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Auf dem Fundament der Wissenschaft
Wenn Menschen Morde begehen, bin ich immer wieder verblüfft über das Wie und Warum - aber auch über die immer neuen Verfahren, mit denen Kriminologen solche Verbrechen aufklären. Und ich kann voller Stolz behaupten: Manche dieser Methoden werden von Männern und Frauen entwickelt, die ich ausgebildet habe.
Am 20. September 1991 rief mich Jim Moore an, ein Beamter der Kriminalpolizei von Tennessee. Er war in Crossville stationiert, einer Kleinstadt rund 100 Kilometer westlich von Knoxville. Nicht weit von dem Ort entfernt hatte man im Kriechkeller eines Hauses mehrere möglicherweise menschliche Knochen gefunden. Moore fragte, ob ich am nächsten Tag mit einer forensischen Einsatzgruppe hinüberkommen könne; wir sollten die Knochen ausgraben und feststellen, ob sie tatsächlich menschlichen Ursprungs waren.
Ich erwiderte, ich könne leider nicht kommen: Früh am nächsten Morgen sollte ich nach Washington fliegen und an der Smithsonian Institution eine Vorlesung über forensische Anthropologie halten; Zielgruppe waren medizinische Sachverständige aus dem ganzen Land und Beamte des FBI, das seinen Sitz unmittelbar neben der Wissenschaftsinstitution hatte. Aber ich konnte ihnen ein Team mit erfahrenen Mitarbeitern schicken.
Unsere Einsatzteams arbeiteten mittlerweile auch ohne mich wie ein gut geöltes Räderwerk. Ich rief die Studenten zusammen, die gerade Bereitschaftsdienst hatten - Bill Grant, Samantha Hurst und Bruce Wayne -, und gab die Anweisungen des Agenten Moore weiter. Sie sollten sich am nächsten Tag um halb eins in seinem Büro im Gerichtsgebäude des Kreises Cumberland in Crossville einfinden und dann hinter ihm her zum Tatort fahren. Bevor ich das Büro verließ, schärfte ich ihnen noch ein letztes Mal ein: »Vergesst auf keinen Fall die Bodenproben für Arpad!« Eine umwälzende neue Methode zur Bestimmung des Todeszeitpunktes sollte zum ersten Mal in einem Mordfall ausprobiert werden.
In den zehn Jahren, in denen wir mittlerweile an der anthropologischen Forschungseinrichtung die Verwesung von Leichen untersuchten, hatten wir Dutzende von Studien und Experimenten durchgeführt; in den meisten Fällen ging es dabei um die verschiedenen Faktoren, die sich auf die Verwesungsgeschwindigkeit auswirken. Wir hatten beobachtet, dass Leichen den ganzen Winter über und bis weit in den Frühling hinein zusammenhielten, während sie in der feuchten Sommerhitze innerhalb von zwei Wochen zum Skelett wurden. Wir hatten Leichen in den Schatten und in die sengende Sonne gelegt und dabei festgestellt, dass sie in der Sonne häufig mumifizieren: Die Haut wird zäh wie Leder, sodass Maden nicht mehr eindringen können. Wir hatten Leichen auf dem Trockenen mit Leichen im Wasser verglichen - die Wasserleichen blieben etwa doppelt so lange erhalten. Wir hatten Leichen an der Oberfläche mit solchen in flachen und tiefen Gräbern verglichen; die Verwesung tief vergrabener Leichen dauerte achtmal so lange wie die eines an der Luft liegenden Toten. Wir hatten dicke und magere Leichen beobachtet; die dicken skelettieren viel schneller, weil ihr Fleisch riesige Heerscharen von Maden ernährt; als wir kürzlich in einer Folgeuntersuchung jeden Tag den durch Maden verursachten Gewichtsverlust maßen, stellten wir bei der Leiche eines Fettsüchtigen in nur 24 Stunden die erstaunliche Abnahme von 18 Kilo fest - ein Wert, der mit keiner Schlankheitsdiät auch nur annähernd zu erreichen ist.
Diese Untersuchungen lieferten wichtige Aufschlüsse über Vorgänge und den zeitlichen Ablauf der Verwesung von Menschen, aber sie stützten sich ausschließlich auf die Interpretation umfassender, sichtbarer Veränderungen. Wir hatten uns zwar alle Mühe gegeben, diese Veränderungen so gut wie möglich im Detail zu differenzieren, aber es blieb immer noch Spielraum für subjektive Deutungen und damit für eine gewisse Ungenauigkeit. Die Ermittlung der Zeit seit dem Tod war eine frustrierende, nicht gerade exakte Wissenschaft.
