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Am Ort der Tat
Aus Gründen, die ich nicht ganz durchschaue, ist die Forensik im Fernsehen plötzlich zu einem beliebten Thema geworden. Abend für Abend wird eine schier endlose Reihe von Opfern ermordet, und Abend für Abend werden diese Morde schnell und auf intelligente Weise aufgeklärt. Zumindest in den meisten Fernsehkrimis ist der Gerichtsmediziner dabei so etwas wie ein Gott, ausgestattet mit ungeheurer Intelligenz und der abgefeimtesten Technik, die man sich vorstellen kann.
Das Eingeständnis schmerzt mich, aber irgendwie bin ich nicht ganz so schlau wie die superklugen Leute im Fernsehen - und das Gleiche gilt, bei allem Respekt, auch für viele meiner Gerichtsmedizinerkollegen. Wir sind keine Genies und können mit unseren Gerätschaften weder alle Fragen beantworten noch alle Täter ausfindig machen. Aber auch wenn das Fernsehen manchmal unrealistische Erwartungen an die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit von Mordermittlungen weckt, so haben manche Filme uns auch gute Dienste geleistet: Sie haben darauf aufmerksam gemacht, welch großen Beitrag forensische Wissenschaftler - auch ganz normale aus dem wirklichen Leben - dazu leisten können, Mörder vor Gericht zu stellen. Und in einer Hinsicht haben die Krimis Recht: Die Arbeit am Tatort ist für die Aufklärung eines Verbrechens völlig unverzichtbar.
Erstaunlicherweise haben meine Kollegen aus der forensischen Anthropologie in ihrer großen Mehrzahl - nach meiner Vermutung etwa 90 Prozent - nie an einem Tatort ermittelt. Sie geben sich damit zufrieden, Knochen auf einem Labortisch oder unter dem Mikroskop zu untersuchen, beschmutzen sich aber Hände und Schuhe nicht im Freiland mit Kot, Schlamm oder Blut. Auf diese Weise bleiben sie sauber und trocken, aber ihnen entgehen auch viele Indizien, aus denen sie die Wahrheit rund um das Mordopfer und sein Schicksal erfahren könnten. Beispielsweise um ein Opfer wie James Grizzle. Seine Geschichte - die wir am Tatort rekonstruierten - gehört zum Bizarrsten und Entsetzlichsten, was mir in meiner Laufbahn begegnet ist.
An einem eisigen Januarmorgen erhielt ich einen Anruf von einem Beamten der Polizeibehörde des Kreises Hawkins in Tennessee. Ob ich bei der Suche nach der Leiche eines Mannes helfen könne, der nach den Vermutungen der Polizei ungefähr eine Woche zuvor in seinem Haus verbrannt war? Ich sagte meine Mitarbeit zu und nahm drei meiner klügsten Doktoranden mit: Am nächsten Morgen machte ich mich mit Steve Symes, Pat Willey und David Hunt auf den Weg in den 160 Kilometer entfernten Kreis Hawkins.
Mittlerweile arbeitete ich seit zehn Jahren an Tatorten und Mordschauplätzen in Tennessee, und dabei hatte ich mir eine Vorgehensweise angeeignet, die offensichtlich ganz gut funktionierte. Wenn ich von einer Polizeibehörde gebeten wurde, bei der Suche, Bergung oder Identifizierung menschlicher Überreste zu helfen, stellte ich eine vierköpfige forensische Einsatztruppe zusammen: ein Dozent (damals war ich das, heute übernehmen andere Mitglieder des Lehrkörpers abwechselnd die gerichtsmedizinischen Fälle) und drei Studenten, die in der Identifizierung menschlicher Knochen ausgebildet waren.
Mein eigenes Auto benutzte ich mittlerweile nicht mehr. Das anthropologische Institut verfügte jetzt über einen Lieferwagen, und der war ständig mit allem beladen, was wir vor Ort brauchten: Schaufeln und Maurerkellen zum Graben, Drahtgitter zum Aussieben kleiner Knochen und Knochenbruchstücke aus der Erde, drei Leichensäcke, mit denen wir Tote auf der Ladefläche des Wagens (unter einer Abdeckung) transportieren konnten, Asservatenbeutel aus Papier zum Einsammeln von zerbrochenen Knochen, Patronenhülsen, Zigarettenstummeln, Bierflaschen, Messern und anderen aufgefundenen Beweisstücken, ein 30-Meter-Maßband zur Vermessung der Lage von Leichen oder Knochen im Verhältnis zu Bäumen, Masten oder Gebäuden, rote oder orangefarbene Fähnchen zur Markierung der Fundorte von Knochen oder Beweisstücken, und mindestens zwei Kameras.
Die Kameras waren in meinen Augen die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände von allen; wir brauchten sie, um den Tatort, die Suche nach menschlichen Überresten und insbesondere ihre Bergung zu dokumentieren. Ich kenne nur zwei Arten der wissenschaftlichen Forschung, bei denen man den Untersuchungsgegenstand völlig zerstört: Ausgrabungen an archäologischen Stätten und die Untersuchung an einem Mordschauplatz. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, ist nichts mehr da - es ist weg, auseinander genommen; deshalb sollte man mit allen Mitteln dafür sorgen, dass der Vorgang umfassend in Bildern festgehalten wird. Ist der Boden erst einmal umgegraben und zertrampelt, kann man später nicht noch einmal hingehen und suchen, wenn man etwas übersehen hat, beispielsweise die Fußspuren auf einem flachen Grab.
