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Der Fall mit der kopflosen Leiche
Es muss ein Tag mit dünner Nachrichtenlage gewesen sein; anders ist das plötzliche Medieninteresse für meine geringfügige Fehlkalkulation nicht zu erklären.
Eigentlich waren es sogar mehrere ruhige Wochen, zumindest am Anfang. Alles begann in Knoxville an jenen stets trägen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Die Universität hatte Weihnachtsferien, und meine Studenten waren größtenteils nach Hause zu ihren Familien gefahren. Charlie, mein ältester Sohn und damals 21 Jahre alt, war für die Feiertage nach Tennessee gekommen; er studierte an der University of Arizona und steckte gerade im ersten Jahr seiner Doktorarbeit in - wie könnte es anders sein? - Anthropologie mit Schwerpunkt Gerichtsmedizin. (Es war, noch bevor er zu der Erkenntnis gelangte, dass er sich nicht sein ganzes Leben lang mit einem Professorengehalt zufrieden geben wollte.)
Am Donnerstag, dem 29. Dezember 1977, erhielt ich spät nachmittags einen Anruf von der Polizei des Kreises Williamson. Da ich der amtliche forensische Anthropologe des Staates Tennessee und offizieller Berater der staatlichen Kriminalpolizei war, hatten alle Gesetzeshüter in dem gesamten Bundesstaat meine Telefonnummer. Entsprechend konnte das Telefon zu jeder Tages- oder Nachtzeit klingeln, und je weniger mir der Zeitpunkt passte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mich zur Untersuchung einer Leiche brauchte.
Dieses Mal war Detective Captain Jeff Long am Apparat. Er rief aus Franklin an, einer Kleinstadt etwa 50 Kilometer südlich von Nashville. Franklin war zu jener Zeit mit wenigen tausend Einwohnern ein kleiner Ort, aber zahlreiche Countrymusic-Stars und Ärzte aus Nashville besaßen dort Pferdeställe oder Landhäuser; es war also eine Stadt mit relativ wohlhabenden, gebildeten Menschen.
Zu den wohlhabendsten und gebildetsten gehörten der Arzt Ben Griffith und Mary, seine Frau. Die beiden hatten kurz zuvor ein Anwesen namens Two Rivers gekauft; es stammte aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, und sie waren jetzt dabei, das Haus zu restaurieren. Nach Angaben von Captain Long hatte Mrs. Griffith am Morgen des 24. Dezember gerade einer Freundin das Haus und das Grundstück gezeigt, und dabei war ihr aufgefallen, dass etwas nicht stimmte.
Hinter dem Haus befand sich ein winziger Familienfriedhof. Dort waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert acht Angehörige der Familie Shy bestattet worden, der das Anwesen ursprünglich gehört hatte. Mrs. Griffith bemerkte, dass das auffälligste Grab geschändet war. Der über 100 Jahre alte Grabstein trug die Inschrift Lt. Col.Wm. Shy, 20th Tenn. Infantry, C. S. A., Born May 24, 1838, Killed At Battle of Nashville, Dec. 16, 1864.
Unter dem Grabstein war die Erde erst kürzlich bis in eine Tiefe von knapp eineinhalb Metern durchwühlt worden. Mrs. Griffith dachte sofort an Grabräuber, die vermutlich nach Andenken aus dem Bürgerkrieg gesucht hatten. Weder auf dem Boden noch im Grab selbst fand sie Spuren eines Sarges - vielleicht, so dachte sie, hatten die Räuber Angst bekommen, bevor sie so tief gegraben hatten. Dennoch rief sie den Sheriff Fleming Williams an.
Wie nicht anders zu erwarten, taten die Untergebenen von Sheriff Williams in diesem Moment das Gleiche wie die meisten übrigen Menschen: Sie genossen mit ihren Familien die Feiertage. Der Sheriff kam, sah sich die Sache kurz an, und da es sich nicht um einen dringenden Notfall zu handeln schien, sagte er der Frau, er werde nach Weihnachten wiederkommen. Ein durchwühltes Grab auf einem winzigen alten Friedhof war seiner Ansicht nach nichts, worüber man sich sonderlich aufregen musste.
Bei seinem nächsten Besuch jedoch, am 29. Dezember, änderte er diese Meinung sehr schnell. Knapp unter der Oberfläche der kürzlich bewegten Erde fand er einen offensichtlich erst vor kurzem ermordeten Menschen. Oder genauer gesagt, fand er den größten Teil davon: Die Leiche hatte keinen Kopf.