Aber einige Jahre nachdem wir mit unseren Forschungsarbeiten begonnen hatten, trat ein junger Wissenschaftler mit einer kühnen, ehrgeizigen Idee an mich heran: Er wollte daraus tatsächlich eine exakte Wissenschaft machen. Sein Name war Arpad Vass, und er arbeitete in einem kommerziellen Labor, das im Auftrag der Polizeibehörden gerichtsmedizinisches Material analysierte. Arpad wollte an unserem Promotionsstudiengang teilnehmen und eine quantitative, naturwissenschaftliche Methode entwickeln, mit der man anhand biochemischer Daten die Zeit seit dem Tod ermitteln konnte. Letztlich wollte er also eine Art forensische Uhr erfinden, die man sofort nach der Entdeckung der Leiche in Gang setzte und dann rückwärts laufen ließ. Wenn sie stehen blieb - wenn sie also den ganzen Rückweg bis zum Nullpunkt abgespult hatte -, sollte sie die genaue Zeit anzeigen, zu der das Mordopfer ums Leben gekommen war.
Arpad hatte seinen Bachelor in Biologie mit Nebenfach Chemie gemacht und dann das Master’s Degree in forensischer Wissenschaft abgelegt - hervorragende Voraussetzungen für einen Kriminalisten. Aber er wollte nicht nur in einem kriminaltechnischen Labor arbeiten, sondern in der forensischen Technik Neuland betreten. Seine Idee faszinierte mich. Wenn es klappte, würde sich ein revolutionärer neuer Weg - ein quantitativer, objektiver Weg - eröffnen, um eine der ersten und entscheidenden Fragen jedes Mordermittlers zu beantworten: Wie lange ist der Mensch schon tot?
Im Zusammenhang mit Arpads Vorschlag nagten zweierlei Zweifel an mir. Erstens: Wie um alles in der Welt konnten wir chemische Arbeiten als anthropologische Forschung deklarieren? Und zweitens stellte sich die viel entscheidendere Frage: Wie sollte die Methode funktionieren?
Ich habe immer fest daran geglaubt, dass Ideen sich gegenseitig befruchten können. Jede forensische Untersuchung ist eine Gemeinschaftsarbeit, und je mehr Erfahrungen - und zwar unterschiedliche Erfahrungen - dabei einfließen, desto besser ist es. Diese Ansicht teilen nicht alle Kollegen in meinem Fachgebiet; während ich in den Eingeweiden eines Footballstadions improvisieren musste, saßen manche Anthropologen hoch oben im sprichwörtlichen Elfenbeinturm und rümpften die Nase über unsere unorthodoxen Methoden in Tennessee. Aber ich habe im Laufe der Jahre festgestellt, dass meine Kenntnisse als Anthropologe stark bereichert wurden, wenn ich von Menschen lernen konnte, die auf ungewöhnlichen Wegen zu unserem Fachgebiet gekommen sind.
Ein gutes Beispiel ist Emily Craig. Im Gegensatz zur Mehrzahl unserer Doktoranden kam sie nicht mit einem frischen Anthropologie-Examen in der Tasche zu uns. Als sie sich für unseren Promotionsstudiengang bewarb, war sie schon über 40. Emily hatte ein Examen als medizinische Illustratorin abgelegt und jahrelang in einer Klinik in Georgia die Abbildungen für wissenschaftliche Veröffentlichungen und Operationshandbücher angefertigt. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte sie viel mit Ärzten zu tun gehabt und eine Menge Knochen gesehen; deshalb war ich überzeugt, dass sie ihre anthropologischen Untersuchungen aus einem interessanten Blickwinkel betreiben könnte. Wie sich herausstellte, hatte ich Unrecht - das heißt, ich hatte sie mit meiner Vermutung völlig unterschätzt.
In ihrem ersten Semester belegte Emily meinen Kurs in Personenidentifizierung; darin lernten die Studenten, Skelettreste zu untersuchen und die großen Vier festzustellen: Geschlecht, Alter, Rasse und Körpergröße. Jede zweite Woche brachte ich ein neues Skelett mit - ein bekanntes Skelett, häufig aus einem forensischen Fall, bei dem die Polizei sich an mich gewandt hatte.
