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Auf dem Fundament der Wissenschaft
Wenn Menschen Morde begehen, bin ich immer
wieder verblüfft über das Wie und Warum - aber auch über die immer
neuen Verfahren, mit denen Kriminologen solche Verbrechen
aufklären. Und ich kann voller Stolz behaupten: Manche dieser
Methoden werden von Männern und Frauen entwickelt, die ich
ausgebildet habe.
Am 20. September 1991 rief mich Jim Moore an, ein
Beamter der Kriminalpolizei von Tennessee. Er war in Crossville
stationiert, einer Kleinstadt rund 100 Kilometer westlich von
Knoxville. Nicht weit von dem Ort entfernt hatte man im
Kriechkeller eines Hauses mehrere möglicherweise menschliche
Knochen gefunden. Moore fragte, ob ich am nächsten Tag mit einer
forensischen Einsatzgruppe hinüberkommen könne; wir sollten die
Knochen ausgraben und feststellen, ob sie tatsächlich menschlichen
Ursprungs waren.
Ich erwiderte, ich könne leider nicht kommen: Früh
am nächsten Morgen sollte ich nach Washington fliegen und an der
Smithsonian Institution eine Vorlesung über forensische
Anthropologie halten; Zielgruppe waren medizinische Sachverständige
aus dem ganzen Land und Beamte des FBI, das seinen Sitz unmittelbar
neben der Wissenschaftsinstitution hatte. Aber ich konnte ihnen ein
Team mit erfahrenen Mitarbeitern schicken.
Unsere Einsatzteams arbeiteten mittlerweile auch
ohne mich wie ein gut geöltes Räderwerk. Ich rief die Studenten
zusammen, die gerade Bereitschaftsdienst hatten - Bill Grant,
Samantha Hurst und Bruce Wayne -, und gab die Anweisungen des
Agenten Moore weiter. Sie sollten sich am nächsten Tag um halb eins
in seinem Büro im Gerichtsgebäude des Kreises Cumberland in
Crossville einfinden und dann hinter ihm her zum Tatort fahren.
Bevor ich das Büro verließ, schärfte ich ihnen noch ein letztes Mal
ein: »Vergesst auf keinen Fall die Bodenproben für Arpad!« Eine
umwälzende neue Methode zur Bestimmung des Todeszeitpunktes sollte
zum ersten Mal in einem Mordfall ausprobiert werden.
In den zehn Jahren, in denen wir mittlerweile an
der anthropologischen Forschungseinrichtung die Verwesung von
Leichen untersuchten, hatten wir Dutzende von Studien und
Experimenten durchgeführt; in den meisten Fällen ging es dabei um
die verschiedenen Faktoren, die sich auf die
Verwesungsgeschwindigkeit auswirken. Wir hatten beobachtet, dass
Leichen den ganzen Winter über und bis weit in den Frühling hinein
zusammenhielten, während sie in der feuchten Sommerhitze innerhalb
von zwei Wochen zum Skelett wurden. Wir hatten Leichen in den
Schatten und in die sengende Sonne gelegt und dabei festgestellt,
dass sie in der Sonne häufig mumifizieren: Die Haut wird zäh wie
Leder, sodass Maden nicht mehr eindringen können. Wir hatten
Leichen auf dem Trockenen mit Leichen im Wasser verglichen - die
Wasserleichen blieben etwa doppelt so lange erhalten. Wir hatten
Leichen an der Oberfläche mit solchen in flachen und tiefen Gräbern
verglichen; die Verwesung tief vergrabener Leichen dauerte achtmal
so lange wie die eines an der Luft liegenden Toten. Wir hatten
dicke und magere Leichen beobachtet; die dicken skelettieren viel
schneller, weil ihr Fleisch riesige Heerscharen von Maden ernährt;
als wir kürzlich in einer Folgeuntersuchung jeden Tag den durch
Maden verursachten Gewichtsverlust maßen, stellten wir bei der
Leiche eines Fettsüchtigen in nur 24 Stunden die erstaunliche
Abnahme von 18 Kilo fest - ein Wert, der mit keiner
Schlankheitsdiät auch nur annähernd zu erreichen ist.
Diese Untersuchungen lieferten wichtige Aufschlüsse
über Vorgänge und den zeitlichen Ablauf der Verwesung von Menschen,
aber sie stützten sich ausschließlich auf die Interpretation
umfassender, sichtbarer Veränderungen. Wir hatten uns zwar alle
Mühe gegeben, diese Veränderungen so gut wie möglich im Detail zu
differenzieren, aber es blieb immer noch Spielraum für subjektive
Deutungen und damit für eine gewisse Ungenauigkeit. Die Ermittlung
der Zeit seit dem Tod war eine frustrierende, nicht gerade exakte
Wissenschaft.
