
Forschungseinrichtung«.
Als Cornwell uns um die Durchführung des
Experiments bat, hatte ich keine Ahnung, dass auch das Personal in
ihrem Buch vorkommen würde; ich hatte angenommen, sie würde ein
paar Forschungsergebnisse verwenden, mehr nicht. Und nun teilte sie
mir mit, wir seien die Hauptattraktion. Ich fühlte mich entsetzlich
geschmeichelt, und das hatte seinen Grund: In all den Jahren, seit
wir die Verwesung erforschten, hatte sich nie jemand um unsere
Arbeit geschert - abgesehen vielleicht von ein paar Anthropologen
und Insektenforschern, aber das war’s dann auch. Und auf einmal
will eine berühmte Autorin den Namen unserer Forschungseinrichtung
als Buchtitel verwenden. Was für ein netter Schlag auf die
Schulter! Ich erwiderte, ich sei ganz wild darauf, es zu
lesen.
Ein paar Monate später kam ein Exemplar mit der
Post. Als ich es las, war ich verblüfft. Unsere
Forschungseinrichtung wurde darin ebenso in leuchtenden Farben
beschrieben wie ihr Leiter »Dr. Lyall Shade«. Es war, als hätte
sich der größte Scheinwerfer der Welt auf uns gerichtet: Wochenlang
stand das Telefon nicht mehr still. Unsere Institutssekretärinnen
wimmelten Dutzende von Reportern ab, die anriefen und sich nach der
Telefonnummer der Body Farm erkundigten. Draußen im Freiland hatten
wir natürlich kein Telefon, aber ungefähr nach den ersten hundert
Anrufen sagte ich den Sekretärinnen im Scherz, sie sollten die
Fragesteller auf die Nummer 1-800-I AM DEAD verweisen.
Im Jahr 1996 war The Body Farm einer der
größten Krimibestseller aller Zeiten. Auch international wurde das
Buch ein großer Erfolg, mit Hunderttausenden verkauften Exemplaren
in England, Japan und anderen Ländern. Einer meiner Bekannten fuhr
damals regelmäßig geschäftlich nach Japan und erzählte mir, er habe
seinen Koffer jedes Mal im Auftrag seiner dortigen Kollegen mit
Exemplaren des Buches voll stopfen müssen, wenn er aus Amerika
kam.
Es dauerte nicht lange, dann zog eine Karawane von
Reportern und Fernsehteams nach Knoxville und zur Body Farm. Auch
jetzt, zehn Jahre später, ist sie noch nicht abgerissen. Manche
Berichte waren ärgerlich oder zum Lachen, aber andere behandelten
das Thema auch mit Sachkenntnis und Respekt.
Aber so schmeichelhaft die Aufmerksamkeit der
Medien auch war, sie lenkte mich ab. Wären wir bereit gewesen,
Forschung, Lehre und Schreiben aufzugeben, hätten wir 24 Stunden am
Tag Besucher durch die Forschungseinrichtung führen können. Ich
halte jedes Jahr rund 100 Vorträge vor Polizisten,
Bestattungsunternehmern und anderen Gruppen, und fast immer fragen
die Zuhörer, ob sie die Body Farm auch besichtigen können. Einmal
riefen innerhalb einer Woche die Mütter von zwei verschiedenen
Pfadfindergruppen an und erkundigten sich, ob ich ihre Kinder nicht
durch die Body Farm führen könne. Als es so weit war, hatte ich
endgültig genug: Die Sache glitt uns eindeutig aus den Händen.
Jetzt sagte ich viel häufiger nein als ja. Dennoch willige ich auch
heute noch in vielen Fällen ein, und meine Kollegen tun das
Gleiche.
Teilweise ist die Aufmerksamkeit auch ein Segen.
Durch Patricia Cornwells Bestsellerroman und das anschließende
Medieninteresse bekommen wir mittlerweile viel mehr Anfragen von
Menschen, die ihre Leiche für die Forschung spenden wollen. Und
wenn solche Spender sich zum ersten Mal an die Universität wenden,
sagen sie fast immer: »Ich möchte meinen Körper der Body Farm
stiften.«
Im November 2002 erschien ein weiteres
bemerkenswertes Buch von Patricia Cornwell, dieses Mal ein
Sachbuch. Portrait of a Killer: Jack the Ripper, Case Closed
(deutsch Wer war Jack the Ripper?) war das Ergebnis
zweijähriger, eingehender forensischer Untersuchungen. Hier ahmt
das Leben die Kunst nach - oder genauer gesagt: Die Kunst gibt dem
Leben eine Anregung. Die Krimiautorin hat sich selbst als echte
forensische Detektivin neu erfunden. Nachdem sie tief in die
Vergangenheit eingedrungen ist und sich neuester DNA-Technologie
bedient hat, vertritt sie in dem Buch die Ansicht, Jack the Ripper
sei ein viktorianischer Künstler namens Walter Sickert gewesen,
denn dieser malte eine grausige Serie von Morddarstellungen, die
verblüffende Ähnlichkeit mit den Mordschauplätzen und Opfern von
Jack the Ripper hatten. Sollte Patricia Cornwell sich irgendwann
entschließen, die Romanschriftstellerei aufzugeben, könnte sie sich
in der wirklichen Welt als zuverlässige forensische Ermittlerin
nützlich machen.
Es gibt im Leben manchmal Augenblicke, an denen
sich etwas ein für allemal ändert - was man aber meist erst im
Rückblick erkennt. Heute kann ich voller Stolz sagen: Ein solcher
Augenblick war für mich und für die anthropologische
Forschungseinrichtung das Erscheinen von The Body Farm. Und
ich bin stolz, dass ich Patricia Cornwell als Kollegin und Freundin
bezeichnen darf.