Ungefähr in der sechsten Woche des Kurses, wenn die Studenten sich bereits etwas auf ihre neuen Kenntnisse einbildeten, gab ich ihnen immer einen Schuss vor den Bug. Jahre zuvor war ein älterer farbiger Mann in Winchester in Tennessee aus einem Pflegeheim weggelaufen. Als man schließlich ein Skelett fand, sollte ich im Auftrag der Polizei feststellen, ob es sich um den Vermissten handelte. Anfangs erklärte ich, meiner Ansicht nach sei er es nicht: Es war kein negroider Schädel; Zähne und Kiefer standen nicht vor wie bei einem Farbigen. Der gleichen Ansicht war auch Pat Willey, der Doktorand, der damals mein knochenkundliches Labor leitete. Eine Woche später erhielten wir Röntgenaufnahmen von dem vermissten Farbigen - und die passten genau zu dem Skelett, das wir sehr selbstbewusst als Weißen eingestuft hatten.
In dem Identifizierungskurs führte ich die Studenten jedes Jahr über den gleichen steinigen Weg, den auch ich mit dem Skelett gegangen war, und jedes Mal schrieben die Studenten - denen die fehlende Prognathie im Mundbereich auffiel - kaukasoid auf ihr Antwortblatt. Dabei waren sie ihrer Sache genauso sicher, wie ich es Jahre zuvor gewesen war.
Als ich Emilys Arbeit las, war ich überrascht: Sie hatte negroid geschrieben und war damit als Einzige in dem Kurs, ja sogar als einzige Studentin aller Zeiten, auf die richtige Antwort gekommen. Ich rief sie in mein Büro und fragte sie aus. »Wer hat Ihnen gesagt, dass es ein negroides Skelett ist?«, wollte ich wissen. Ich führe die Studenten schon seit Jahren mit diesem Skelett an der Nase herum und lasse mir hinterher versichern, dass nichts ausgeplaudert wird, damit die Kursteilnehmer im nächsten Jahr ebenfalls lernen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Jetzt sah es so aus, als hätte irgendjemand das Schweigegelübde gebrochen.
»Das hat mir niemand gesagt«, erwiderte sie überrascht und ein wenig verärgert.
Aber ich blieb hartnäckig: »Woher wussten Sie es dann? Diese Frage beantwortet jeder falsch. Alle werfen einen Blick auf den Schädel und sind dann sicher, dass es ein Weißer ist.«
»Ich habe mir nicht den Schädel angesehen, sondern das Knie«, antwortete sie.
Völlig verblüfft starrte ich sie an: »Wie bitte? Wovon reden Sie eigentlich?«
Und nun erklärte die Studentin ihrem Professor - einem Vertreter des American Board of Forensic Anthropologists -, dass im Knie von Farbigen zwischen den Kondylen - den breiten, gewölbten Enden der Knochen, die das Gelenkscharnier bilden - ein größerer Abstand liegt als bei Weißen. »Das ist der Grund, warum Chirurgen schwarze Sportler viel lieber am Knie operieren als weiße. Da haben sie mehr Platz zum Arbeiten. In der Sportmedizin weiß das jeder.«
Meine Berufslaufbahn dauerte zu jener Zeit schon über 30 Jahre, aber Emilys Worte wirkten auf mich wie eine Offenbarung. »In der Anthropologie weiß das niemand«, erwiderte ich. Nachdem ich ein paar Mal heftig geschluckt und meinen ganzen Professorengrips zusammengenommen hatte, fügte ich hinzu: »Das wäre ein großartiges Thema für eine Doktorarbeit.«
Emily befolgte meinen Rat. Sie untersuchte, bestätigte und veröffentlichte nicht nur das, was ihr bereits an den Knien lebender Sportler aufgefallen war, sondern sie ging noch einen Schritt weiter: Nach ihren Feststellungen konnte man auch einen anderen geringfügigen Unterschied zwischen den Knien von Weißen und Farbigen zur Ermittlung der Rasse heranziehen. Der Winkel einer inneren Linie im Oberschenkel knapp über dem Knie - sie wird nach dem deutschen Arzt, dem sie in seitlichen Röntgenaufnahmen zum ersten Mal auffiel, als Blumensaat-Linie bezeichnet - ist bei Farbigen und Weißen unterschiedlich geformt. Nachdem Emily Hunderte von Oberschenkelknochen vermessen und in Röntgenaufnahmen dokumentiert hatte, entwickelte sie eine Formel, die mit 90-prozentiger Genauigkeit die Unterscheidung zwischen den Oberschenkelknochen von Negroiden und Kaukasoiden ermöglichte. Auf einem Gebiet, das zuvor zur Rassenfeststellung ausschließlich auf den Schädel angewiesen war, bedeutete das einen gewaltigen Fortschritt.