Aber einige Jahre nachdem wir mit unseren
Forschungsarbeiten begonnen hatten, trat ein junger Wissenschaftler
mit einer kühnen, ehrgeizigen Idee an mich heran: Er wollte daraus
tatsächlich eine exakte Wissenschaft machen. Sein Name war Arpad
Vass, und er arbeitete in einem kommerziellen Labor, das im Auftrag
der Polizeibehörden gerichtsmedizinisches Material analysierte.
Arpad wollte an unserem Promotionsstudiengang teilnehmen und eine
quantitative, naturwissenschaftliche Methode entwickeln, mit der
man anhand biochemischer Daten die Zeit seit dem Tod ermitteln
konnte. Letztlich wollte er also eine Art forensische Uhr erfinden,
die man sofort nach der Entdeckung der Leiche in Gang setzte und
dann rückwärts laufen ließ. Wenn sie stehen blieb - wenn sie also
den ganzen Rückweg bis zum Nullpunkt abgespult hatte -, sollte sie
die genaue Zeit anzeigen, zu der das Mordopfer ums Leben gekommen
war.
Arpad hatte seinen Bachelor in Biologie mit
Nebenfach Chemie gemacht und dann das Master’s Degree in
forensischer Wissenschaft abgelegt - hervorragende Voraussetzungen
für einen Kriminalisten. Aber er wollte nicht nur in einem
kriminaltechnischen Labor arbeiten, sondern in der forensischen
Technik Neuland betreten. Seine Idee faszinierte mich. Wenn es
klappte, würde sich ein revolutionärer neuer Weg - ein
quantitativer, objektiver Weg - eröffnen, um eine der ersten und
entscheidenden Fragen jedes Mordermittlers zu beantworten: Wie
lange ist der Mensch schon tot?
Im Zusammenhang mit Arpads Vorschlag nagten
zweierlei Zweifel an mir. Erstens: Wie um alles in der Welt konnten
wir chemische Arbeiten als anthropologische Forschung deklarieren?
Und zweitens stellte sich die viel entscheidendere Frage: Wie
sollte die Methode funktionieren?
Ich habe immer fest daran geglaubt, dass Ideen sich
gegenseitig befruchten können. Jede forensische Untersuchung ist
eine Gemeinschaftsarbeit, und je mehr Erfahrungen - und zwar
unterschiedliche Erfahrungen - dabei einfließen, desto
besser ist es. Diese Ansicht teilen nicht alle Kollegen in meinem
Fachgebiet; während ich in den Eingeweiden eines Footballstadions
improvisieren musste, saßen manche Anthropologen hoch oben im
sprichwörtlichen Elfenbeinturm und rümpften die Nase über unsere
unorthodoxen Methoden in Tennessee. Aber ich habe im Laufe der
Jahre festgestellt, dass meine Kenntnisse als Anthropologe stark
bereichert wurden, wenn ich von Menschen lernen konnte, die auf
ungewöhnlichen Wegen zu unserem Fachgebiet gekommen sind.
Ein gutes Beispiel ist Emily Craig. Im Gegensatz
zur Mehrzahl unserer Doktoranden kam sie nicht mit einem frischen
Anthropologie-Examen in der Tasche zu uns. Als sie sich für unseren
Promotionsstudiengang bewarb, war sie schon über 40. Emily hatte
ein Examen als medizinische Illustratorin abgelegt und jahrelang in
einer Klinik in Georgia die Abbildungen für wissenschaftliche
Veröffentlichungen und Operationshandbücher angefertigt. Im Rahmen
dieser Tätigkeit hatte sie viel mit Ärzten zu tun gehabt und eine
Menge Knochen gesehen; deshalb war ich überzeugt, dass sie ihre
anthropologischen Untersuchungen aus einem interessanten
Blickwinkel betreiben könnte. Wie sich herausstellte, hatte ich
Unrecht - das heißt, ich hatte sie mit meiner Vermutung völlig
unterschätzt.
In ihrem ersten Semester belegte Emily meinen Kurs
in Personenidentifizierung; darin lernten die Studenten,
Skelettreste zu untersuchen und die großen Vier festzustellen:
Geschlecht, Alter, Rasse und Körpergröße. Jede zweite Woche brachte
ich ein neues Skelett mit - ein bekanntes Skelett, häufig aus einem
forensischen Fall, bei dem die Polizei sich an mich gewandt
hatte.
