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Die Morde des Zoomannes
Jedes Jahr im Oktober sind die Berge im
Osten von Tennessee sechs berauschende Wochen lang wie
herausgeputzt: Die Hartriegelbäume verfärben sich scharlachrot, der
Ahorn leuchtet orange, die Tulpenbäume sind hellgelb und die Eichen
zeigen alle Schattierungen von Rot und Braun.
Rund 15 Kilometer östlich der Innenstadt von
Knoxville, nicht weit hinter der Brücke, auf der die Interstate 40
das grüne Wasser des Holston River überquert, prangen die
Herbstfarben neben der Landstraße in einem dichten Laubgehölz. Die
Bäume stehen am Ende der Cahaba Lane, einer kurzen Sackgasse, die
einen knappen Kilometer parallel zu den östlichen Spuren der
Schnellstraße verläuft. Zur Straße hin stehen eine Hand voll Häuser
und Wohnwagen, und oben auf einer grasbewachsenen Böschung thront
eine Kirche, die East Sunnyview Baptist Church. Weiter südlich, in
einiger Entfernung von der Straße, windet sich zwischen den Bäumen
ein kleiner Bach, der nur bei Regen Wasser führt.
Die Cahaba Lane endet vor einer riesigen Werbetafel
mit der Aufschrift Comfort Inn, Free Breakfast, Guest
Laundry. Getragen wird das Schild von fünf verrosteten
T-Trägern. Zwischen zwei dieser Pfähle führt ein Fußweg bergauf
über eine sanft ansteigende Böschung, die von leeren Bierdosen,
Fastfood-Verpackungen, Eierschachteln, Schuhen und anderen
Haushaltsoder Autoabfällen übersät ist. Auf dem Waldboden verteilen
sich aber auch unzählige Eicheln, von denen ein großer
Eichhörnchenbestand lebt.
Am 20. Oktober 1992 wanderte ein Jäger mit der
Absicht, ein wenig zur Kontrolle der Eichhörnchenpopulation
beizutragen, den Pfad hinauf in den Wald. Nachdem er ein Stück
bergauf gegangen war, bemerkte er eine mitgenommene Matratze und
eine verfallene Hundehütte, in die jemand eine Schaufensterpuppe
gestopft hatte. Als er einen Teil des Abfalls mit dem Fuß zur Seite
beförderte, sah er, dass die »Puppe« in Wirklichkeit ein Mensch
war: eine blondierte, teilweise unbekleidete und sehr tote junge
Frau, deren Hände mit orangefarbenem Bindfaden gefesselt waren.
Sofort eilte der Jäger zum nächsten Telefon und rief die Polizei.
Wenige Minuten später wimmelte es in der Sackgasse von Fahrzeugen
der Kreis- und Gemeindepolizei von Knoxville. Ein Gemeindepolizist
erkannte das Opfer: Es war Patricia Anderson, eine 32-jährige
Weiße, deren Fall er untersuchte, seit sie vor knapp einer Woche
verschwunden war.
Patty Anderson war für die Polizei keine
Unbekannte. Sie arbeitete als Prostituierte, nahm regelmäßig Kokain
und war einschlägig vorbestraft; außerdem sah sie gut aus und
kleidete sich gern auffällig. Was von ihren Kolleginnen und Kunden
kaum jemand wusste: Sie befand sich im Frühstadium einer
Schwangerschaft. Einem Kreditvermittler hatte sie erzählt, sie
wolle das Geld für eine Abtreibung zusammenkratzen, und ihre
Geldnöte waren wahrscheinlich auch der Grund, warum sie ein so
unglückseliges Ende genommen hatte.
Der medizinische Sachverständige des Kreises
Knoxville konnte schnell bestätigen, was die Polizeibeamten auf
Grund des zerschmetterten Gesichts, der Blutergüsse am Hals, der
hervortretenden Augen und der bläulich verfärbten Gesichtshaut
bereits vermutet hatten. Jemand hatte sie gefesselt, geschlagen und
schließlich erdrosselt. Grausame Ironie: Nur wenige Schritte
entfernt müssen Hunderte von Menschen vorübergekommen sein. Wenn
sie um Hilfe gerufen hatte, gingen ihre Schreie vermutlich im
Verkehrslärm unter.