Über Funk rief Sheriff Williams den amtlichen Leichenbeschauer des Kreises Williamson hinzu. Clyde Stephens kam in aller Eile zum Hinterhof des Ehepaares Griffith und stieß dort zu einer immer größer werdenden Meute von Polizisten. Unter Leitung des Leichenbeschauers wurde die Exhumierung vorsichtig fortgesetzt, denn man wollte möglichst keine Indizien zerstören, die in einem Mordprozess vielleicht von Nutzen sein konnten.
Es handelte sich um die Leiche eines elegant gekleideten jungen Mannes. Er trug eine Art Smoking. Der Körper war zwar schon ziemlich verwest, aber noch weit gehend unversehrt, und das Fleisch war noch rötlich. Im formlosen Gespräch waren sich alle einig, dass der Tote, wer er auch sein mochte, höchstens vor ein paar Monaten gestorben war. Aber wie kam es, dass man ihn vor so kurzer Zeit in einem alten Grab aus dem Bürgerkrieg zumindest teilweise bestattet hatte?
Der Leichenbeschauer hatte darauf eine einfache Antwort parat: Wo konnte man eine Leiche - eine zweite Leiche - besser verstecken als in einem Grab? Es war einfach eine makabre neue Spielart des alten Tricks, etwas vor aller Augen zu verstecken. Aber offensichtlich hatte der Mörder es mit der Angst zu tun bekommen, als er mit der Bestattung seines Opfers erst zur Hälfte fertig war. Grabschändung war das eine; Mord war ganz etwas anderes. In einer eiligen Besprechung an dem Grab gelangten der Sheriff und der Leichenbeschauer zu dem Schluss, dass sie einen Experten brauchten, der ihnen bei der Ausgrabung der Überreste half. Daraufhin rief Detective Captain Long mich an.
Ich sagte ihm, ich würde am nächsten Vormittag in das Polizeibüro kommen und einen Assistenten mitbringen: meinen Sohn Charlie. Während seine Kommilitonen aus Arizona zum Skilaufen waren oder Partys feierten, sollte Charlie wertvolle praktische Erfahrungen bei der Untersuchung eines Mordfalls sammeln - ein durchaus angemessenes Weihnachtsgeschenk für einen angehenden Anthropologen.
Wir machten uns frühzeitig mit meinem Mustang Cabrio auf den Weg und schlugen auf der Interstate 40 den Weg nach Westen ein. Es herrschte feuchtkaltes Wetter, sodass wir das Verdeck natürlich nicht öffneten. Ein paar Monate nachdem ich das Auto gekauft hatte, war Charlie, der im Gegensatz zu mir die Geschwindigkeit liebte und außerdem zu jener Zeit ein Teenager war, auf gerader Strecke mitten in der Prärie auf die linke Spur geschwenkt, als der Bauer, den er überholte, gerade links abbiegen wollte. Danach war der Mustang nie mehr ganz der Alte gewesen.
An diesem grauen Dezembermorgen saß ich am Lenkrad - nicht weil ich kein Vertrauen zu Charlies Fahrkünsten hatte, sondern weil ich häufig an Reisekrankheit leide, wenn ich den Wagen nicht selbst steuere. Auf der dreistündigen Fahrt nach Franklin unterhielten wir uns über Charlies Studium in Arizona. Walter Birkby, sein Professor im Hauptfach, war an der University of Kansas mein erster Doktorand gewesen, und deshalb wollte ich mich nicht nur über Charlies Fortschritte auf dem Laufenden halten, sondern auch über Walters Karriere. Die Kilometer rauschten schnell vorüber.
Ungefähr gegen halb elf am Vormittag trafen wir in Franklin ein, und dann fuhren wir hinter Captain Long her zum Anwesen Two Rivers. Das 125 Jahre alte, zweistöckige Haus hatte die derzeitige Renovierung ganz offenkundig nötig, aber es war immer noch eindrucksvoll: rotes Ziegelmauerwerk, schwarze Fensterläden und auf jeder Seite ein hoher Schornstein. Im Vorgarten standen große Eichen und Ahornbäume.