Ungefähr in der sechsten Woche des Kurses, wenn die
Studenten sich bereits etwas auf ihre neuen Kenntnisse einbildeten,
gab ich ihnen immer einen Schuss vor den Bug. Jahre zuvor war ein
älterer farbiger Mann in Winchester in Tennessee aus einem
Pflegeheim weggelaufen. Als man schließlich ein Skelett fand,
sollte ich im Auftrag der Polizei feststellen, ob es sich um den
Vermissten handelte. Anfangs erklärte ich, meiner Ansicht nach sei
er es nicht: Es war kein negroider Schädel; Zähne und Kiefer
standen nicht vor wie bei einem Farbigen. Der gleichen Ansicht war
auch Pat Willey, der Doktorand, der damals mein knochenkundliches
Labor leitete. Eine Woche später erhielten wir Röntgenaufnahmen von
dem vermissten Farbigen - und die passten genau zu dem Skelett, das
wir sehr selbstbewusst als Weißen eingestuft hatten.
In dem Identifizierungskurs führte ich die
Studenten jedes Jahr über den gleichen steinigen Weg, den auch ich
mit dem Skelett gegangen war, und jedes Mal schrieben die Studenten
- denen die fehlende Prognathie im Mundbereich auffiel -
kaukasoid auf ihr Antwortblatt. Dabei waren sie ihrer Sache
genauso sicher, wie ich es Jahre zuvor gewesen war.
Als ich Emilys Arbeit las, war ich überrascht: Sie
hatte negroid geschrieben und war damit als Einzige in dem
Kurs, ja sogar als einzige Studentin aller Zeiten, auf die richtige
Antwort gekommen. Ich rief sie in mein Büro und fragte sie aus.
»Wer hat Ihnen gesagt, dass es ein negroides Skelett ist?«, wollte
ich wissen. Ich führe die Studenten schon seit Jahren mit diesem
Skelett an der Nase herum und lasse mir hinterher versichern, dass
nichts ausgeplaudert wird, damit die Kursteilnehmer im nächsten
Jahr ebenfalls lernen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Jetzt
sah es so aus, als hätte irgendjemand das Schweigegelübde
gebrochen.
»Das hat mir niemand gesagt«, erwiderte sie
überrascht und ein wenig verärgert.
Aber ich blieb hartnäckig: »Woher wussten Sie es
dann? Diese Frage beantwortet jeder falsch. Alle werfen
einen Blick auf den Schädel und sind dann sicher, dass es ein
Weißer ist.«
»Ich habe mir nicht den Schädel angesehen, sondern
das Knie«, antwortete sie.
Völlig verblüfft starrte ich sie an: »Wie bitte?
Wovon reden Sie eigentlich?«
Und nun erklärte die Studentin ihrem Professor -
einem Vertreter des American Board of Forensic Anthropologists -,
dass im Knie von Farbigen zwischen den Kondylen - den breiten,
gewölbten Enden der Knochen, die das Gelenkscharnier bilden - ein
größerer Abstand liegt als bei Weißen. »Das ist der Grund, warum
Chirurgen schwarze Sportler viel lieber am Knie operieren als
weiße. Da haben sie mehr Platz zum Arbeiten. In der Sportmedizin
weiß das jeder.«
Meine Berufslaufbahn dauerte zu jener Zeit schon
über 30 Jahre, aber Emilys Worte wirkten auf mich wie eine
Offenbarung. »In der Anthropologie weiß das niemand«, erwiderte
ich. Nachdem ich ein paar Mal heftig geschluckt und meinen ganzen
Professorengrips zusammengenommen hatte, fügte ich hinzu: »Das wäre
ein großartiges Thema für eine Doktorarbeit.«
Emily befolgte meinen Rat. Sie untersuchte,
bestätigte und veröffentlichte nicht nur das, was ihr bereits an
den Knien lebender Sportler aufgefallen war, sondern sie ging noch
einen Schritt weiter: Nach ihren Feststellungen konnte man auch
einen anderen geringfügigen Unterschied zwischen den Knien von
Weißen und Farbigen zur Ermittlung der Rasse heranziehen. Der
Winkel einer inneren Linie im Oberschenkel knapp über dem Knie -
sie wird nach dem deutschen Arzt, dem sie in seitlichen
Röntgenaufnahmen zum ersten Mal auffiel, als Blumensaat-Linie
bezeichnet - ist bei Farbigen und Weißen unterschiedlich geformt.