Anderson war am 13. Oktober zum letzten Mal lebend
gesehen worden. Am nächsten Tag hatte ihr Freund das Auto gefunden:
Ihr Chevrolet Malibu stand vor einem Motel, das die Prostituierten
von Knoxville häufig als Absteige benutzten. Danach war sie
verschwunden. Den Polizisten, die sich in der Unterwelt der Stadt
auskannten, fiel beim Anblick ihres übel zugerichteten Leichnams
sofort ein Verdächtiger ein. Er legte sich häufig mit den
Bordsteinschwalben an und hatte das zuvor schon mindestens zweimal
an der Cahaba Lane getan. Der »Zoomann« wurde zur Fahndung
ausgeschrieben.
Am 27. Februar, acht Monate vor dem Mord an Patty
Anderson, hatte eine Prostituierte bei der Polizei angerufen und
berichtet, ein Mann namens John habe sie um ihre Dienste gebeten
und sei mit ihr zur Cahaba Lane gefahren. Dort habe er sie in den
Wald geschleppt, ausgeraubt, vergewaltigt und verprügelt. Dann
hatte er sie mitten im Winter nackt und gefesselt zurückgelassen.
Es war ihr gelungen, sich zu befreien, und sie hatte von einem nahe
gelegenen Schönheitssalon aus die Polizei angerufen.
Noch am gleichen Tag war Tom Pressley, ein
Ermittler der Polizei von Knoxville, mit ihr zu einer
Tatortbesichtigung in die Cahaba Lane gefahren. Am Ende der Straße
war ein älterer Buicke Le Sabre geparkt. »Das ist er! Das ist das
Auto!«, hatte die Frau gerufen.
Pressley stieg aus und ging zusammen mit der Frau
in den Wald. Ungefähr nach 100 Metern fing sie an zu zittern. Sie
packte Pressleys Arm, zeigte in eine Richtung und flüsterte: »Er
ist da! Jetzt!« Den beiden bot sich eine schockierende Szene: Ein
Mann stand mit herabgelassener Hose im Wald. Vor ihm kniete eine
schluchzende Frau. Der Polizist zog die Waffe und schlich sich
unbemerkt an.
Pressley befahl dem Mann, sich mit dem Gesicht nach
unten auf die Erde zu legen. Er legte ihm Handschellen an, führte
ihn zu seinem Streifenwagen und forderte über Funk Verstärkung an.
Einer der neu hinzukommenden Beamten fuhr die beiden Frauen zurück
in die Stadt; Pressley nahm den Mann fest und erhob Anklage gegen
ihn.
Der Mann, den sie mit heruntergelassenen Hosen
erwischt hatten, war 32 Jahre alt und hieß Thomas Dee Huskey. Er
wohnte bei seinen Eltern in einem feststehenden Wohnwagen in Pigeon
Forge, einer Kleinstadt 40 Kilometer östlich von Knoxville. Die
Anklage lautete auf Vergewaltigung und Raub. (Auf dem Boden des Le
Sabre hatte man eine Geldbörse gefunden; sie gehörte der Frau, die
Pressley zur Cahaba Lane geführt hatte.) Aber das Gericht tat die
Aussage der ersten Frau als bedeutungslos ab; die zweite verschwand
aus der Stadt und sagte nie gegen ihn aus. Nach einigen Monaten im
Gefängnis wurde Tom Huskey freigelassen.