Wäre Emily nicht auf dem Weg über medizinische Zeichnungen zu uns gekommen, hätten wir es vielleicht nie erfahren, und uns hätte eine Methode gefehlt, die sich seither in mehreren Mordfällen bei der Identifizierung der unbekannten Opfer als unentbehrlich erwiesen hat.
Eine ganz ähnliche wissenschaftliche Kreuzbefruchtung schwebte auch Arpad Vass vor, als er mir seinen Plan darlegte, die Zeit seit dem Tod mit Hilfe biochemischer Daten zu ermitteln. In diesem Fall ging es nicht um den Knochenbau, sondern um Bakterien.
Als Arpad mir erläuterte, wie er Bakterien als forensische Stoppuhr nutzen wollte, überlegte ich ernsthaft, ob seine Forschung nicht in einem anderen Institut besser aufgehoben wäre als in der Anthropologie. Ich wusste, dass sie zu stark anwendungsbezogen und forensisch orientiert war, sodass sie in den Instituten für Biologie oder Chemie nicht auf Zustimmung stoßen würde. Andererseits war mir klar, dass ich die Definition der Anthropologie ziemlich strapazieren musste, um ihn bei uns unterzubringen. Aber ich musste mir immer wieder ausmalen, wie stark das Fachgebiet von einer solchen revolutionären Methode profitieren würde. »Wissen Sie was«, sagte ich schließlich, »ich werde durchsetzen, dass Sie aufgenommen werden, wenn Sie sich ausdrücklich mit der Verwesung menschlicher Leichen beschäftigen - und wenn Sie sicher sind, dass es klappen wird.« Er versicherte mir, das werde er tun, und es werde klappen.
Wenig später hatte er mir bewiesen, dass er es mit der ersten Voraussetzung ernst meinte. Schon einige Tage später arbeitete Arpad draußen in der Forschungseinrichtung, entnahm Proben von verwesendem Fleisch, Madenbrühe und schmieriger Erde. Er sammelte eine Ladung Proben ein, verschwand dann tagelang im Chemielabor, und wenn er wieder herauskam, sammelte er neue Schmiere ein.
Schwieriger war es, den zweiten Teil unseres Abkommens einzulösen: Würde es funktionieren? Nach Arpads Theorie würden sich im Laufe der Verwesung unterschiedliche Bakterienarten von dem menschlichen Gewebe ernähren, ganz ähnlich wie die Insekten, die eine Leiche immer in der gleichen Reihenfolge besiedelten. »Schwein ist Schwein«, sagt ein altes Sprichwort. Arpad hoffte, dass auch alle Leichenbewohner sich gleich verhielten, ob sie nun mit bloßem Auge sichtbar oder mikroskopisch klein waren.
Theoretisch war es ein ganz einfacher Gedanke. In der Praxis steckte er jedoch voller Schwierigkeiten. Unter dem Mikroskop sahen die Gewebeproben aus wie eine Luftaufnahme des Petersplatzes während der Osterpredigt des Papstes: Das Gesichtsfeld war angefüllt mit einer schier unendlichen Fülle ganz unterschiedlicher Einzelwesen.
Arpad gestand es mir zu jener Zeit nicht, aber er starrte monatelang mit wachsender Verzweiflung ins Mikroskop. Ein riesiges Labor mit vielleicht 50 Mitarbeitern wäre notwendig gewesen, um die Heerscharen von Mikroorganismen zu identifizieren und zurückzuverfolgen, die sich auf seinen Forschungsobjekten tummelten, ihr Gewebe verdauten und Pfützen glibberiger Abfallsubstanzen hinterließen. Dann kam ihm die Erleuchtung: Die Mikroorganismen selbst zu analysieren mochte schwierig sein, aber vielleicht waren nützliche Hinweise ja auch in dem schmierigen Zeug zu finden, das sie zurückließen - in den Nebenprodukten und Abfällen, die bei der Verdauung des weichen Gewebes entstanden.