Nachdem Emily Hunderte von Oberschenkelknochen vermessen und in
Röntgenaufnahmen dokumentiert hatte, entwickelte sie eine Formel,
die mit 90-prozentiger Genauigkeit die Unterscheidung zwischen den
Oberschenkelknochen von Negroiden und Kaukasoiden ermöglichte. Auf
einem Gebiet, das zuvor zur Rassenfeststellung ausschließlich auf
den Schädel angewiesen war, bedeutete das einen gewaltigen
Fortschritt.
Wäre Emily nicht auf dem Weg über medizinische
Zeichnungen zu uns gekommen, hätten wir es vielleicht nie erfahren,
und uns hätte eine Methode gefehlt, die sich seither in mehreren
Mordfällen bei der Identifizierung der unbekannten Opfer als
unentbehrlich erwiesen hat.
Eine ganz ähnliche wissenschaftliche
Kreuzbefruchtung schwebte auch Arpad Vass vor, als er mir seinen
Plan darlegte, die Zeit seit dem Tod mit Hilfe biochemischer Daten
zu ermitteln. In diesem Fall ging es nicht um den Knochenbau,
sondern um Bakterien.
Als Arpad mir erläuterte, wie er Bakterien als
forensische Stoppuhr nutzen wollte, überlegte ich ernsthaft, ob
seine Forschung nicht in einem anderen Institut besser aufgehoben
wäre als in der Anthropologie. Ich wusste, dass sie zu stark
anwendungsbezogen und forensisch orientiert war, sodass sie in den
Instituten für Biologie oder Chemie nicht auf Zustimmung stoßen
würde. Andererseits war mir klar, dass ich die Definition der
Anthropologie ziemlich strapazieren musste, um ihn bei uns
unterzubringen. Aber ich musste mir immer wieder ausmalen, wie
stark das Fachgebiet von einer solchen revolutionären Methode
profitieren würde. »Wissen Sie was«, sagte ich schließlich, »ich
werde durchsetzen, dass Sie aufgenommen werden, wenn Sie sich
ausdrücklich mit der Verwesung menschlicher Leichen beschäftigen -
und wenn Sie sicher sind, dass es klappen wird.« Er versicherte
mir, das werde er tun, und es werde klappen.
Wenig später hatte er mir bewiesen, dass er es mit
der ersten Voraussetzung ernst meinte. Schon einige Tage später
arbeitete Arpad draußen in der Forschungseinrichtung, entnahm
Proben von verwesendem Fleisch, Madenbrühe und schmieriger Erde. Er
sammelte eine Ladung Proben ein, verschwand dann tagelang im
Chemielabor, und wenn er wieder herauskam, sammelte er neue
Schmiere ein.
Schwieriger war es, den zweiten Teil unseres
Abkommens einzulösen: Würde es funktionieren? Nach Arpads Theorie
würden sich im Laufe der Verwesung unterschiedliche Bakterienarten
von dem menschlichen Gewebe ernähren, ganz ähnlich wie die
Insekten, die eine Leiche immer in der gleichen Reihenfolge
besiedelten. »Schwein ist Schwein«, sagt ein altes Sprichwort.
Arpad hoffte, dass auch alle Leichenbewohner sich gleich
verhielten, ob sie nun mit bloßem Auge sichtbar oder mikroskopisch
klein waren.
Theoretisch war es ein ganz einfacher Gedanke. In
der Praxis steckte er jedoch voller Schwierigkeiten. Unter dem
Mikroskop sahen die Gewebeproben aus wie eine Luftaufnahme des
Petersplatzes während der Osterpredigt des Papstes: Das
Gesichtsfeld war angefüllt mit einer schier unendlichen Fülle ganz
unterschiedlicher Einzelwesen.
Arpad gestand es mir zu jener Zeit nicht, aber er
starrte monatelang mit wachsender Verzweiflung ins Mikroskop. Ein
riesiges Labor mit vielleicht 50 Mitarbeitern wäre notwendig
gewesen, um die Heerscharen von Mikroorganismen zu identifizieren
und zurückzuverfolgen, die sich auf seinen Forschungsobjekten
tummelten, ihr Gewebe verdauten und Pfützen glibberiger
Abfallsubstanzen hinterließen. Dann kam ihm die Erleuchtung: Die
Mikroorganismen selbst zu analysieren mochte schwierig sein, aber
vielleicht waren nützliche Hinweise ja auch in dem schmierigen Zeug
zu finden, das sie zurückließen - in den Nebenprodukten und
Abfällen, die bei der Verdauung des weichen Gewebes
entstanden.