Wenige Wochen später wurde Huskey erneut
aufgegriffen; dieses Mal hatte er eine verdeckte Ermittlerin der
Polizei nach käuflichem Sex gefragt. Er wurde vorgeladen, erhielt
eine Geldstrafe und ging wiederum als freier Mann. Aber er blieb
ein Gefangener von Wollust und Aggressivität, und für beides waren
Prostituierte seine Zielobjekte. Unter den Damen des Gewerbes hatte
er schon bald einen schlechten Ruf und einen Spitznamen: der
»Zoomann«. Er hatte zwei Jahre die Elefanten im Zoo von Knoxville
versorgt, aber dann hatte man ihn entlassen, weil er Tiere
missbraucht hatte. Sein früherer Beruf war jedoch nicht der einzige
Grund für den Spitznamen: Während der Zeit, als er im Zoo
arbeitete, und auch später nahm er die Prostituierten gern mit in
einen leeren Viehstall, der sich unmittelbar neben den Tiergehegen
befand. Gerüchten zufolge fesselte er dort die Frauen, um sie dann
zu missbrauchen. Im Sommer 1992 hatte es sich im Rotlichtmilieu von
Knoxville herumgesprochen: Hände weg vom Zoomann.
Aber offenbar wussten nicht alle darüber Bescheid:
An einem Sonntagnachmittag im September holte Huskey erneut eine
Prostituierte in sein Auto und fuhr mit ihr zur Cahaba Lane. Er
versprach ihr 75 Dollar, fast das Doppelte des üblichen Lohns. Aber
wie sie später der Polizei berichtete, fesselte ihr Huskey im Wald
sofort die Hände auf dem Rücken; dann wurde sie geschlagen und
vergewaltigt. Wie schon im Februar ließ er sein Opfer auch dieses
Mal gefesselt und auf dem Boden liegend zurück.
Wenige Wochen später, am Abend nachdem man die
Leiche von Patty Anderson gefunden hatte, wurde Tom Huskey in
Pigeon Forge festgenommen; die Polizei hatte ihn in dem Wohnwagen
aufgestöbert, den er mit seinen Eltern bewohnte. Als Beamte die
Behausung durchsuchten, fanden sie in Huskeys Zimmer ein Stück
orangefarbenen Bindfaden des gleichen Typs, mit dem auch Andersons
Hände gefesselt waren. Außerdem entdeckten die Polizisten einen
Ohrring, der später als ihr Eigentum identifiziert wurde, und daran
hing ein blondes Haar. Da die Haarwurzel fehlte, konnte man daraus
nicht genügend DNA für einen Abgleich mit dem Erbmaterial des
Mordopfers gewinnen. Eine chemische Analyse im kriminaltechnischen
Labor des FBI ergab jedoch, dass das Haar aus Huskeys Zimmer mit
dem gleichen Mittel gefärbt war wie die Haare von Patty
Anderson.
Im nächsten Schritt der Ermittlungen wurden die
beiden Orte durchsucht, die Huskey bekanntermaßen mit den Frauen
aufgesucht hatte: der Stall am Zoo von Knoxville und der Wald
oberhalb der Cahaba Lane. In den letzten Monaten waren sechs oder
acht Prostituierte aus der Gegend als vermisst gemeldet worden, und
wenn Huskey eine davon umgebracht hatte - worauf alle Indizien
hindeuteten -, kam er vielleicht auch in den anderen Fällen als
Täter in Frage.
Wenn eine Prostituierte spurlos verschwindet, muss
das natürlich nicht bedeuten, dass sie umgebracht wurde. Ich hatte
schon mehrere Fälle bearbeitet, an denen solche Frauen beteiligt
waren, und war dabei zu der Erkenntnis gelangt, dass viele von
ihnen ein unstetes Nomadenleben führen. Einerseits sind sie häufig
bestrebt, den Gesetzeshütern immer einen Schritt voraus zu sein,
und andererseits können sie höhere Preise fordern, wenn sie in
einer Gegend das neue Gesicht sind. Vielleicht hatten die
verschwundenen Prostituierten sich also einfach fettere Weidegründe
gesucht; vielleicht waren aber manche von ihnen auch tot und
verwesten im Wald oder in dem alten Viehstall. Leider war der Stall
während des Sommers abgebrannt, und man hatte das ganze Gelände
eingeebnet. Zufall oder Brandstiftung? Jedenfalls waren alle
Indizien, die es vielleicht einmal gegeben hatte - und wenn es auch
bloß verbrannte Knochen waren -, längst weg. Damit blieb uns nur
noch die Cahaba Lane.