Der Polizeibeamte Harold Nye - er war bei der Polizei des Staates Kansas eine lebende Legende - brachte mir im Zusammenhang mit der Untersuchung von Tatorten eine der wichtigsten Lektionen bei: »Schieß dir den Hinweg frei, und schieß dir den Rückweg frei.« Was wie die Handlungsanweisung für einen Bankräuber mit nervösem Finger am Abzug klingt, war in Wirklichkeit eine Aussage über das Fotografieren: »Wenn du am Tatort ankommst und aus dem Auto steigst, mach eine Aufnahme von dem Haus, dem Wagen oder was sonst noch vorhanden ist«, sagte er. »Wenn du dann näher herangehst, mach weitere Fotos. Mach Aufnahmen vom Erdboden, bevor du ihn betrittst; mach Aufnahmen von den anwesenden Personen; Aufnahmen von den Schuhen der Polizeibeamten am Tatort. Und mach Aufnahmen von der Leiche, bevor du sie bewegst oder auch nur berührst.«
Auf diese Weise hatte sich Harold in der Nacht, als die Leichen im Farmhaus der Familie Clutter gefunden wurden, den Weg freigeschossen. Hätte er es nicht getan - hätte er oder ein anderer Untersuchungsbeamter einen Fuß in den Keller gesetzt, bevor Harold dort den staubigen Fußboden fotografiert hatte -, hätte die Polizei nie die Fußspuren gesehen und auf Film festgehalten, die man später mit den Schuhen des Mörders zur Deckung bringen konnte. Aber da Harold so wild um sich geschossen hatte, waren die Fußabdrücke dokumentiert, und man konnte die Mörder überführen.
Die Frage, was ein Menschenleben oder die Gerechtigkeit wert sind, ist schwer zu beantworten; dagegen ist ein Film ein wahrhaft billiger Gegenstand. Ich habe im Laufe der Jahre Hunderttausende von Tatortfotos gemacht und kein einziges Klicken des Auslösers bereut. Mit immer raffinierteren Kameras - sie sprechen heute auf Infrarotstrahlung oder Wärme an, fangen hochauflösende Digitalfotos ein oder besitzen sogar eingebaute GPS-Empfänger, die automatisch die genaue Lage des Aufnahmeortes mit Längen- und Breitengrad festhalten - wird die Fotografie der Spurensicherung am Tatort in Zukunft noch größere Möglichkeiten bieten.
In meiner vierköpfigen Einsatzgruppe war einer immer als Fotograf tätig. Als wir das abgebrannte Haus im Kreis Hawkins durchsuchten, wurde die Kamera von Steve Symes bedient, einem meiner Doktoranden. Steve hatte seine bemerkenswerte Begabung für die Tatortfotografie bereits unter Beweis gestellt; seine Aufnahmen ließen häufig wesentlich mehr Einzelheiten erkennen als die der offiziellen Polizeifotografen. An jenem Morgen allerdings litt Steve unter einem schweren Manko, von dem ich zunächst nichts wusste: Er war mit einem schweren Kater völlig durchgefroren und patschnass aufgewacht. Irgendwann in der Nacht, nachdem Steve völlig betrunken eingeschlafen war, hatte sein Wasserbett eine undichte Stelle bekommen. Hunderte von Litern Wasser hatten sich über seinen Fußboden ergossen und waren durch die Decke in die darunter liegende Wohnung gedrungen. Glücklicherweise war die Verdrahtung seiner elektrischen Heizdecke wasserdicht; ansonsten wäre er gekocht worden. Jedenfalls fühlte er sich hundeelend, und unsere Fahrt auf den Gebirgsstraßen im Osten von Tennessee trug auch nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei.
Die Fahrt von Knoxville zum Sheriffbüro des Kreises Hawkins in Rogersville dauerte etwa eineinhalb Stunden. Von dort fuhren wir hinter einem Beamten her - Lieutenant Alvis Wilmot, Leiter der Ermittlungen in diesem Fall - über eine gewundene Straße zum nördlichen Arm des Holston River.
Wenn man von der 4000-Seelen-Gemeinde Rogersville aufs Land fährt, ist man mehr oder weniger aus der Welt. Als wir etwa 40 Kilometer außerhalb der Ortschaft in einen Kiesweg abbogen, befanden wir uns in einem abgelegenen Flusstal. Es war so dünn besiedelt - oder vielleicht war man hier auch gegenüber Außenstehenden so misstrauisch -, dass der Brand noch nicht einmal gemeldet worden war. Erst ein Angehöriger des Hauseigentümers, der von Virginia mit dem Auto gekommen war, hatte das Gebäude in Ruinen vorgefunden. Das Anwesen war dicht bewaldet, und das Gelände fiel nach Osten steil zum nördlichen Arm des Holston River mit seinem klaren, grünen Wasser ab. Wir stiegen aus und vertraten uns die Beine; Steve holte ein paar Mal besonders tief Luft.
Nach Angaben von Lieutenant Wilmot hatte sich der Brand vor acht Tagen ereignet; soweit die Polizei das Ereignis nach Vernehmung der Nachbarn rekonstruieren konnte, war das Feuer gegen zwei Uhr morgens ausgebrochen. Als es mangels weiterer Nahrung von selbst erloschen war, hatte es nur ein Rechteck mit verkohlten Trümmern übrig gelassen, das von einem Durcheinander aus geschwärzten Ziegelsteinen umgrenzt wurde; ein größerer Haufen Ziegelsteine kennzeichnete die Stelle, wo im Haus der Kamin gestanden hatte.