Daraufhin sah Arpad sich seine Proben noch einmal
an - und dieses Mal achtete er nicht auf die Mikroorganismen
selbst, sondern auf die stinkende Brühe, in der sie schwammen. Bei
der chemischen Untersuchung stellte sich heraus, dass die
Flüssigkeit unter einer verwesenden Leiche und um sie herum aus
einer Mischung verschiedener Verbindungen besteht, vorwiegend aus
flüchtigen Fettsäuren (die leicht sind und deshalb schnell
verdunsten), die durch den Abbau von Fetten und DNA entstehen. Als
Arpad die Proben untersuchte, die er im Laufe der Wochen und Monate
gesammelt hatte, wurde ihm sehr schnell klar, dass das
Mengenverhältnis dieser Verbindungen sich im Laufe der Verwesung
einer Leiche stetig verändert. Mit anderen Worten: Eine Probe, die
man fünf Tage nach dem Tod aus dem Boden unter der Leiche A
entnimmt, unterscheidet sich deutlich von einer Probe, die 50 Tage
nach dem Tod ins Labor gebracht wird. Wirklich spannend wurde die
Sache, als Arpad feststellte, dass die gleiche Veränderung der
Mengenverhältnisse - die gleiche Entwicklung des chemischen Profils
-, die er bei der Leiche A festgestellt hatte, auch für die Leiche
B und die Leiche C galt.
Jetzt wusste Arpad, dass er einem einheitlichen
wissenschaftlichen Phänomen auf der Spur war, das er quantitativ
erfassen und nutzbar machen konnte. Dazu musste er nur die
Mengenverhältnisse über einen längeren Zeitraum hinweg messen und
anschließend ein Verfahren entwickeln, um an einem Tatort eine
Probe zu entnehmen, darin das Mengenverhältnis der flüchtigen
Fettsäuren festzustellen, die durchschnittlichen Tagestemperaturen
in die Rechnung einzubeziehen und die so gewonnenen Daten mit jenen
zu vergleichen, die er an Leichen mit bekanntem Todeszeitpunkt
gemessen hatte. Ach ja, und dann musste er noch eine Formel oder
Gleichung entwickeln, mit der man die Zeit seit dem Tod ganz
einfach berechnen konnte, indem er die Mengenverhältnisse von den
Tatorten mit denen zur Übereinstimmung brachte, die er im Laufe
seiner zweijährigen, eingehenden Forschungsarbeiten auf der Body
Farm gesammelt hatte.
Das Prinzip ist schwer zu erklären - selbst ich
verstehe es als chemischer Laie nur mit Mühe -, aber ein wenig
einfacher wird es vielleicht durch eine kleine Analogie.
Angenommen, wir wissen, dass Lieschen Müller jeden Morgen zum
Frühstück ein Rührei isst; zum Mittagessen streut sie sich manchmal
auch ein hart gekochtes, gehacktes Ei über eine Dose Thunfisch; und
wenn ihr danach ist, bäckt sie sich abends noch ein paar Kekse mit
Schokostreuseln, wobei sie noch einmal zwei Eier verwendet. Wenn
wir nun aus irgendeinem Grund in Lieschens Abfalleimer wühlen,
müssten wir eigentlich aus dem Zahlenverhältnis von Eierschalen zu
Thunfischdosen und Schokostreuseltüten ablesen, wie viele Tage lang
sich der Abfall in dem Mülleimer gesammelt hat.
Nun stellt sich natürlich die Frage: Was hat das
alles mit ein paar Knochen - möglicherweise menschlichen Knochen -
zu tun, die unter einem Haus in Crossville in Tennessee begraben
liegen? Die Antwort: eine ganze Menge - oder jedenfalls hoffte ich
das, und deshalb wollte ich sichergehen, dass unsere forensische
Einsatztruppe nicht vergaß, Bodenproben mitzubringen.
Das Haus gehörte einem Mann namens Terry Ramsburg.
Aber Terry Ramsburg war nicht da; seit über zwei Jahren hatte ihn
niemand mehr zu Gesicht bekommen, auch nicht seine Frau Lillie
Mae.
Mittlerweile war Lillie Mae eigentlich seine
Exfrau. Sie hatte Terry am 16. Januar 1989 als vermisst gemeldet.
Nach ihren Angaben war er eines Morgens zur Arbeit in seiner
Autowerkstatt gefahren und abends nicht mehr nach Hause gekommen.
Als er ungefähr eine Woche später immer noch nicht wieder da war,
hatte sie schließlich die Polizei verständigt.