Sechs Tage nachdem man die Leiche von Patty
Anderson gefunden hatte, rief mich die Polizei des Kreises
Knoxville an. Der Beamte erklärte, sie hätten bei der Cahaba Lane
zwei weitere Frauenleichen entdeckt. Ob ich wohl vorbeikommen und
mir die Sache ansehen könne? Ich stellte ein kleines Team zusammen:
Bill Grant, der später als forensischer Anthropologe bei der
US-Armee tätig war, sowie Lee Meadows und Murray Marks, beide heute
Professoren an der University of Tennessee, die neben ihren
Lehraufgaben an forensischen Fällen arbeiten und heute die Body
Farm leiten. Gemeinsam quetschten wir uns in einen weißen
Lieferwagen der Universität und machten uns nach Osten auf den Weg.
In Knoxville lief ein Serienmörder frei herum, und seine Beute
suchte er sich unter den am stärksten gefährdeten Frauen der Stadt.
Unter Frauen, die sich ihren Lebensunterhalt nur dadurch verdienen
konnten, dass sie ihren Körper an Fremde verkauften und damit ihr
Leben aufs Spiel setzten.
Es war schon Jahre her, seit ich zum letzten Mal
einen Serienmord bearbeitet hatte, aber ich konnte mich noch
lebhaft daran erinnern, wie beunruhigend es war. Mitte der
achtziger Jahre waren acht Frauen im Südosten der USA ermordet und
an großen Landstraßen abgelegt worden; drei von ihnen hatte man in
Tennessee gefunden. Vielfach hatten die Opfer rote Haare gehabt,
und deshalb wurde der Fall unter dem Namen »Rotschopfmorde«
bekannt. Auch hier handelte es sich in den meisten Fällen um
Prostituierte; damals hatte ich erfahren, dass sie häufig von einer
Stadt zur anderen wechseln, sobald ihre Einnahmen
zurückgehen.
Die Rotschopfmorde wurden nie aufgeklärt. Der neue
Fall, so hoffte ich, würde besser ausgehen. Ein wirklich gutes Ende
gibt es in solchen Dingen nie, aber wenn wir Glück hatten und
außerdem anständige Arbeit leisteten, würde es zumindest weniger
Verbrechen und mehr Bestrafung geben.
Als ich den Lieferwagen am Ende der Cahaba Lane
geparkt hatte, blickte ich beim Aussteigen zufällig zu Boden. Oben
an meinem linken Hinterreifen klebte ein gebrauchtes Kondom. Die
Ermittler führten uns in den Wald. Rund 50 Meter rechts von der
Werbetafel, eigentlich noch in Sichtweite der Straße, lag die erste
Leiche. Die Frau war wie Patty Anderson nur unvollständig
bekleidet; die Unterhose war heruntergezogen, sodass Gesäß und
Genitalien frei lagen. Es war eine Farbige, und die Leiche befand
sich im ersten Stadium der Verwesung: kaum Verfärbungen, keine
aufgedunsenen Stellen, geringfügige Insektenbesiedelung. Teilweise
lag es daran, dass die Leiche noch relativ frisch war, teilweise
aber auch an dem kalten Wetter. Schmeißfliegen haben etwas gegen
Temperaturen unter zehn Grad.
»Diese Leiche ist zu frisch für mich«, sagte ich.
»Das ist ein Fall für den medizinischen Sachverständigen.« Nachdem
ich auf diese Weise um die Untersuchung herumgekommen war, achtete
ich sorgfältig darauf, die Tote nicht zu berühren. Angesichts der
Blutergüsse am Hals und des verzerrten Gesichts war ich mir jedoch
ziemlich sicher, dass man sie erwürgt hatte.
