Vorwort
Der Bürgermeister der Body Farm
Bei nationalen oder internationalen
Tagungen über forensische Wissenschaft und Gerichtsmedizin
verwenden die Teilnehmer auf die Klärung der Frage, in welchem Saal
welcher Vortrag stattfindet, häufig mehr Zeit als auf die Vorträge
selbst. Da mir der Orientierungssinn selbst innerhalb von Hotels
völlig fehlt, habe ich schon häufig 15-Minuten-Diavorträge und
Vorlesungen verpasst, und ich kam sogar zu spät, um noch ein
Exemplar der schriftlichen Zusammenfassung zu ergattern.
Ein Arbeitsfrühstück zu verpassen ist
schwieriger. Es findet in dem Speisesaal statt, wo man dreimal
täglich seine Mahlzeiten einnimmt, und dauert mindestens eine
Stunde. Meist beginnt es um halb acht, wenn alle noch müde sind und
vielleicht sogar einen Kater haben, aber alle sind dennoch
begeistert über die Dias von Menschen, die von Haien, Bären oder
Alligatoren zu Tode gebissen wurden, bei Abstürzen von
Linienmaschinen ums Leben kamen oder vielleicht aus ungewöhnlichen
Gründen auf ungewöhnliche Weise zerlegt wurden; der eine oder
andere hat vielleicht auch auf ungewöhnlich kreative Weise
Selbstmord begangen, beispielsweise mit einem Presslufthammer oder
einer Armbrust. (In einem traurigen Fall wirkte der Pfeil nicht
tödlich; der arme Mann zog ihn sich aus der eigenen Brust und
versuchte es ein zweites Mal.)
Die Erfahrenen und Tapferen verzehren bei solchen
Veranstaltungen Eier mit Speck, ohne sich durch den Anblick und die
Schilderung blutiger Schrecklichkeiten beeindrucken zu lassen.
Unter ihnen war häufig auch ich: Ich machte mir Notizen, gab mich
professionell und unerschrocken. Dann aber, an einem entsetzlich
frühen Morgen, kam der legendäre Dr. Bill Bass hereingeschlurft,
die Kästen mit seinen Dias schräg unter dem einen Arm, flatternde
Notizblätter unter dem anderen. Das Thema seines
Frühstücksvortrages war die »Body Farm« - der Name bezeichnet die
weltweit einzige Einrichtung für die Erforschung der
Leichenverwesung und wurde allen gegenteiligen Gerüchten zum Trotz
nicht von mir geprägt. Als ich den zurückhaltenden, witzigen und
hochintelligenten Dr. Bass zum ersten Mal sah, hatte ich noch nie
von der Body Farm gehört. Innerhalb einer Stunde verdarb er mir
ohne jeden Vorsatz für alle Zeiten den Geschmack an halb garen
Rühreiern, fettigem Schinken und klebrigem Haferbrei.
»Du liebe Güte«, sagte ich angewidert ziemlich zu
Beginn des ersten Diavortrages, den ich von ihm sah (ich glaube, es
war in Baltimore). »Unglaublich, dass er so etwas beim Essen
zeigt!«
Dr. Marcella Fierro, die leitende medizinische
Sachverständige des Bundesstaates Virginia, überhörte meine
Bemerkung und strich sich ein Brötchen mit Butter, während Dr. Bass
langsam ein Dia nach dem anderen durch den Apparat laufen ließ und
uns vorführte, wie schnell ein Leichnam bei sehr heißem, feuchtem
Wetter - beispielsweise im Sommer in den Südstaaten - zum Skelett
werden kann. Ich sah mich in dem überfüllten Raum unter den
Gerichtsmedizinern und forensischen Pathologen um: Alle strichen
Butter auf ihre Brötchen, rührten in ihrem Kaffee, machten sich
Notizen.
»Mein Gott.« Als Dr. Bass näher auf die Maden
einging, schob ich meinen Teller weg. »So etwas kann man doch nicht
bei einem Arbeitsfrühstück zeigen!«<
»Pssst!« Dr. Fierro stieß mich mit dem Ellenbogen
in die Seite.
Danach machte ich um solche
Frühstücksveranstaltungen und die Body Farm jahrelang einen großen
Bogen. Oft wurde ich von Wissenschaftlern gedrängt, ich sollte doch
die Forschungseinrichtung von Dr. Bass in Knoxville in Tennessee
besichtigen.