Hinter dem Haus fiel das Gelände zum Harpeth River ab; an einer leichten Steigung auf halbem Weg zwischen Haus und Fluss kennzeichnete eine Ansammlung von Grabsteinen den Friedhof der Familie Shy. Unmittelbar hinter dem Stein für Colonel Shy stand eine Eiche, direkt davor befand sich das schlammige Loch. Als wir uns dem Grab näherten, fiel mir auf, dass man den Rasen sorgfältig entfernt und beiseite gelegt hatte. Nach meiner Vermutung wollte die Person, die das Loch gegraben hatte, ihre Spuren anschließend möglichst gut verwischen, aber dann hatte irgendetwas - Hundegebell, ein plötzliches Licht auf der Veranda oder vielleicht sogar Mrs. Griffith, die ihrer Bekannten Haus und Garten zeigte - sie verscheucht.
Das Loch war knapp einen mal einen Meter groß und ungefähr ebenso tief. Als ich hinunterblickte, erkannte ich Fleisch und Knochen. Mit Charlies Hilfe ging ich daran, die durchwühlte Erde zu beseitigen und die Leiche freizulegen. Der Boden war feucht, und das Loch war voller Schlamm. Anfangs legten wir uns auf ein Holzbrett, das wir an den Rand des Grabes gelegt hatten, griffen mit ausgestreckten Armen hinunter und schaufelten mit Maurerkellen die Erde weg. Abgesehen von Kälte und Regen, war es eine leichte Arbeit, denn der Boden war ja erst vor kurzem umgegraben worden. Als das Loch tiefer wurde, kletterte ich hinein. Wenn ich meine Ausgrabungen an Indianer-Grabstätten in den großen Ebenen mitzähle, bin ich schon in ungefähr 5000 Gräbern gewesen. Wenn ich einmal sterbe, werde ich vermutlich eine Art inoffiziellen Rekord halten: als der Körper, der in mehr Gräber als jeder andere hineinund wieder herausgekommen ist.
Wie Captain Long mir schon am Telefon mitgeteilt hatte, befand sich die Leiche in einem Zustand der fortgeschrittenen Verwesung. Manche Gelenke waren bereits zerstört. Die Beine lagen vom Becken getrennt, und auch die Arme waren nicht mehr mit dem Rumpf verbunden. Knie und Ellenbogen waren jedoch noch intakt und genau wie der größte Teil des Rumpfes von Kleidungsstücken bedeckt. Nach dem Aussehen des schwarzen Sakkos und des gestärkten weißen Hemdes hatte ich die Vermutung, es könne sich um einen Kellner aus einem noblen Restaurant in Nashville oder Franklin handeln. Vielleicht war er aber auch Brautführer bei einer Hochzeit gewesen, und dann hatte er sich unvorsichtigerweise mit der falschen Brautjungfer eingelassen - oder sogar mit der Braut.
Die Leiche befand sich in sitzender Position auf dem altertümlichen Sarg, den man hier 1864 bestattet hatte. Aus meinen Arbeiten an Tausenden von Grabstätten amerikanischer Ureinwohner in den großen Ebenen während der fünfziger und sechziger Jahre wusste ich, dass die Bestattung in zusammengekrümmter Haltung weniger Grabarbeit erfordert, als wenn man die Leiche waagerecht ausstreckt. Auch das war ein Indiz, dass jemand es eilig gehabt hatte, ein Verbrechen zu verbergen.
Als wir tiefer gruben und immer größere Teile der Leiche freilegten, fiel mir oben im Deckel des alten Sarges ein Loch auf. Der Sarg bestand offensichtlich aus Gusseisen - damals, in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, gewissermaßen die Premiumqualität bei Bestattungen. Das Loch von rund 30 mal 60 Zentimetern konnte entstanden sein, weil eine Spitzhacke oder Schaufel auf das brüchige Metall getroffen war. Als dann die durchwühlte, feuchte Erde rund um das hastig verscharrte Mordopfer zur Ruhe kam, waren das Becken und der untere Teil der Wirbelsäule durch die Öffnung in den alten Sarg gesunken. Deshalb hatte ich es nun schwer, die Überreste wieder herauszuholen.
Die vorsichtig freigelegten Körperteile und Kleidungsstücke reichte ich nach oben zu Charlie, der sie in anatomischer Anordnung auf das Brett legte. Als ich alle auffindbaren Stücke geborgen hatte, steckte er die Teile in Asservatenbeutel und beschriftete sie. Außer der Leiche fand ich zwei Zigarettenstummel, die Charlie ebenfalls in Tüten fallen ließ.
Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder festgestellt, dass Mörder am Tatort häufig stark rauchen. In einem Fall - es ging um den Besitzer einer Werkstatt zum Zerlegen gestohlener Autos, der einen Spitzel mit einem Jagdgewehr erschoss - fand ich an der Stelle, wo der Mörder stundenlang im Hinterhalt gelegen hatte, einen ganzen Berg von Zigarillo-Resten. Die Stummel hatten Kunststoffspitzen, und er hatte mit solcher Kraft darauf gebissen, das seine Zähne deutliche Spuren hinterlassen hatten; diese Spuren konnte ich später glücklicherweise mit einem Abdruck, den wir von seinen Zähnen gemacht hatten, zur Übereinstimmung bringen. Unter den gegebenen Umständen ist es vermutlich nicht verwunderlich, dass jemand stark raucht - ein Mörder steht meist unter großer Anspannung, und Rauchen ist ein Ausdruck von Nervosität -, aber es ist auch nicht besonders klug, denn selbst Zigarettenstummel aus Papier können Fingerabdrücke aufnehmen, und aus Speichelresten kann man DNA gewinnen - Indizien, die einen Mörder in die Todeszelle bringen können. (Eine Anmerkung für die Raucher: Auch das ist ein Weg, wie man sich durch Rauchen ins Jenseits befördern kann.)
Als ich die Leiche zum größten Teil geborgen hatte, war das Loch so tief, dass man den Sarg aus dem Bürgerkrieg sehen konnte. Ich bat einen Polizeibeamten, mir seine Taschenlampe zu leihen, wies Charlie und den Polizisten an, meine Fußgelenke festzuhalten, und hängte mich kopfüber in die Grube, sodass ich durch das Loch im Sargdeckel blicken konnte. Eigentlich gab es nichts zu sehen - am Boden des Sarges lag nur eine dünne Schmutzschicht -, aber ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass nach über einem Jahrhundert noch sonderlich viel übrig war. Einige Jahre zuvor hatte ich einen Friedhof aus der gleichen Zeit - Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts - ausgegraben. Er bestand aus fast 20 Gräbern, aber die Knochenbruchstücke, die ich auf dem gesamten Friedhof bergen konnte, passten ohne weiteres in eine hohle Hand: Sie waren in der feuchten Erde von Tennessee fast vollständig zerfallen. Angesichts meiner Kenntnisse über Grabstätten aus der Zeit des Bürgerkrieges wäre ich sehr erstaunt gewesen, wenn ich im Licht meiner Taschenlampe die Knochen von Colonel Shy gesehen hätte. Mit einem Ächzen und viel Kraft hievten Charlie und der Polizist mich wieder aus dem Grab.
Mittlerweile waren Charlie und ich durchnässt und bis auf die Knochen durchgefroren. Wir zogen unsere schmutzigen Overalls aus und legten sie zusammen mit den Leichenteilen und Kleidungsstücken, die wir von der Leiche entfernt und getrennt in Tüten gesteckt hatten, in den Kofferraum unseres Mustang. Bevor wir zurück nach Knoxville fuhren, mussten wir noch einen kurzen Umweg zum staatlichen kriminaltechnischen Labor in der Nähe von Nashville machen, wo Polizeiexperten an den Kleidungsstücken und Zigarettenstummeln nach Anhaltspunkten für die Identität von Mörder und Opfer suchen würden.
Als wir in das Labor kamen, war es schon spät und kurz vor Feierabend. Die Kleidungsstücke waren nass und stanken, sodass uns das Personal nicht gerade mit offenen Armen empfing. Damit der Geruch sich nicht im ganzen Labor verbreitete, entschloss man sich schließlich, die Kleidungsstücke zum Trocknen und Lüften in einer beheizten Garage aufzuhängen.
Charlie und ich kamen an jenem Freitag spätabends wieder nach Knoxville. Ich fuhr in die Garage - sie war glücklicherweise nicht angebaut, sodass wir die Leiche nicht riechen würden - und wir gingen ins Haus, um zu duschen, zu schlafen und uns am Wochenende die Spiele der College-Footballmeisterschaft anzusehen. Wer das draußen im Mustang auch sein mochte, er würde sicher nirgendwo hingehen wollen - schließlich hatte ich die Autoschlüssel bei mir.