Erst einen Monat zuvor hatte ein Mann namens James Grizzle aus Virginia das Haus mit dem Grundstück erworben. Er kam aus einer Gegend, die noch gebirgiger und dünner besiedelt war als diese. Im Dezember war Grizzle in das Haus gezogen und hatte angefangen, es umzubauen. Der Brand ereignete sich am 15. Januar; sechs Tage später war Grizzles Vater gekommen, um nach dem Rechten zu sehen, nachdem er von seinem Sohn nichts gehört hatte. Als er sah, dass das Haus abgebrannt war, hatte er sofort die Polizei benachrichtigt. Wir sollten nun feststellen, ob Grizzles Leiche irgendwo in den verkohlten Ruinen lag, die das Feuer übrig gelassen hatte.
 
Aus Sicht der forensischen Wissenschaft stellen Brandschauplätze eine interessante Kombination aus Gegebenheiten und Herausforderungen dar. Wie an jedem Ort, wo man eine verweste Leiche oder Knochen vermutet, so muss man auch hier alle Überreste von Menschen ausfindig machen und bergen. Nach einem Brand ist das oftmals schwierig, denn eine Leiche macht im Feuer tief greifende Veränderungen durch.
Als Erstes verschwinden Arme und Beine. Relativ dünn und auf allen Seiten von Sauerstoff umgeben, brennen sie wie Zunder. Schon bei Temperaturen von wenigen hundert Grad wird die Haut schwarz, das darunter liegende Fett verschmort, nach wenigen Minuten platzt die Haut, und das Fleisch beginnt zu brennen. Dabei geschieht etwas Bemerkenswertes und wahrhaft Gespenstisches: Die Gliedmaßen bewegen sich - Hände und Füße krampfen sich zusammen, die Arme winkeln sich in Richtung der Schultern an, und die Beine spreizen sich leicht, wobei die Knie gebeugt sind. Die Ursache liegt in Biomechanik und Muskelkraft: Die Beugemuskeln der Arme und Beine sind stärker als ihre Gegenspieler, die Strecker. Wenn das Feuer die Muskeln und Sehnen brät und austrocknen lässt, ziehen sie sich zusammen wie ein Steak auf dem Grill, und dabei üben die Beuger mehr Kraft aus als die Strecker.
Insgesamt ergibt sich daraus eine ähnliche Körperhaltung wie bei einem Boxer im Ring. Diese charakteristische Haltung findet man - genau wie die violette Verfärbung oder die geschwollene Zunge bei Gehängten - bei allen Opfern von Bränden, wenn die Gliedmaßen Spielraum haben und sich beugen können. Sind die Arme jedoch festgebunden oder hinter dem Rücken gefesselt, können sie sich nicht zusammenziehen; eine verbrannte Leiche in gestreckter Haltung lässt also unter Umständen den wichtigen Schluss zu, dass das Opfer irgendwie in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.
Die zweite dramatische Veränderung spielt sich am Kopf ab. Der Schädel ist eigentlich ein wasserdichter Behälter, der Flüssigkeit und den größten Teil des Gehirngewebes enthält. Nicht lange, dann hat die Temperatur der Flüssigkeit den Siedepunkt erreicht, und der Schädelinnendruck nimmt zu; je heißer das Feuer ist, desto größer wird der Druck. Findet er ein Ventil - beispielsweise eine Einschussöffnung im Schädel -, baut er sich ab, ohne Schaden anzurichten. Ist das aber nicht der Fall, kann der Schädel buchstäblich platzen: Er zerbricht in zahlreiche Stücke von der Größe einer kleinen Münze. Die Bergung und Rekonstruktion eines Schädels an einem Brandschauplatz gehört zu den langwierigsten Aufgaben, mit denen ein forensischer Anthropologe konfrontiert wird, und auch nachdem man ihn zusammengesetzt hat, bleiben Fragen: Verletzungen mit stumpfen oder scharfen Gegenständen sind zwischen den vielen vom Feuer verursachten Bruchlinien und den durch fehlende Stücke entstandenen Lücken häufig kaum auszumachen.
Andererseits kommt Tatortermittlern der Umstand zu Hilfe, dass eine Leiche fast nie vollständig verbrennt. Selbst im Krematorium bleiben beträchtliche Knochenreste, die dann mechanisch zu Pulver zermahlen werden müssen. Aber auch die größten und widerstandsfähigsten Knochen unseres Körpers - Oberschenkelknochen, Schienbein und Oberarmknochen - werden durch Feuer häufig stark beschädigt. In einem Haus, das bei relativ niedrigen Temperaturen abbrennt, werden die langen Knochen schwarz oder karamellfarben, ihre Struktur bleibt aber weit gehend intakt. Nach einer Brandstiftung jedoch - wenn das Feuer also mit Benzin oder einem anderen Brandbeschleuniger gelegt wurde -, können die Temperaturen bis auf über 1100 Grad steigen; bei derart extremer Hitze macht der Knochen einen chemischen und strukturellen Wandel durch. Wie alle Körperteile, so enthalten auch die Knochen viel Kohlenstoff, der bei extrem hohen Temperaturen verbrennt. Zurück bleibt dann ein so genannter »kalzinierter« Knochen: Er hat unter Umständen noch die ursprüngliche Gestalt - genau wie ein Korallenriff, das auch dann noch seine Form hat, wenn die Lebewesen, die es aufgebaut haben, abgestorben sind -, ist aber sehr leicht, grau verfärbt, von Hitzebrüchen durchzogen und so empfindlich, dass er einem häufig unter den Händen zerfällt und mit Sicherheit durch einen Fußtritt zerstört wird. (Kürzlich wandte sich ein Anwalt an mich, der einen Mordprozess neu aufrollen wollte; er berichtete mir, ein zentrales Beweisstück der Anklage - ein kalziniertes Schädelfragment des Opfers - sei versehentlich auf den Fußboden gefallen, und der Richter sei darauf getreten, sodass nur noch Staub übrig blieb.)