Ich lehnte jedes Mal ab.
»Das sollten Sie wirklich machen. Es geht nicht
nur um verwesende Leichen und Maden und so etwas. Es geht auch um
die Frage, wie man den Todeszeitpunkt feststellt, ob eine Leiche
nach dem Tod bewegt wurde, wie sie vielleicht ausgesehen hat, bevor
sie bewegt wurde, wer der Tote war und wie er gestorben ist«, und
so weiter, und so weiter.
Dr. Bass wird scherzhaft auch als Bürgermeister
der Body Farm bezeichnet. Als ich ihn schließlich doch aufsuchte,
befand sich in der ersten Zeit unmittelbar hinter dem
stacheldrahtgekrönten Holzzaun ein Briefkasten, in dem die
Anthropologen sich gegenseitig Notizen und Mitteilungen
hinterließen. Es erschien mir äußerst seltsam, als ich zum ersten
Mal dem unverkennbaren Geruch von verwesendem menschlichem Fleisch
folgte, den halben Hektar der Toten betrat und dann von einem
Briefkasten begrüßt wurde, der mit einem roten Fähnchen auf sich
aufmerksam machte.
»Der Briefkasten ist eigentlich nicht für unsere
Bewohner gedacht«, sagte Dr. Bass recht einfältig zu mir, als
könnte ich auf die Idee kommen, dass die hier herumliegenden Toten
nach Hause schrieben, um auf dem Laufenden zu bleiben. »Es ist nur
so, dass wir hier draußen kein Telefon haben.«
Sie haben bis heute noch keines. Die
Wissenschaftler tragen wahrscheinlich wie ich ein Handy bei sich,
aber meist holen sie es nicht aus der Tasche, wenn sie schmierige
Gummihandschuhe und dazu vielleicht noch Gummistiefel und die
Chirurgenmasken tragen. Wenn man in der Body Farm viel zu tun hat,
kommt es einem kaum in den Sinn, jemanden anzurufen.
Während meiner gesamten Laufbahn habe ich
behauptet, dass Gerichtsmediziner wie meine Gestalt Dr. Kay
Scarpetta die Toten sprechen hören. Die Toten haben uns viel zu
sagen, aber nur Menschen mit besonderer Ausbildung und besonderen
Begabungen haben die Geduld, ihnen trotz der Beleidigung unserer
Sinnesorgane zuzuhören. Nur ganz besondere Menschen können eine
Sprache deuten, um die nur die wenigsten Lebenden sich überhaupt
kümmern, von Verstehen ganz zu schweigen.
Willkommen also auf der Body Farm von Dr. Bill
Bass, jener Einrichtung, die genau in diesem Augenblick auf einem
bewaldeten, vom Tod durchtränkten Landstück hinter einem
Krankenhaus in den Hügeln von Tennessee tatsächlich existiert.Viele
ihrer schweigenden Gäste kommen aus eigenem, selbstlosem Entschluss
(wobei sie die Reservierung häufig Monate oder sogar Jahre im die
Voraus tätigen, indem sie ihre Leichen für Dr. Bass’
bemerkenswerte, immer noch laufende Untersuchung zur Verfügung
stellen). Jeden Tag werden verwundete und verbrauchte Körper in die
Erde gebettet und von Vögeln, Insekten oder anderen Raubtieren
weggetragen, die einfach nur ein Teil der Nahrungskette sind und
dem Tod keineswegs besonders nahe stehen.
Die Veränderungen dessen, was einst das Fleisch
eines Menschen war, können so geringfügig sein wie ein Wechsel der
Schatten, aber auch so dramatisch wie ein Brand in einem der alten,
verrosteten Autos, die in der Umgebung der Body Farm herumliegen.
Die Jahre kommen und gehen genau wie die Toten, die sich in Asche
und Knochen verwandelt haben, und Dr. Bass’ geduldige Übersetzung
leistet ihren Beitrag zur fließenden Beherrschung einer geheimen
Sprache, die uns dabei hilft, Verbrecher dingfest zu machen und
jene, die kein Unrecht getan haben, zu entlasten.
Patricia Cornwell