Daraufhin sah Arpad sich seine Proben noch einmal an - und dieses Mal achtete er nicht auf die Mikroorganismen selbst, sondern auf die stinkende Brühe, in der sie schwammen. Bei der chemischen Untersuchung stellte sich heraus, dass die Flüssigkeit unter einer verwesenden Leiche und um sie herum aus einer Mischung verschiedener Verbindungen besteht, vorwiegend aus flüchtigen Fettsäuren (die leicht sind und deshalb schnell verdunsten), die durch den Abbau von Fetten und DNA entstehen. Als Arpad die Proben untersuchte, die er im Laufe der Wochen und Monate gesammelt hatte, wurde ihm sehr schnell klar, dass das Mengenverhältnis dieser Verbindungen sich im Laufe der Verwesung einer Leiche stetig verändert. Mit anderen Worten: Eine Probe, die man fünf Tage nach dem Tod aus dem Boden unter der Leiche A entnimmt, unterscheidet sich deutlich von einer Probe, die 50 Tage nach dem Tod ins Labor gebracht wird. Wirklich spannend wurde die Sache, als Arpad feststellte, dass die gleiche Veränderung der Mengenverhältnisse - die gleiche Entwicklung des chemischen Profils -, die er bei der Leiche A festgestellt hatte, auch für die Leiche B und die Leiche C galt.
Jetzt wusste Arpad, dass er einem einheitlichen wissenschaftlichen Phänomen auf der Spur war, das er quantitativ erfassen und nutzbar machen konnte. Dazu musste er nur die Mengenverhältnisse über einen längeren Zeitraum hinweg messen und anschließend ein Verfahren entwickeln, um an einem Tatort eine Probe zu entnehmen, darin das Mengenverhältnis der flüchtigen Fettsäuren festzustellen, die durchschnittlichen Tagestemperaturen in die Rechnung einzubeziehen und die so gewonnenen Daten mit jenen zu vergleichen, die er an Leichen mit bekanntem Todeszeitpunkt gemessen hatte. Ach ja, und dann musste er noch eine Formel oder Gleichung entwickeln, mit der man die Zeit seit dem Tod ganz einfach berechnen konnte, indem er die Mengenverhältnisse von den Tatorten mit denen zur Übereinstimmung brachte, die er im Laufe seiner zweijährigen, eingehenden Forschungsarbeiten auf der Body Farm gesammelt hatte.
Das Prinzip ist schwer zu erklären - selbst ich verstehe es als chemischer Laie nur mit Mühe -, aber ein wenig einfacher wird es vielleicht durch eine kleine Analogie. Angenommen, wir wissen, dass Lieschen Müller jeden Morgen zum Frühstück ein Rührei isst; zum Mittagessen streut sie sich manchmal auch ein hart gekochtes, gehacktes Ei über eine Dose Thunfisch; und wenn ihr danach ist, bäckt sie sich abends noch ein paar Kekse mit Schokostreuseln, wobei sie noch einmal zwei Eier verwendet. Wenn wir nun aus irgendeinem Grund in Lieschens Abfalleimer wühlen, müssten wir eigentlich aus dem Zahlenverhältnis von Eierschalen zu Thunfischdosen und Schokostreuseltüten ablesen, wie viele Tage lang sich der Abfall in dem Mülleimer gesammelt hat.
Nun stellt sich natürlich die Frage: Was hat das alles mit ein paar Knochen - möglicherweise menschlichen Knochen - zu tun, die unter einem Haus in Crossville in Tennessee begraben liegen? Die Antwort: eine ganze Menge - oder jedenfalls hoffte ich das, und deshalb wollte ich sichergehen, dass unsere forensische Einsatztruppe nicht vergaß, Bodenproben mitzubringen.
Das Haus gehörte einem Mann namens Terry Ramsburg. Aber Terry Ramsburg war nicht da; seit über zwei Jahren hatte ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen, auch nicht seine Frau Lillie Mae.
Mittlerweile war Lillie Mae eigentlich seine Exfrau. Sie hatte Terry am 16. Januar 1989 als vermisst gemeldet. Nach ihren Angaben war er eines Morgens zur Arbeit in seiner Autowerkstatt gefahren und abends nicht mehr nach Hause gekommen. Als er ungefähr eine Woche später immer noch nicht wieder da war, hatte sie schließlich die Polizei verständigt.