Am Montagmorgen brachte ich die Leichenteile in das Institut für Anthropologie unterhalb des Footballstadions und legte sie in große Töpfe mit heißem Wasser, damit das Gewebe weich wurde und sich leicht entfernen ließ. (Nach vielen Jahren und zwei neu angeschafften Herden hatte ich gelernt, dass man so etwas besser nicht zu Hause tut.) Obwohl das Skelett nicht vollständig war, würde das Sortieren und Reinigen sowie die Untersuchung der Knochen mehrere Tage in Anspruch nehmen.
Der Schädel war nicht das Einzige, was fehlte; auch die Füße und eine Hand waren nicht vorhanden. So etwas kommt bei Leichen, die man im Freien findet, häufig vor: In vielen Fällen nagen Hunde, Kojoten, Geier und Waschbären an den Leichen, und Hände und Füße können Raubtiere am einfachsten abreißen und wegtragen. In diesem Fall war ich jedoch nicht sicher, was ich davon halten sollte, denn die Leiche war ja zumindest teilweise bestattet worden. Interessanterweise hatte die noch vorhandene Hand bei der Bergung in einem weißen Handschuh gesteckt; auch das bestärkte mich in meiner Vermutung, dass es sich bei dem Opfer um den Kellner eines vornehmen Restaurants oder um den Brautführer bei einer Hochzeit handelte.
Außerdem war ich von Anfang an überzeugt, dass ich einen Mann vor mir hatte; allerdings gehörten die Geschlechtsteile zu den Bereichen, wo die Verwesung bereits ihr fortgeschrittenes Stadium erreicht hatte; um die Geschlechtszugehörigkeit zu bestätigen, musste ich mich also an das Becken und andere Eigenschaften des Skeletts halten. Die Schambeine waren kurz und scharf abgeknickt - nicht die geometrischen Verhältnisse eines Beckens, das sich für eine Schwangerschaft eignet. Unser geheimnisvoller Leichnam war eindeutig ein geheimnisvoller Mann.
Die Schlüsselbeine waren an dem Ende, wo sie am Brustbein ansetzen, völlig verwachsen; demnach war er mindestens 25 Jahre alt. An der Schambeinfuge, der Verbindungsstelle der Schambeine vorn am Bauch, war eine raue, höckerige Oberfläche zu erkennen, für mich ein Hinweis, dass er vermutlich Mitte bis Ende 20 war. Um meine eigenen Schlussfolgerungen zu überprüfen, zog ich sechs meiner Doktoranden hinzu - die Studenten kamen jetzt nach und nach aus dem Urlaub zurück - und forderte sie auf, das Alter des Mannes zu schätzen. Alle sechs legten sich auf den Bereich zwischen 26 und 29 Jahren fest.
Der Gelenkkopf am oberen Ende des Oberschenkelknochens hatte einen Durchmesser von 50 Millimetern - auch das recht typisch für einen Mann. Die Länge des linken Oberschenkelknochens vermaßen wir mit 490, die des rechten mit 492 Millimetern. Mit einer Formel, die 1958 von der Anthropologin Mildred Trotter und der Statistikerin Goldine Gleser entwickelt wurde, berechnete ich für unser Mordopfer eine Körpergröße zwischen 1,77 und 1,80 Metern - vorausgesetzt, er hätte noch einen Kopf besessen.
Bei der Reinigung und Untersuchung der Knochen fanden sich keinerlei Anhaltspunkte für die Todesursache. Da das weiche Gewebe an vielen Stellen schon stark verwest war, hätten wir Stichwunden allerdings auch nicht feststellen können; die Knochen selbst trugen keine Kerben oder sonstige Verletzungsspuren. Nach dem Ausmaß der Verwesung schätzte ich, dass seit dem Tod mindestens einige Monate vergangen sein mussten, mit Sicherheit aber lag er noch kein Jahr zurück.
Die Polizei im Kreis Williamson und in Nashville überprüfte die Vermisstenanzeigen aus dem vergangenen Jahr. Im Kreis Williamson wurde überhaupt niemand vermisst; und auf keinen der Vermissten aus Nashville passte die Beschreibung über den Körperbau der Leiche: männlich, weiß, Mitte 20 bis Anfang 30, knapp 1,80 Meter groß.