Nicht lange nachdem sie ihn als vermisst gemeldet
hatte, reichte Lillie Mae die Scheidung ein. Ihre Begründung: Terry
habe sie böswillig verlassen. Das Verfahren nahm seinen Lauf, die
Scheidung wurde ausgesprochen, und später heiratete Lillie Mae
erneut. Sie blieb in dem Haus - nur für den Fall, dass Terry eines
Tages wieder auftauchen sollte; ihr neuer Ehemann zog zu ihr und
ihren beiden Töchtern.
Robert Ramsburg, Terrys Vater, hatte Lillie Maes
Geschichte nie ganz geglaubt. Er wusste, dass es in der Familie
manchmal hoch herging - Terry erwartete, dass Lillies halbwüchsige
Töchter in der Werkstatt halfen, und die hatten dazu überhaupt
keine Lust -, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass
sein Sohn sich ohne ein einziges Wort aus dem Staub machen würde.
Noch misstrauischer wurde Robert, als Lillie Mae wieder heiratete.
Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Haus zurück, und
schließlich entschloss er sich, ein wenig herumzuschnüffeln. An
einem Septembertag, als gerade niemand zu Hause war, öffnete Robert
die Holztür, die zum Kriechkeller führte. Mit einer Taschenlampe
suchte er unter den Fußbodenbalken nach etwas - irgendetwas -, das
Licht in das Verschwinden seines Sohnes bringen könnte.
Er fand es in der hintersten Ecke des
Kriechkellers: Dort ragte ein rotes Stoffstück aus dem Boden. Es
befand sich an einer Stelle, wo man die Erde anscheinend durchwühlt
hatte - sie war dort weicher als der hart gestampfte Lehm unter den
anderen Teilen des Hauses. Als er ein wenig daran zog, kam noch
mehr Stoff zum Vorschein; jetzt fing er an, mit bloßen Händen die
Erde abzutragen. Nach und nach nahm der rote Stoff die vertrauten
Umrisse einer langen Unterhose an, und dann sah er aus dem
Gummibund etwas herausragen, das wie ein Knochen aussah. Jetzt
hörte er sofort auf zu graben, ging ins Haus und rief die Polizei
an. Ein paar Telefonanrufe und wenige Stunden später waren meine
Doktoranden unterwegs.
Unsere forensischen Einsatztrupps hatten schon seit
Jahren immer praktisch die gleichen Werkzeuge bei sich: Schaufeln,
Maurerkellen, Rechen, Asservatenbeutel aus Papier, Leichensäcke aus
Kunststoff, Drahtsiebe, Kameras. Jetzt kam ein kleiner, aber
bedeutsamer Gegenstand hinzu: zwei luftdicht verschließbare
Plastiktüten, in denen man Bodenproben transportieren konnte - die
eine aus der Erde unmittelbar unterhalb der Leichenteile, eine
andere aus einem nicht verunreinigten Gebiet in drei Metern
Entfernung.
Beim Gerichtsgebäude wartete der Polizist Moore
zusammen mit Lillie Mae - sie hatte der Durchsuchung zugestimmt.
Die kleine Karawane machte sich auf den zweieinhalb Kilometer
langen Weg zum Haus: voraus der weiße Kleinlaster der University of
Tennessee, dahinter die Polizeilimousine und der Wagen von Lillie
Mae. Bill Grant, gründlich wie immer, schrieb sich ihre Autonummer
auf: RNW-016. Vor dem Haus standen bereits mehrere Fahrzeuge. Mit
einigen davon waren mehrere Beamte der örtlichen Polizei gekommen,
in einem Wagen saßen aber auch ganz still zwei zivile Zaungäste:
Terry Ramsburgs Eltern. Lillie Mae hielt sich von ihnen fern.
Bill, Samantha und Bruce holten schnell ihre
Gerätschaften und krochen unter das Haus. Der Polizist Moore hatte
in dem Kriechkeller bereits eine Arbeitsleuchte angebracht, sodass
alles gut ausgeleuchtet war. Bill konnte schon auf den ersten Blick
bestätigen, dass es sich bei dem Knochen um ein Hüftbein handelte
und dass es von einem Menschen stammte. Er kroch zur Tür, wand sich
aus dem engen Raum und ging zu der kleinen Gruppe der
Polizeibeamten. Robert Ramsburg stieg aus dem Auto und gesellte
sich ebenfalls zu der Gruppe. Auch Lillie Mae kam näher.
»Er stammt eindeutig von einem Menschen«, sagte
Bill. Terrys Vater senkte den Kopf. Lillie Mae drehte sich auf dem
Absatz um und ging weg.
»Das ist Quatsch«, knurrte sie. »Völlig blöder
Quatsch.« Sie stieg in ihr Auto, knallte die Tür zu und drehte den
Zündschlüssel.