 
Nicht lange nachdem sie ihn als vermisst gemeldet hatte, reichte Lillie Mae die Scheidung ein. Ihre Begründung: Terry habe sie böswillig verlassen. Das Verfahren nahm seinen Lauf, die Scheidung wurde ausgesprochen, und später heiratete Lillie Mae erneut. Sie blieb in dem Haus - nur für den Fall, dass Terry eines Tages wieder auftauchen sollte; ihr neuer Ehemann zog zu ihr und ihren beiden Töchtern.
Robert Ramsburg, Terrys Vater, hatte Lillie Maes Geschichte nie ganz geglaubt. Er wusste, dass es in der Familie manchmal hoch herging - Terry erwartete, dass Lillies halbwüchsige Töchter in der Werkstatt halfen, und die hatten dazu überhaupt keine Lust -, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Sohn sich ohne ein einziges Wort aus dem Staub machen würde. Noch misstrauischer wurde Robert, als Lillie Mae wieder heiratete. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Haus zurück, und schließlich entschloss er sich, ein wenig herumzuschnüffeln. An einem Septembertag, als gerade niemand zu Hause war, öffnete Robert die Holztür, die zum Kriechkeller führte. Mit einer Taschenlampe suchte er unter den Fußbodenbalken nach etwas - irgendetwas -, das Licht in das Verschwinden seines Sohnes bringen könnte.
Er fand es in der hintersten Ecke des Kriechkellers: Dort ragte ein rotes Stoffstück aus dem Boden. Es befand sich an einer Stelle, wo man die Erde anscheinend durchwühlt hatte - sie war dort weicher als der hart gestampfte Lehm unter den anderen Teilen des Hauses. Als er ein wenig daran zog, kam noch mehr Stoff zum Vorschein; jetzt fing er an, mit bloßen Händen die Erde abzutragen. Nach und nach nahm der rote Stoff die vertrauten Umrisse einer langen Unterhose an, und dann sah er aus dem Gummibund etwas herausragen, das wie ein Knochen aussah. Jetzt hörte er sofort auf zu graben, ging ins Haus und rief die Polizei an. Ein paar Telefonanrufe und wenige Stunden später waren meine Doktoranden unterwegs.
Unsere forensischen Einsatztrupps hatten schon seit Jahren immer praktisch die gleichen Werkzeuge bei sich: Schaufeln, Maurerkellen, Rechen, Asservatenbeutel aus Papier, Leichensäcke aus Kunststoff, Drahtsiebe, Kameras. Jetzt kam ein kleiner, aber bedeutsamer Gegenstand hinzu: zwei luftdicht verschließbare Plastiktüten, in denen man Bodenproben transportieren konnte - die eine aus der Erde unmittelbar unterhalb der Leichenteile, eine andere aus einem nicht verunreinigten Gebiet in drei Metern Entfernung.
Beim Gerichtsgebäude wartete der Polizist Moore zusammen mit Lillie Mae - sie hatte der Durchsuchung zugestimmt. Die kleine Karawane machte sich auf den zweieinhalb Kilometer langen Weg zum Haus: voraus der weiße Kleinlaster der University of Tennessee, dahinter die Polizeilimousine und der Wagen von Lillie Mae. Bill Grant, gründlich wie immer, schrieb sich ihre Autonummer auf: RNW-016. Vor dem Haus standen bereits mehrere Fahrzeuge. Mit einigen davon waren mehrere Beamte der örtlichen Polizei gekommen, in einem Wagen saßen aber auch ganz still zwei zivile Zaungäste: Terry Ramsburgs Eltern. Lillie Mae hielt sich von ihnen fern.
Bill, Samantha und Bruce holten schnell ihre Gerätschaften und krochen unter das Haus. Der Polizist Moore hatte in dem Kriechkeller bereits eine Arbeitsleuchte angebracht, sodass alles gut ausgeleuchtet war. Bill konnte schon auf den ersten Blick bestätigen, dass es sich bei dem Knochen um ein Hüftbein handelte und dass es von einem Menschen stammte. Er kroch zur Tür, wand sich aus dem engen Raum und ging zu der kleinen Gruppe der Polizeibeamten. Robert Ramsburg stieg aus dem Auto und gesellte sich ebenfalls zu der Gruppe. Auch Lillie Mae kam näher.
»Er stammt eindeutig von einem Menschen«, sagte Bill. Terrys Vater senkte den Kopf. Lillie Mae drehte sich auf dem Absatz um und ging weg.
»Das ist Quatsch«, knurrte sie. »Völlig blöder Quatsch.« Sie stieg in ihr Auto, knallte die Tür zu und drehte den Zündschlüssel.