Die Lokalzeitungen, die in der Saure-Gurken-Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr hinter jeder spannenden Nachricht her waren, bekamen Wind von dem Rätsel und berichteten darüber. KOPFLOSE LEICHE BEI FRANKLIN GEFUNDEN lautete eine Schlagzeile am 1. Januar. Der Bericht wurde über die Presseagentur Associated Press verbreitet und schilderte, wie man die Leiche in sitzender Haltung auf dem Sarg von Colonel Shy gefunden hatte. Außerdem beschrieb er »Smokinghemd, Weste und Jackett«, und auch meine Schätzung des Todeszeitpunktes wurde zitiert. Ich hatte gesagt: »Anscheinend ist der Mann seit mindestens zwei Monaten, höchstens aber seit einem Jahr tot, wobei ein Jahr wahrscheinlich etwas zu hoch gegriffen ist.« Gegenüber einem anderen Journalisten hatte ich einen kürzeren Bereich von zwei bis sechs Monaten genannt.
Einen oder zwei Tage später beschäftigte sich ein unternehmungslustiger Reporter mit anderen Todesfällen aus jüngerer Zeit; dabei stieß er auf einen Fall in Knoxville, der einige Ähnlichkeiten erkennen ließ: Knapp zwei Monate zuvor hatte man in einem ländlichen Gebiet nicht weit von der Stadt eine männliche Leiche ohne Kopf gefunden. Gab es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen? Handelte sich um das Werk eines Serienmörders? Ich sagte dem Journalisten, dass ich das für unwahrscheinlich hielt. Das Opfer von Knoxville war zerlegt und verstümmelt worden - der Mörder hatte Kopf und Hals abgehackt, Arme und Unterschenkel verletzt und sogar die Geschlechtsorgane abgeschnitten. An der Leiche von Franklin dagegen - oder zumindest an den Teilen, die wir besaßen - waren keine Schnittspuren zu erkennen. Entsprechend verkündete die Schlagzeile: KEIN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN DEM TORSO UND EINER ANDEREN KOPFLOSEN LEICHE.
Am 3. Januar wurde es richtig spannend: Ein Beamter der Kreispolizei von Williamson brachte uns den Schädel einschließlich des Unterkiefers. Der Leichenbeschauer und die Polizisten waren noch einmal zu dem Grab gegangen, hatten weiter gegraben und den Schädel in dem Sarg gefunden. »Nach meiner Theorie wurde er mit dem Kopf voran in das Loch gesteckt, das jemand in den Sarg des Colonel gemacht hatte«, sagte der Leichenbeschauer einem Journalisten von UPI. OFFIZIERSGRAB IMMER RÄTSELHAFTER lautete daraufhin am nächsten Tag die Schlagzeile. Der Artikel begann mit den Worten: »Nach Angaben der Behörden wurden Kopf, Füße und ein Arm einer nicht identifizierten Leiche im Grab eines Bürgerkriegsoffiziers gefunden und aus dem Sarg des Offiziers geborgen.«
Jetzt war auch die Todesursache kein Geheimnis mehr: Ein Gewehrschuss hatte mit unglaublicher Kraft ungefähr fünf Zentimeter über dem linken Auge die Stirn getroffen; die Austrittsöffnung - wenn man sie so nennen konnte - befand sich am Hinterkopf nicht weit von der Schädelbasis. Ich spreche hier von einem Schädel, aber eigentlich stimmt das nicht ganz: Das Geschoss hatte eine solche Wucht, dass es den Kopf des armen Mannes in 17 Stücke zerschmetterte. Ich musste sie zusammenkleben, um Lage und Größe von Ein- und Austrittsöffnung festzustellen. Nach dem Ausmaß der Zerstörung zu urteilen, war er vermutlich aus nächster Nähe mit einer großkalibrigen Waffe erschossen worden. Unser geheimnisvoller Mann war eines gewaltsamen, plötzlichen Todes gestorben.
Aber der Fall hatte noch einen weiteren Dreh: Im Gegensatz zum übrigen Körper war der Schädel praktisch frei von weichem Gewebe und schokoladenbraun verfärbt, ganz ähnlich wie die uralten Indianerschädel, die ich in South Dakota ausgegraben hatte. Die Zähne hatten keine Füllungen, aber zahlreiche Löcher, viele davon sehr groß; der untere linke Weisheitszahn stand im Begriff, einen Abszess auszubilden. Nichts deutete darauf hin, dass dieser elegant gekleidete junge Mann jemals seinen Fuß in das Sprechzimmer eines Zahnarztes gesetzt hatte oder auch nur ansatzweise zahnärztlich versorgt worden war - jedenfalls was moderne Zahnarzttechnik anging.