Trotz seiner Zerstörungskraft hinterlässt Feuer erstaunlich viele Indizien. Man muss nur wissen, wo und wie sie zu finden sind. Mittlerweile macht es mir sogar Spaß, das wissenschaftliche Rätsel zu lösen und im Geist zu rekonstruieren, wie der Schauplatz des Brandes kurz vor dem Ausbruch des Feuers ausgesehen hat. Knöpfe und Schnallen, Haken und Ösen, Messingnieten und Reißverschlüsse in einem Haufen Asche? Das ist einfach: Hier stand einst eine Kommode mit Schubladen voller Hemden, Büstenhalter und Jeans. Ein Berg mit zerbrochenem Glas und Porzellan neben einem verkohlten Kronleuchter? Hier war das Esszimmer mit dem Geschirrschrank.
Für die geistige Rekonstruktion eines abgebrannten Hauses ist es entscheidend, dass man ganz vorsichtig eine mehrere Zentimeter dicke Ascheschicht abträgt: die Überreste von Zimmerdecke und Dach. Darunter liegt vieles, das Aufschluss über den Zustand vor dem Brand geben kann. Stühle bestehen zum Beispiel meist aus Holz, aber oft tragen sie an den Beinen kleine Metallfüße, an denen man ihre Position vor dem Brand ablesen kann. Ein Schreibtisch mag verbrennen, aber Büro- und Heftklammern zeigen, wo er gestanden hat. Nadeln und Scheren haben früher wahrscheinlich in einem Nähkorb gelegen.
Das Wertvollste, was ich einmal am Schauplatz eines Brandes fand, war ein Diamantencollier im Wert von 12 000 Dollar. Es war das Weihnachtsgeschenk eines Mannes an seine Ehefrau; wenige Monate nachdem sie es ausgepackt hatte, war sie bei einem verdächtigen Brand in ihrem Landhaus ums Leben gekommen. Als ich das Collier am Fuß einer Mauer unter einer Ascheschicht entdeckte, war eine Sicherheitsnadel daran befestigt. Das gab mir ebenso ein Rätsel auf wie der Ort, wo ich es gefunden hatte, und deshalb erkundigte ich mich bei den Angehörigen, ob sie mir in der Frage weiterhelfen konnten. Auf diese Weise erfuhr ich, die Tote habe ihren Schmuck gern an den Gardinen festgesteckt; bei geschlossenen Vorhängen konnte man die Schmuckstücke sehen, bei geöffneten Vorhängen waren sie versteckt. Stimmt, ich hatte das Collier ja unmittelbar unter einem Fenster gefunden. Die Erklärung passte zu dem, was wir am Tatort festgestellt hatten.
Manchmal kann man aus dem, was man an einem Brandschauplatz nicht findet, ebenso viele Schlüsse ziehen wie aus den Funden. Einmal durchsuchte ich ein abgebranntes Haus, das bereits von der Polizei und einem Brandermittler untersucht worden war. Niemandem war etwas Verdächtiges aufgefallen. Als ich die eingeäscherte Leiche barg, bemerkte ich etwas Seltsames: Es gab in der Küche weder Geschirr noch Besteck, keine Kleiderbügel in den Schränken, keine Bilderrahmen oder Haken an den Wänden. (Bilder selbst verbrennen ebenso wie hölzerne Rahmen, aber Metallrahmen und auch die kleinen Schrauben, Nägel und Drähte auf der Rückseite von Holzrahmen bleiben erhalten und fallen am Fuß der Mauer auf den Boden.) Für mich war klar, dass man dieses Haus vor dem Brand mit Ausnahme weniger großer Gegenstände ausgeräumt hatte - ein klassisches Indiz für Brandstiftung. Aber das Seltsamste an der Geschichte, wie wir sie rekonstruierten, war etwas anderes: Bei dem Toten handelte es sich nicht um den Hausbesitzer, sondern um den Mann, der in seinem Auftrag das Feuer legen sollte; als er das Gebäude mit Benzin präparierte - wie wir erfuhren, geschah es während eines schweren Gewitters -, hatte offensichtlich der Blitz eingeschlagen und wegen der Benzindämpfe eine heftige Explosion ausgelöst, durch die der Brandstifter fast augenblicklich ums Leben gekommen war. Es war einer der krassesten Fälle von schlechter Zeitplanung, die mir je begegnet sind. Die Indizien wiesen darauf hin, dass tatsächlich ein Verbrechen vorlag, aber es handelte sich nicht um Mord, sondern um Brandstiftung und Versicherungsbetrug.
Wenn ich zum Schauplatz eines Brandes gerufen werde, versuche ich immer, möglichst alle Skelettteile zu finden, aber dabei lasse ich es nicht bewenden; ich bemühe mich auch, Schlüsse über die Ereignisse vor und bei dem Brand zu ziehen. Besondere Aufmerksamkeit widme ich dabei der Identifizierung von Schmuck, Zähnen und Knochen, aber ich suche auch mehrfach nach anderen Indizien und mache mir erst dann ein Bild von dem Ablauf.