Bill sah Jim Moore an und fragte so taktvoll, wie er es zuwege brachte: »Wollen Sie die wirklich fahren lassen?«
Moore blieb völlig gelassen. »Die fährt nirgendwohin«, sagte er mit dem Selbstbewusstsein des Gesetzeshüters, der ein Fluchtrisiko genau einschätzen kann.
Bill kroch wieder unter das Haus, und das forensische Team ging an die Arbeit. Als dienstältestes Mitglied hatte Bill die Leitung. Er wies Samantha an, die Beine auszugraben, und Bruce sollte die linke Seite freilegen. Bill selbst begab sich zu der Stelle, wo er den Schädel vermutete.
Nachdem Bill wenige Minuten mit der Maurerkelle gearbeitet hatte, fand er die Rückseite des Schädels; die Leiche lag also auf dem Bauch. Auf der rechten Schädelseite befand sich ein kleines, sauberes Loch mit abgeschrägten Rändern: Es war auf der Innenseite ein wenig größer als außen. Vom oberen Rand des Loches zog sich eine Bruchlinie über den ganzen Schädel bis auf die linke Seite. »Sieht so aus, als hätten wir da einen Einschusskanal«, sagte er zu Samantha und Bruce.
Bill räumte vorsichtig die Erde beiseite und legte den Schädel frei, ohne ihn zu bewegen. Als er die linke Seite ausgegraben hatte, sah er dort in der Nähe der Stirn weitere Brüche - mehrere Knochenfragmente ragten schräg nach außen -, aber ein Loch war nicht zu erkennen. »He, Leute, die Kugel dürfte noch im Schädel stecken«, sagte er aufgeregt. Ein paar Minuten später lag der Schädel völlig frei. Der Knorpel, der ihn mit den Wirbeln verbunden hatte, war schon lange verwest, deshalb konnte Bill ihn ohne weiteres hochheben. Als er ihn umdrehte und das Gesicht betrachtete, hörte er es im Inneren des Schädels klappern: In dem Hohlraum, den das schrumpfende Gehirn beim Austrocknen hinterlassen hatte, rollte eine Kugel des Kalibers.22 herum.
Die ernüchternde Wirklichkeit traf sie erst, als sie mit der Ausgrabung fertig waren, die Bodenproben eingesammelt hatten und alles für den Transport nach Knoxville in Kisten verpackten. Sie legten die Leichenteile, den Stoff und die Bodenproben in eine Asservatenschachtel von 30 Zentimetern Breite und 90 Zentimetern Länge. Als Samantha mit der Schachtel aus dem Kriechkeller stieg, kam Robert Ramsburg auf sie zu. »Was soll ich machen?«, flüsterte sie. »Will er die sterblichen Überreste sehen?«
»Das geht nicht«, sagte Bill. »Das sind Beweisstücke. Am besten sagst du nichts und siehst ihn nicht einmal an.«
Den Blick zu Boden gerichtet, ging Samantha zum Lastwagen. Aus ihrem bedrückten Gesichtsausdruck konnte Robert Ramsburg ganz gut ablesen, was in der Kiste war.
Er hatte Recht. Es war sein Sohn.
Das Ergebnis der anthropologischen Untersuchung war für keinen der Beteiligten eine Überraschung: weiß, männlich, 28 bis 34 Jahre alt, Körpergröße 1,63 bis 1,75 Meter. Ebenso wunderte sich niemand, als zahnmedizinische Röntgenaufnahmen bestätigten, dass es sich um Terry Ramsburg handelte, einen 33-jährigen weißen Mann, der 1,66 Meter in die Höhe geragt hatte, bevor er von einer Kugel flachgelegt wurde.
Kopien des forensischen Untersuchungsberichtes schickte ich am 9. Oktober an die Kriminalpolizei von Tennessee, den Sheriff des Kreises Cumberland, die Polizei von Crossville und das Büro des Staatsanwalts. Am gleichen Tag wurde Lillie Mae Ramsburg Davis des schweren Mordes angeklagt und ohne Kaution festgenommen.