Allmählich stieg ein unangenehmer Verdacht in mir auf.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Es war ein Techniker des staatlichen kriminaltechnischen Labors in Nashville. »Dr. Bass, wir haben an den Kleidungsstücken, die Sie uns gebracht haben, einige Merkwürdigkeiten entdeckt«, sagte er. »Es sind ausschließlich Naturfasern - Baumwolle und Seide; nichts Synthetisches.« Er fügte hinzu, in den Kleidern seien keine Etiketten, die man zurückverfolgen könne, und solche seitlich geschnürten Hosenbeine habe er noch nie gesehen. Die Schuhe waren vorne breit, wie es ein paar Jahre zuvor Mode gewesen war, aber die gleiche Mode war auch schon 100 Jahre zuvor beliebt gewesen.
Auf seine letzte Frage hatte ich mit einem Anflug von Furcht schon gewartet: »Glauben Sie, es könnte sich in Wirklichkeit um die Leiche von Colonel Shy handeln?«
»Allmählich glaube ich das auch«, räumte ich ein. Ich war froh, dass er nicht sehen konnte, wie ich bei diesem peinlichen Eingeständnis rot wurde. »Ich brauche noch Antworten auf ein paar Fragen - gab es beispielsweise 1864 schon solche Gummibänder, wie wir sie in diesen Schuhen gefunden haben? Aber es sieht mehr und mehr danach aus.«
In der Philosophie gibt es einen altehrwürdigen Grundsatz, der als Sparsamkeitsprinzip oder »Ockhams Rasiermesser« bezeichnet wird. Danach ist die einfachste Erklärung, die zu allen Tatsachen passt, in der Regel die Richtige. Im Laufe der Jahre sind mir jedoch bei Mordfällen immer wieder bizarre Wendungen begegnet, und deshalb weiß ich, dass Ockhams Rasiermesser manchmal in der falschen Richtung schneidet. Hier schien es sich jedoch zu bestätigen. Wenn es sich bei der Leiche in meinem Labor um Colonel William Shy handelte, waren viele Fragen beantwortet: Dann wussten wir, warum die Löcher in seinen Zähnen nicht gefüllt waren, warum die Kleidung nicht nur so vornehm, sondern auch so ungewöhnlich aussah, warum es keine synthetischen Fasern, keine Etiketten, keine anderen identifizierbaren Funde gab.
Als wir die Leiche in sitzender Haltung auf dem Sarg fanden, hatte es so ausgesehen, als sei sie später in das Grab gesetzt und nicht durch ein kleines Loch im Sargdeckel gezogen worden. Wenn wir unterstellten, dass sie später hinzugekommen war, konnten wir schnell den nächsten logischen Schritt tun: Dann musste es sich um ein Mordopfer handeln, und zwar eines aus jüngster Zeit. Unsere nächste Übung im Schlussfolgern - zu erklären, warum sich im Sarg keine Leiche befand - war angesichts meiner früheren Erfahrungen mit einem Friedhof aus dem 19. Jahrhundert und den dort gefundenen winzigen Bruchstücken sehr einfach. (Clyde Stephens, der Leichenbeschauer, hatte für das Fehlen einer Leiche eine anderen Erklärung; er äußerte Zweifel daran, ob Colonel Shy überhaupt jemals in dem Sarg gelegen hatte: »Ich hätte dann wenigstens mit einer Gürtelschnalle, Uniformknöpfen oder so etwas gerechnet«, sagte er einem Journalisten aus Nashville. »Aber wir haben überhaupt nichts entdeckt.«)
Zumindest hatten wir nichts von dem gefunden, womit wir gerechnet hatten. So peinlich es auch für alle Beteiligten war - oder zumindest für alle, die in der Presse zitiert wurden: Es sah jetzt so aus, als sei es Colonel Shy selbst, der hier vor aller Augen verborgen gewesen war. Die Leiche war kein Mordopfer aus jüngerer Zeit, das man teilweise in einen Sarg gezwängt hatte, sondern ein alter Soldat, den man zum größten Teil aus dem Sarg gezogen hatte, und bei diesem Grabräuber-Gezerre hatte er den Kopf sowie einige andere Körperteile eingebüßt. Auch der zerschmetterte Schädel war vor diesem neuen Hintergrund leicht zu erklären: Colonel Shy war ums Leben gekommen, als Truppen der Union den Hügel, auf dem die 20. Infanterie von Tennessee Zuflucht gesucht hatte, umzingelten und einnahmen. Der Colonel fiel im harten Kampf Mann gegen Mann durch einen Schuss mit einer Kugel vom Kaliber.58, die ihn aus kürzester Entfernung in die Stirn traf.