Der Faktor, der bei Bränden die meisten forensischen Indizien zerstört, ist nicht das Feuer selbst, sondern ein ungeübter, übereifriger Ermittler mit einem Rechen. Wer nichts von menschlichen Knochen versteht und nicht weiß, wie man ihre verbrannten Reste erkennt und identifiziert, kann am Schauplatz eines Brandes verheerende Schäden anrichten. Es ist zum Verrücktwerden, aber Polizisten tun nur allzu oft immer das Gleiche, wenn sie nach einer Leiche suchen: Sie durchkämmen den ganzen Schauplatz und harken alles zu Wällen zusammen, die dann in rund einem Meter Abstand liegen. Überlegen wir einmal: Wie will man Lage und Haltung eines Körpers zu Beginn des Feuers ermitteln, und wie will man herausfinden, in welcher Position er sich im Verhältnis zu einem Gewehr, einem Messer oder einer Pistolenkugel befand, wenn man alles mit einem Rechen durcheinander gewirbelt hat?
Einmal kam ich mit meinem Team zu einem Brandschauplatz, um nach der Leiche eines mutmaßlichen Selbstmörders zu suchen, und dann erklärte mir der Brandmeister, ich könne mir die Mühe sparen. Es war ein großer Brand gewesen - ein Farmhaus mit einem Stall und einem halben Dutzend weiterer Gebäude; die Feuerwehr und der Brandermittler hatten die Trümmer teilweise mit einem Bagger beseitigt. Für die Suche schien mir das Haus den größten Erfolg zu versprechen, aber der Feuerwehrmann machte sich über mich lustig. »Wir haben dieses Haus schon fünfmal durchgekämmt«, sagte er. Als ich daraufhin erklärte, wir wollten es uns trotzdem ansehen, wo wir schon einmal hier waren, schüttelte er den Kopf und ging weg, als wären wir Vollidioten.
Als wir die zerwühlte Masse durchsiebten, fanden wir ein paar Stücke von einem männlichen Schädel. Es war kaum eine Hand voll - wenn man mit einem Bagger über kalzinierte Knochen walzt und sie dann fünfmal mit ein paar Harken beiseite schiebt, hat man alles ziemlich gründlich pulverisiert -, aber es reichte immer noch für die Erkenntnis, dass der Mann sein eigenes Haus angezündet und Selbstmord begangen hatte.
 
 
Im Kreis Hawkins hatte die Polizei uns glücklicherweise benachrichtigt, bevor man am Schauplatz des Brandes etwas durcheinander gebracht hatte; der Brandermittler stieß dort zu uns, aber wir hatten den ersten Zugriff. Wenn irgendwo zwischen den Trümmern verbrannte Knochen waren, mussten wir sie eigentlich finden, und vermutlich lagen sie ziemlich dicht nebeneinander.
An der östlichen Seite, wo das Gelände zum Fluss abfiel, war das Haus zwei Stockwerke hoch gewesen. Die Westseite war zum Hang gerichtet, und hier ragte nur eine Etage über die Erde. Das Schlafzimmer, wo Grizzle sich wahrscheinlich aufgehalten hatte, lag nach Angaben von Lieutenant Wilmot - er stützte sich auf die Aussagen der früheren Eigentümer - am nördlichen Ende der oberen Etage. Diese obere Etage gab es jetzt natürlich nicht mehr: Während des Brandes waren die Deckenbalken durchgebrochen, und das Dach war bis auf das Betonfundament hinuntergestürzt. Diese Betonplatte war für uns ein Segen. Die glatte, feste, von niedrigen Reihen aus zerbrochenen Backsteinen eingefasste Fläche war jetzt ein riesiges Tablett voller Indizien, die sich alle für uns erhalten hatten.
Gegen halb elf am Vormittag fingen wir an der bergab gelegenen Seite des Hauses an zu arbeiten. Vorsichtig siebten und stocherten wir, bis wir die Mitte des Hauses erreicht hatten. Ungefähr um Viertel nach elf blieb Steve Symes’ geschulter Fotografenblick trotz schläfriger, blutunterlaufener Augen an einem Knochen hängen, der unter einem Backsteinhaufen hervorlugte. Die Steine gehörten zu einem zusammengebrochenen Teil des Kamins. Als wir sie wegräumten, fanden wir die Knochen beider Beine und den größten Teil der Wirbelsäule. Einige Gelenke wurden noch teilweise von Bändern und Knorpel zusammengehalten, aber von den Knochen selbst waren großenteils nur noch Bruchstücke vorhanden. Diese Überbleibsel eines zerstörten Lebens waren völlig kalziniert und klimperten in meiner Hand wie die Scherben eines zerbrochenen Keramikgefäßes. Die Leiche war weit gehend verbrannt.
Der Zustand der Knochen ließ auf ein sehr heißes Feuer schließen. Das Gleiche zeigte sich auch an den Elektroinstallationen: Das Kupfer der Kabel war geschmolzen und in gezackten Linien auf den Betonboden getropft. Der Schmelzpunkt von Kupfer liegt bei rund 1100 Grad, das Feuer musste also noch heißer gewesen sein. Derart hohe Temperaturen ließen eindeutig auf den Einsatz von Brandbeschleunigern schließen; ohne Benzin oder eine andere brennbare Flüssigkeit werden bei Gebäudebränden in der Regel nicht mehr als 900 Grad erreicht.