Der Prozess wurde für den Juli 1992 angesetzt. Monatelang beteuerte Lillie Mae ihre Unschuld. Eine Woche bevor der Prozess beginnen sollte, machte sie schließlich ein Angebot: Sie wollte sich des Mordes in einem minder schweren Fall schuldig bekennen. Die Ermittler hatten mir berichtet, sie habe ihn erschossen, als er schlafend auf dem Sofa lag; anschließend habe sie ihn unter das Haus geschleppt und verscharrt. Besonders entsetzlich war, dass sie zusammen mit ihren Töchtern zweieinhalb Jahre lang weiter in dem Haus gewohnt hatte, direkt über der verwesenden Leiche von Terry Ramsburg; während eines Teils dieser Zeit hatte auch ihr zweiter Ehemann über den Resten seines ermordeten Vorgängers gelebt.
Lillie Mae wurde zu 30 Jahren verurteilt, konnte aber schon nach zehn Jahren die vorzeitige Entlassung beantragen. In der Begnadigungsverhandlung setzte sich ihr früherer Schwiegervater Robert Ramsburg leidenschaftlich gegen die Entlassung ein, und die Begnadigungskommission entschied, sie im Gefängnis zu belassen.
Lillie Maes Geständnis machte den Zeitraum seit dem Tod unter juristischen Gesichtspunkten zu einer nebensächlichen Frage, aber wissenschaftlich war sie nach wie vor von großer Bedeutung. Die Leiche von Terry Ramsburg war unter dem Haus größtenteils skelettiert; nur unter Brustkorb und Bauch hatten wir große Mengen von Adipocire gefunden. (Adipocire - wörtlich übersetzt »Leichenwachs« - ist eine seifige, schmierige Substanz; sie entsteht, wenn Fett sich in einer feuchten Umgebung zersetzt.) An dem Ausmaß der Skelettierung und der Menge der Adipocire konnte ich ablesen, dass Terry Ramsburg schon lange in dem Kriechkeller gelegen hatte, vermutlich seit dem Tag seiner Ermordung.
Hätte Arpads Bodenanalyse den Zeitraum seit dem Tod noch genauer eingrenzen oder bestätigen können? Nun ja, hier ging es wie so oft bei neuen wissenschaftlichen Verfahren: Wir erfuhren in diesem Fall mehr über die Methode selbst als über den Mord, auf den sie angewandt wurde.
Als Arpad die flüchtigen Fettsäuren analysieren wollte, lag ihre Menge in allen Fällen unterhalb der Nachweisgrenze, und diese Grenze war schon erstaunlich niedrig: 22 parts per million (Gramm pro Tonne). Einfach gesagt, hatte die Leiche so lange dort gelegen, dass die Fleisch fressenden Mikroorganismen sich längst fettere Weidegründe gesucht hatten, und selbst ihre Hinterlassenschaften waren bereits verdunstet. Temperaturmessungen in dem Kriechkeller zeigten, dass die Leiche wahrscheinlich nach rund elf Monaten dieses Stadium erreicht hatte, und bis sie gefunden wurde, verging fast das Dreifache dieser Zeit. Damit war klar, dass die Methode sich besser für Leichen eignete, die sich noch im Zustand der Verwesung befanden.
Nach dem Fall Ramsburg arbeitete Arpad Vass weiter an der Verfeinerung seiner Bodenanalysemethode zur Abschätzung der Zeit seit dem Tod. Außerdem stellte er neueste chemische Erkenntnisse auch auf andere Weise in den Dienst der Mörderjagd. Mit einem ähnlichen Verfahren, das er in jüngster Zeit entwickelte, kann man winzige Gewebeproben aus Leber, Nieren, Gehirn und anderen Organen eines Mordopfers analysieren. Ist die Leiche erst wenige Wochen alt, kann man den Todeszeitpunkt mit diesem Biopsieverfahren auf Tage oder sogar Stunden genau feststellen. Derzeit arbeitet Arpad an der Isolierung und Identifizierung der Moleküle, die den charakteristischen Leichengeruch verursachen und auf die beispielsweise Leichenspürhunde ansprechen - ein Schritt in Richtung tragbarer Geräte, mit denen Polizei und Menschenrechtsvertreter heimlich angelegte Gräber aufspüren können.
Arpads erste große Errungenschaft, die Analyse von Bodenproben zur Feststellung des Todeszeitpunktes, hat ihre Zuverlässigkeit und ihren Wert mittlerweile in Dutzenden von Fällen bewiesen. In einem solchen Fall begannen die Ermittlungen nur drei Monate nachdem Lillie Mae gestanden hatte, Terry Ramsburg ermordet und unter dem Haus verscharrt zu haben. Die seit dem Tod verstrichene Zeit - und Arpad - sollten bei den Morden des »Zoomannes« eine herausragende Rolle spielen.