Mittlerweile war die Geschichte von einem Kriminalbericht in der Lokalpresse zu einer Meldung im unpolitischen Teil des weltweiten Pressedienstes von Associated Press geworden: Ein geheimnisvoller Leichnam stellt die Polizei vor ein Rätsel; diese zieht einen angesehenen Wissenschaftler hinzu; der Wissenschaftler begeht einen spektakulären Irrtum; und der alte Soldat lacht zuletzt. Nach den Briefen und Telefonanrufen zu urteilen, die bei mir eingingen, wurde die Geschichte von Zeitungen auf der ganzen Welt aufgegriffen. Ein früherer Student schickte mir sogar eine Kopie aus einer englischsprachigen Zeitung in Bangkok.
Wenige Wochen später wurde Colonel Shy in seinem Grab wieder zur Ruhe gebettet. Ein örtliches Bestattungsunternehmen stiftete einen neuen Sarg, und ein Regiment von mehr als 100 uniformierten Bürgerkriegs-Traditionalisten bereitete ihm eine Bestattung mit allen militärischen Ehren. Als der Geistliche mit seiner Grabrede zu Ende war, blitzte es, der Donner rollte, und Hagel prasselte auf die Versammelten nieder - genau wie es historischen Berichten zufolge 113 Jahre zuvor bei der ersten Bestattung des Offiziers gewesen war! Dieses Mal konnte der Soldat der Konföderierten vielleicht in Frieden ruhen.
Ich dagegen fand keine Ruhe. Nachdem wir den Leichnam als Colonel Shy identifiziert hatten, waren zwar mehrere Fragen beantwortet, aber eine neue, große Frage stellte sich: Wie konnte ich mit meiner Schätzung des Todeszeitpunktes um den gewaltigen Zeitraum von fast 113 Jahren daneben liegen?
Wie sich herausstellte, gab es auf diese Frage mehrere Antworten. Die erste und einfachste wurde deutlich, als wir eine Gewebeprobe chemisch analysierten. Die Leiche war einbalsamiert worden - was in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht annähernd so häufig vorkam wie heute, bei einem Offizier und Gentleman von Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen aber auch nicht allzu sehr verwundert. Ein Mann von Shys Stellung wurde in seinen besten Kleidungsstücken bestattet - genau in der schwarzen Jacke und dem gestärkten Hemd, die wir später auf dem letzten bekannten Foto, einer Aufnahme von Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, wieder erkannten.
Um den nächsten Puzzlestein einzufügen, mussten wir ein wenig metallurgische und chemische Detektivarbeit leisten. Wie bereits erwähnt, bestand der Sarg aus Gusseisen, und er war so widerstandsfähig, dass er über ein Jahrhundert lang das Wasser fern hielt. Ebenso bildete er eine Barriere für die Sargfliegen, zähe Insekten von der Größe einer Mücke, die sich tief in die Erde graben, hölzerne Särge durchbohren und durch winzige Öffnungen auch in Metallsärge eindringen. Und da der Sarg luftdicht verschlossen war, hatten auch Bakterien kaum Sauerstoff zur Verfügung, um das weiche Gewebe der Leiche abzubauen. So kam es, dass das Fleisch noch rosa aussah wie zwei bis sechs Monate nach dem Tod.
Damit war die beunruhigende Frage, die ich mir selbst gestellt hatte, wenigstens teilweise beantwortet. Aber dahinter stand eine tiefere Erkenntnis, und die quälte mich noch mehr: Ich wusste einfach nicht genug - nicht annähernd genug - über die Vorgänge, die nach dem Tod eines Menschen in seinem Körper ablaufen. Und damit war ich nicht allein: Niemand wusste genug darüber. Anthropologen, Pathologen, Leichenbeschauer, Polizei - alle hatten entsetzlich wenig Ahnung davon, was sich in einer Leiche nach dem Tod wann und wie abspielt.
Colonel Shy hatte - unter tätiger Mithilfe einiger Zeitungsreporter und meines eigenen großen Mauls - sowohl das Ausmaß meines Unwissens als auch eine große Wissenslücke der Gerichtsmedizin offen gelegt. Mir persönlich war es peinlich; wissenschaftlich faszinierte es mich; vor allem aber war ich entschlossen, daran etwas zu ändern.