Die Knochenansammlung lag im Haus rund 30 Zentimeter von der östlichen Wand entfernt, die zum Fluss ging. Außerdem war sie rund einen Meter von einer Wand aus Betonblöcken entfernt, die das Haus in einen nördlichen und einen südlichen Teil trennte. Als wir die Knochen hochhoben, fanden wir darunter eine verbrannte Gewebemasse; sie lag auf einem Stück weißem Baumwollstoff von einer Herrenunterhose und einer verkohlten, olivgrünen Hose.
In diesem Augenblick waren wir so gut wie sicher, dass wir eine männliche Leiche gefunden hatten, höchstwahrscheinlich den vermissten James Grizzle. Als wir den Schauplatz weiter untersuchten, bot sich ein weniger eindeutiges Bild, das aber immer faszinierender wurde.
Aus der Position von Beinen, Becken und Wirbelsäule konnte man schließen, dass die Leiche auf dem Rücken lag; die Beine waren über den oberen Teil des Körpers geschlagen, sodass die Knie über den Schultern lagen, also dort, wo eigentlich der Kopf sein sollte - aber der war nicht vorhanden. Um ihn zu finden, suchten wir die Umgebung gründlich ab. Schließlich fanden wir etwa zwei Meter entfernt unter einem anderen Backsteinhaufen die Armknochen, ein paar Rippen und den Schädel einschließlich des Unterkiefers. Die Knochen waren wie die an dem ersten Fundort seltsam angeordnet und stark zerstückelt, offensichtlich eine Folge des Brandes.
Aber warum waren sie zwei Meter von den unteren zwei Dritteln der Leiche entfernt? Als ich im Geist verschiedene Möglichkeiten durchging, zog ich auch die Tatsache in Betracht, dass das Haus zwei Stockwerke hatte. In ähnlichen Fällen hatte ich es schon erlebt, dass ein Teil einer verbrannten Leiche durch ein Loch im Fußboden gefallen war, während der Rest an einer ganz anderen Stelle und auf einem anderen Trümmerhaufen zu liegen kam. Konnte etwas Ähnliches auch in diesem Fall geschehen sein?
Ich sah mir noch einmal Beine und Becken an. Außer dem Stoff von Hose und Unterhose lag fast nichts unter den Knochen außer ein wenig nicht verbranntem Gipskarton, unversehrten Bodenfliesen und dem Betonfundament des Hauses. Auch unter Kopf, Armen und Rippen befand sich fast nichts. Wäre ein Teil des Körpers verbrannt und dann durch ein Loch im Fußboden des oberen Stockwerks gefallen, während der Rest im Schlafzimmer blieb, bis der ganze Fußboden herabstürzte, hätten wir unter einer von unseren Knochenansammlungen verbrannte Trümmer finden müssen: verkohlte Reste hölzerner Tragbalken, Unterbodenmaterial und Bodenbelag, vielleicht sogar geschwärzte Bettfedern und eine Matratze, wenn der Mann geschlafen hatte, als das Feuer um zwei Uhr morgens ausbrach. Da aber so wenig anderes Material unter den Knochen lag, musste man annehmen, dass der gesamte Körper sich bereits im Erdgeschoss befand, als die Zwischendecke verbrannte und auf das Fundament stürzte.
Angenommen, das stimmte: Warum um alles in der Welt war dann der obere Teil der Leiche so weit vom unteren entfernt? Ich habe oft erlebt, dass ein Schädel in der starken Hitze des Feuers geplatzt war und verstreut wurde, aber ich hatte noch nie gesehen, dass der Kopf und der obere Teil des Rumpfes durch das Zimmer geflogen waren.
Während ich mir darüber den Kopf zerbrach und den Blick von einem Knochenhaufen zum anderen wandern ließ, sagte ich - wobei ich eigentlich nur laut dachte: »Ich kann mir nur einen Grund für diese Trennung vorstellen - eine Art Explosion.«
Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, da meldete sich Lieutenant Wilmot zu Wort. »Interessant, dass Sie so etwas vermuten. Ein Nachbar hat ausgesagt, er habe vor dem Ausbruch des Brandes einen Knall gehört.« Er hätte mir einiges an Rätselei ersparen können, wenn er mir diese Kleinigkeit aus den Ermittlungen ein wenig früher mitgeteilt hätte; andererseits hätte er mir damit das intellektuelle Vergnügen geraubt, eine exotische Theorie zu formulieren. Ich untersuchte die Knochen noch einmal. Die Oberfläche des Brustbeins war vielfach gebrochen und voller Löcher; die Wirbelsäule war knapp unter dem Schädel durchtrennt, genau an der Stelle, wo eine heftige Explosion den Brustkorb auseinander reißen musste.
Die zerstückelte Leiche war nicht das einzige Indiz für Gewalteinwirkung. Weiter unten an der Wirbelsäule, im Bereich der Brustwirbel und Rippen, fanden wir eine längliche Scheibe aus Blei. Sie war etwa zweieinhalb Zentimeter lang, knappe zwei Zentimeter breit und flach. Auf der Unterseite waren Abdrücke von Stoff zu erkennen. Man brauchte kein genialer Gerichtsmediziner zu sein, um daraus den Schluss zu ziehen, dass vor dem Brand und vor der Explosion ein Gewehrschuss abgegeben wurde. Jemand hatte aus einer Entfernung von höchstens einem Meter auf das Herz des Menschen gezielt.