Bill sah Jim Moore an und fragte so taktvoll, wie
er es zuwege brachte: »Wollen Sie die wirklich fahren
lassen?«
Moore blieb völlig gelassen. »Die fährt
nirgendwohin«, sagte er mit dem Selbstbewusstsein des
Gesetzeshüters, der ein Fluchtrisiko genau einschätzen kann.
Bill kroch wieder unter das Haus, und das
forensische Team ging an die Arbeit. Als dienstältestes Mitglied
hatte Bill die Leitung. Er wies Samantha an, die Beine auszugraben,
und Bruce sollte die linke Seite freilegen. Bill selbst begab sich
zu der Stelle, wo er den Schädel vermutete.
Nachdem Bill wenige Minuten mit der Maurerkelle
gearbeitet hatte, fand er die Rückseite des Schädels; die Leiche
lag also auf dem Bauch. Auf der rechten Schädelseite befand sich
ein kleines, sauberes Loch mit abgeschrägten Rändern: Es war auf
der Innenseite ein wenig größer als außen. Vom oberen Rand des
Loches zog sich eine Bruchlinie über den ganzen Schädel bis auf die
linke Seite. »Sieht so aus, als hätten wir da einen
Einschusskanal«, sagte er zu Samantha und Bruce.
Bill räumte vorsichtig die Erde beiseite und legte
den Schädel frei, ohne ihn zu bewegen. Als er die linke Seite
ausgegraben hatte, sah er dort in der Nähe der Stirn weitere Brüche
- mehrere Knochenfragmente ragten schräg nach außen -, aber ein
Loch war nicht zu erkennen. »He, Leute, die Kugel dürfte noch im
Schädel stecken«, sagte er aufgeregt. Ein paar Minuten später lag
der Schädel völlig frei. Der Knorpel, der ihn mit den Wirbeln
verbunden hatte, war schon lange verwest, deshalb konnte Bill ihn
ohne weiteres hochheben. Als er ihn umdrehte und das Gesicht
betrachtete, hörte er es im Inneren des Schädels klappern: In dem
Hohlraum, den das schrumpfende Gehirn beim Austrocknen hinterlassen
hatte, rollte eine Kugel des Kalibers.22 herum.
Die ernüchternde Wirklichkeit traf sie erst, als
sie mit der Ausgrabung fertig waren, die Bodenproben eingesammelt
hatten und alles für den Transport nach Knoxville in Kisten
verpackten. Sie legten die Leichenteile, den Stoff und die
Bodenproben in eine Asservatenschachtel von 30 Zentimetern Breite
und 90 Zentimetern Länge. Als Samantha mit der Schachtel aus dem
Kriechkeller stieg, kam Robert Ramsburg auf sie zu. »Was soll ich
machen?«, flüsterte sie. »Will er die sterblichen Überreste
sehen?«
»Das geht nicht«, sagte Bill. »Das sind
Beweisstücke. Am besten sagst du nichts und siehst ihn nicht einmal
an.«
Den Blick zu Boden gerichtet, ging Samantha zum
Lastwagen. Aus ihrem bedrückten Gesichtsausdruck konnte Robert
Ramsburg ganz gut ablesen, was in der Kiste war.
Er hatte Recht. Es war sein Sohn.
Das Ergebnis der anthropologischen Untersuchung war
für keinen der Beteiligten eine Überraschung: weiß, männlich, 28
bis 34 Jahre alt, Körpergröße 1,63 bis 1,75 Meter. Ebenso wunderte
sich niemand, als zahnmedizinische Röntgenaufnahmen bestätigten,
dass es sich um Terry Ramsburg handelte, einen 33-jährigen weißen
Mann, der 1,66 Meter in die Höhe geragt hatte, bevor er von einer
Kugel flachgelegt wurde.
Kopien des forensischen Untersuchungsberichtes
schickte ich am 9. Oktober an die Kriminalpolizei von Tennessee,
den Sheriff des Kreises Cumberland, die Polizei von Crossville und
das Büro des Staatsanwalts. Am gleichen Tag wurde Lillie Mae
Ramsburg Davis des schweren Mordes angeklagt und ohne Kaution
festgenommen.
Der Prozess wurde für den Juli 1992 angesetzt.