Immer noch blieben einige Fragen offen, aber eines war klar: Wenn das Opfer nicht sein eigenes Haus sorgfältig mit Benzin präpariert hatte, sich eine Dynamitladung um die Brust gebunden und die Zündschnur angesteckt hatte, um sich dann mit einem Gewehr selbst ins Herz zu schießen, hatten wir es hier eindeutig mit einem Mord zu tun, und der Täter hatte sich große Mühe gegeben, alle Hinweise auf das Verbrechen zu zerstören. Große Mühe, und dennoch ohne Erfolg.
In eingespielter Teamarbeit - David Hunt und ich gruben das Material aus, Pat Willey protokollierte unsere Befunde und verstaute die Knochen in Beuteln, und Steve Symes machte ein Foto nach dem anderen - holten wir Knochen und Zähne aus der Asche. Als das Licht des kalten Winternachmittags düsterer wurde, luden wir alles ein und machten uns auf die zweistündige Rückfahrt nach Knoxville. Im Laderaum des Lieferwagens lagen etwa 20 Papiertüten mit verbrannten menschlichen Überresten, und in der Luft zwischen uns hingen zwei drängende Fragen: Waren es die Knochen von James Grizzle? Und wenn ja, wer hatte ihn umgebracht und warum?
Um die erste Frage zu beantworten, mussten wir Knochen und Zähne genau untersuchen. Am Tatort waren wir ziemlich sicher gewesen, dass es sich um die Überreste eines Mannes handelte. Die langen Knochen waren recht groß und kräftig, und obwohl der Schädel zertrümmert war, konnte man die Protuberantia occipitalis externa - den Höcker an der Schädelbasis - deutlich erkennen; er war ungewöhnlich kräftig ausgebildet, auch das ein nahezu sicherer Hinweis auf einen Mann. Weitere Bestätigung lieferten die Messungen im Labor: der Femurkopf - die Kugel, die in der Hüftgelenkspfanne liegt - hat bei erwachsenen Männern in der Regel einen Durchmesser von mindestens 45 Millimetern; bei unserem Opfer maßen die Kugeln an beiden Oberschenkeln 50 Millimeter. Auch der Umfang der Oberschenkelknochen war mit 94 Millimetern recht männlich; bei Frauen erreicht er selten mehr als 81 Millimeter.
Um die Rasse festzustellen, sahen wir uns den Bau des Gesichtes an. Der Schädel war zwar stark zerstückelt, aber Teile von Ober- und Unterkiefer waren noch so weit intakt, dass wir Schlüsse daraus ziehen konnten. Die Alveolarfortsätze von Ober- und Unterkiefer, wo die Zahnwurzeln im Knochen sitzen, waren flach, und die Zähne standen nicht nach vorn, sondern waren im rechten Winkel zu den Kiefern angeordnet. Mit anderen Worten: Es handelte sich um die Kiefer eines Weißen.
Unser Toter war eindeutig erwachsen. Die Schlüsselbeine waren vollständig verknöchert, das heißt, er war mindestens 25. Am unteren Teil der Wirbelsäule waren die Anfänge arthritischer Knochenwucherungen zu erkennen, zerklüftete, gezackte Vorsprünge an den Kanten der Wirbel; dies ließ auf ein Alter jenseits der 30 schließen, jedoch waren die Wucherungen noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auf ein Alter über 40 hingedeutet hätten. Lieutenant Wilmot hatte uns berichtet, dass James Grizzle 36 gewesen war; wissenschaftlich sprach also alles dafür, dass es sich tatsächlich um ihn handelte. Um ganz sicherzugehen, mussten wir aber noch Glück mit den zahnärztlichen Unterlagen haben.
Bevor Grizzle in das streng religiös geprägte Tennessee gezogen war, hatte er in Indiana gelebt, in dem es viel Industrie gibt. Als Angestellter der Firma Bethlehem Steel hatte er Anspruch auf gute medizinische und zahnärztliche Leistungen - und ein gewissenhafter Zahnarzt in La Porte in Indiana hatte einige Jahre zuvor Röntgenaufnahmen von seinem Gebiss angefertigt.
Die Knochendichte ist im Unterkiefer größer als im Oberkiefer, und deshalb hatten wir den Unterkiefer in der Asche in besserem Zustand vorgefunden. In beiden hatte die Hitze jedoch die meisten Zähne an der Verbindungsstelle zwischen Zahnschmelz und Zahnwurzel platzen lassen. Nach Füllungen konnten wir also in aller Regel nicht suchen; stattdessen mussten wir charakteristische Merkmale in Aufbau und Geometrie der Zahnwurzeln und Kiefer zur Deckung bringen.
Die Röntgenaufnahme von Grizzles Unterkiefer zeigte einige Besonderheiten. Der linke dritte Molare - der Weisheitszahn - war nicht vollständig durchgebrochen; der linke erste Molare fehlte, und der Knochen hatte gerade begonnen, in die leere Wurzelhöhle einzuwachsen; die Höhlen des ersten und zweiten rechten Molaren waren ebenfalls leer und füllten sich bereits mit Knochen. (Er mochte Anspruch auf hervorragende Zahnbehandlung gehabt haben, aber seine Zahnhygiene oder zumindest der Gesamtzustand seiner Zähne war sehr schlecht gewesen.)
Die Aufnahme des Oberkiefers zeigte eine fehlgebildete, S-förmige Wurzel am ersten Prämolaren. Derselbe Zahn hatte außerdem an der Innenseite eine Füllung.
Zu unserem Glück war der erste Prämolare oben links einer der wenigen Zähne, deren Krone nicht zu Bruch gegangen war. Und auf dieser Krone befand sich eine Füllung genau an der Stelle, die auf der Röntgenaufnahme zu sehen war. Auch alle anderen Merkmale - die fehlenden Molaren, der resorbierte Knochen, die S-förmige Zahnwurzel - stimmten genau überein. Ich rief Lieutenant Wilmot an und berichtete, wir hätten das Opfer eindeutig als James Grizzle identifiziert.
Für die verbleibenden Fragen - wer Grizzle umgebracht hatte und warum - waren Wilmot und seine Kollegen zuständig. Es dauerte nicht lange, dann waren sie beantwortet.
Einer von Grizzles Nachbarn - einer jener besorgten, fürsorglichen Nachbarn, die sich in der Nacht nicht einmal die Mühe gemacht hatten, die Explosion und den Brand zu melden - berichtete den Beamten, Grizzle habe nach dem Kauf des Hauses jemanden eingestellt, der ihm beim Umbau helfen sollte. Dieser Arbeiter, ein Mann namens Stephen Leon Williams, sei zu Grizzle gezogen und habe auch seine Freundin mitgebracht.
Wie Grizzles Vater den Polizisten mitteilte, hatte der Tote viel Geld auf der Bank: rund 30 000 Dollar auf dem Girokonto und weitere 9000 auf dem Sparbuch. Offensichtlich hatte er den Fehler begangen, Williams davon zu erzählen, denn den Behauptungen des Staatsanwalts zufolge hatte der Arbeiter an den Tagen, nachdem Grizzle verschwunden war, dessen Unterschrift auf Schecks für dieses Konto gefälscht.
Als wäre der ganze Fall noch nicht bizarr genug, kam eines Abends kurz nach der Entdeckung der übel zugerichteten Leiche noch eine weitere eigenartige Wendung ans Licht: Anthony Layne Flynn, ein Bekannter von Williams, saß in Kingsport in einer Kneipe namens Ralph’s Bar. Nachdem etliche Glas Bier seine Zunge gelockert und sein Urteilsvermögen beeinträchtigt hatten, erzählte Flynn seinen erstaunten Thekenkumpanen, Williams habe ihn um Hilfe gebeten: Er sollte seinen Dobermann zu Grizzles Haus bringen, damit er die Leiche auffraß. Aber entweder hatte der Hund nicht genügend Hunger oder die Leiche war noch nicht stark genug verwest: Jedenfalls rührte er sie nicht an.
Dann war Williams auf die Idee gekommen, es mit Dynamit zu versuchen. Aber die Explosion zerstückelte den Körper nicht, sondern zerriss ihn nur in zwei Teile. Als letzte Rettung verschüttete er nun überall im Haus Benzin und setzte es in Brand. Als die Flammen in den nächtlichen Himmel schlugen, glaubte er sicher, er habe seine Spuren vollständig verwischt und alle Indizien für das von ihm angerichtete Blutbad vernichtet. In Wirklichkeit jedoch weckte das Feuer erst die Aufmerksamkeit. Wie ein Leuchtturm sandte es seine Strahlen durch den dunklen Wald und verbreitete eine eindeutige Nachricht: Tatort - bitte sorgfältig untersuchen.
 
 
Im Oktober 1981 wurde Stephen Leon Williams des Mordes an James Grizzle für schuldig befunden. Sein Mitangeklagter Anthony Layne Flynn, der Besitzer des wählerischen Dobermanns, wurde freigesprochen und entlassen.
Da Williams die Leiche von Grizzle auf so schockierende Weise geschändet hatte, wurde er zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Die Hinrichtung wurde für den 16. April 1982 angesetzt. Prompt legten seine Anwälte Berufung gegen die Todesstrafe ein. Eine Reihe von Berufungsverfahren und dann das landesweite Moratorium für Hinrichtungen verzögerten Jahr für Jahr den Vollzug der Strafe.
Im Jahr 1999 strengte Williams vom Gefängnis aus einen Prozess gegen mich an. Die Klageschrift benannte noch mehrere weitere Beklagte: die Ermittler, eine Fernsehproduktionsfirma und den Fernsehsender Discovery Channel, der den Fall Grizzle in einem Dokumentarfilm über forensische Wissenschaft behandelt hatte. Ich fand es erstaunlich, dass unser Rechtssystem so etwas zulässt: Ein überführter Mörder verklagt lange nach seinem eigenen Prozess die Personen, die den von ihm begangenen Mord aufgedeckt und darüber berichtet haben. Glücklicherweise zog Williams die Klage gegen mich freiwillig zurück.
Mehr als 20 Jahre nachdem er schuldig befunden wurde, James Grizzle ermordet, zerlegt, in die Luft gesprengt und verbrannt zu haben, ist Williams in einem Gefängnis in Tennessee immer noch am Leben und wohlauf. Den Tatort hat der Wald von Tennessee längst zurückerobert. Irgendwo an einer steilen Böschung über einem Streifen aus grünem Wasser ernährt eine immer tiefer werdende Schicht aus Laub und Erde eine wachsende Ansiedlung von Kräutern, Ranken und jungen Bäumen. Darunter, den Blicken zunehmend entzogen, liegen eine geschwärzte Betonplatte und ein Haufen Backsteine. Hier haben Tatortermittler aus dem wirklichen Leben einst die Asche durchgesiebt und die Wahrheit ans Licht geholt.