Monatelang beteuerte Lillie Mae ihre Unschuld. Eine Woche bevor der
Prozess beginnen sollte, machte sie schließlich ein Angebot: Sie
wollte sich des Mordes in einem minder schweren Fall schuldig
bekennen. Die Ermittler hatten mir berichtet, sie habe ihn
erschossen, als er schlafend auf dem Sofa lag; anschließend habe
sie ihn unter das Haus geschleppt und verscharrt. Besonders
entsetzlich war, dass sie zusammen mit ihren Töchtern zweieinhalb
Jahre lang weiter in dem Haus gewohnt hatte, direkt über der
verwesenden Leiche von Terry Ramsburg; während eines Teils dieser
Zeit hatte auch ihr zweiter Ehemann über den Resten seines
ermordeten Vorgängers gelebt.
Lillie Mae wurde zu 30 Jahren verurteilt, konnte
aber schon nach zehn Jahren die vorzeitige Entlassung beantragen.
In der Begnadigungsverhandlung setzte sich ihr früherer
Schwiegervater Robert Ramsburg leidenschaftlich gegen die
Entlassung ein, und die Begnadigungskommission entschied, sie im
Gefängnis zu belassen.
Lillie Maes Geständnis machte den Zeitraum seit dem
Tod unter juristischen Gesichtspunkten zu einer nebensächlichen
Frage, aber wissenschaftlich war sie nach wie vor von großer
Bedeutung. Die Leiche von Terry Ramsburg war unter dem Haus
größtenteils skelettiert; nur unter Brustkorb und Bauch hatten wir
große Mengen von Adipocire gefunden. (Adipocire - wörtlich
übersetzt »Leichenwachs« - ist eine seifige, schmierige Substanz;
sie entsteht, wenn Fett sich in einer feuchten Umgebung zersetzt.)
An dem Ausmaß der Skelettierung und der Menge der Adipocire konnte
ich ablesen, dass Terry Ramsburg schon lange in dem Kriechkeller
gelegen hatte, vermutlich seit dem Tag seiner Ermordung.
Hätte Arpads Bodenanalyse den Zeitraum seit dem Tod
noch genauer eingrenzen oder bestätigen können? Nun ja, hier ging
es wie so oft bei neuen wissenschaftlichen Verfahren: Wir erfuhren
in diesem Fall mehr über die Methode selbst als über den Mord, auf
den sie angewandt wurde.
Als Arpad die flüchtigen Fettsäuren analysieren
wollte, lag ihre Menge in allen Fällen unterhalb der
Nachweisgrenze, und diese Grenze war schon erstaunlich niedrig: 22
parts per million (Gramm pro Tonne). Einfach gesagt, hatte
die Leiche so lange dort gelegen, dass die Fleisch fressenden
Mikroorganismen sich längst fettere Weidegründe gesucht hatten, und
selbst ihre Hinterlassenschaften waren bereits verdunstet.
Temperaturmessungen in dem Kriechkeller zeigten, dass die Leiche
wahrscheinlich nach rund elf Monaten dieses Stadium erreicht hatte,
und bis sie gefunden wurde, verging fast das Dreifache dieser Zeit.
Damit war klar, dass die Methode sich besser für Leichen eignete,
die sich noch im Zustand der Verwesung befanden.
Nach dem Fall Ramsburg arbeitete Arpad Vass weiter
an der Verfeinerung seiner Bodenanalysemethode zur Abschätzung der
Zeit seit dem Tod. Außerdem stellte er neueste chemische
Erkenntnisse auch auf andere Weise in den Dienst der Mörderjagd.
Mit einem ähnlichen Verfahren, das er in jüngster Zeit entwickelte,
kann man winzige Gewebeproben aus Leber, Nieren, Gehirn und anderen
Organen eines Mordopfers analysieren. Ist die Leiche erst wenige
Wochen alt, kann man den Todeszeitpunkt mit diesem Biopsieverfahren
auf Tage oder sogar Stunden genau feststellen. Derzeit arbeitet
Arpad an der Isolierung und Identifizierung der Moleküle, die den
charakteristischen Leichengeruch verursachen und auf die
beispielsweise Leichenspürhunde ansprechen - ein Schritt in
Richtung tragbarer Geräte, mit denen Polizei und
Menschenrechtsvertreter heimlich angelegte Gräber aufspüren
können.
Arpads erste große Errungenschaft, die Analyse von
Bodenproben zur Feststellung des Todeszeitpunktes, hat ihre
Zuverlässigkeit und ihren Wert mittlerweile in Dutzenden von Fällen
bewiesen. In einem solchen Fall begannen die Ermittlungen nur drei
Monate nachdem Lillie Mae gestanden hatte, Terry Ramsburg ermordet
und unter dem Haus verscharrt zu haben. Die seit dem Tod
verstrichene Zeit - und Arpad - sollten bei den Morden des
»Zoomannes« eine herausragende Rolle spielen.