Ein Polizeibeamter fragte, wie lange sie schon tot
sei. Ohne lange über die Kälte der letzten Zeit nachzudenken,
antwortete ich: »Nicht lange - vielleicht ein paar Tage.« Diese aus
dem Ärmel geschüttelte Bemerkung, die von dem Polizisten notiert
und in den Zeitungen wiedergegeben wurde, sollte mich in den
folgenden Monaten und Jahren immer wieder einholen.
Man führte mich zu der zweiten Leiche. Sie lag viel
tiefer im Wald als die anderen: Von der Werbetafel musste man einen
knappen Kilometer gehen, erst den Hügel hinauf und dann auf der
anderen Seite ein Stück weit wieder hinunter. Im Gegensatz zu den
beiden ersten Frauen war diese völlig nackt; etwa drei Meter
entfernt lag ein Stück Unterwäsche, ein Seidenteddy. Es handelte
sich ebenfalls um eine Farbige - die Rasse war an den Haaren und
den entblößten Zähnen leicht zu erkennen. Die Leiche war bereits
stark verwest. Die Haut hatte sich verfärbt, der Bauch war
aufgedunsen, die Knochen des rechten Beins lagen frei, und die Füße
fehlten. Arme und Beine waren weit gespreizt, und der Körper war
mit dem Schritt gegen einen kleinen Baum gedrückt. Der Baumstamm
schien unmittelbar aus den Geschlechtsteilen des nackten, verwesten
Mordopfers zu wachsen, was das Verbrechen noch entsetzlicher und
abartiger wirken ließ.
Als ich die Lage der Leiche genauer betrachtete,
wurde mir klar, dass dies nicht der Schauplatz des Mordes war - die
Frau war nicht an dieser Stelle umgebracht worden. Als ich mich
umsah, fiel mir ein paar Meter höher an der Böschung ein dunkler,
schmieriger Fleck auf: Dort waren flüchtige Fettsäuren aus der
Leiche gesickert. Auch ein Teil der Haare lag dort. Offensichtlich
hatte die Leiche sich ursprünglich an dieser Stelle befunden, und
erst später hatte irgendjemand oder irgendetwas sie bewegt.
Beide Füße des Opfers fehlten. Sie waren an den
Enden von Schien- und Wadenbein abgebissen, und auch der linke
Oberschenkel war stark angenagt. Ich konnte mir den Ablauf ganz
genau ausmalen: Nach dem Mord war etwa eine Woche vergangen;
anschließend musste die Leiche für einen normalen Menschen schon
ziemlich stark gestunken haben. Nach den Maßstäben eines Hundes
hatte sie jedoch gerade erst einen interessanten Geruch
angenommen.
Ich habe oft beobachtet, dass Hunde nicht gern auf
einer freien Fläche fressen; sie haben Angst, von hinten überrascht
zu werden. Am liebsten drücken sie sich mit dem Rücken gegen einen
Baumstamm oder einen Felsen, sodass sich kein anderes Tier
anschleichen kann. Wenn ein Hund von 20 oder 30 Kilo eine 50 Kilo
schwere Leiche an eine Stelle schleppen will, wo er sie ungestört
fressen kann, wird er sie nicht bergauf ziehen; er schnappt nach
einem Fuß und zerrt sie bergab, sodass die Schwerkraft beim
Transport mithilft. Unsere Leiche war dabei allerdings nicht weit
gekommen, weil die Beine auf die rechte und linke Seite des
Baumstammes gerutscht waren. Als der Köper dort festhing, war der
Hund mit seinem Latein am Ende: Er musste sich damit zufrieden
geben, den Oberschenkel abzunagen und die Füße wegzutragen.
Die Leiche lag mit dem Gesicht nach oben - wobei
das Gesicht allerdings nicht mehr vorhanden war. Auch das weiche
Gewebe am Hals fehlte, sodass die Halswirbel frei lagen; Schultern
und Arme waren dagegen noch mehr oder weniger unversehrt.
Über das Fehlen des Gesichts wunderte ich mich
nicht. Es gehört häufig zu den ersten Dingen, die unkenntlich
werden. Schmeißfliegen legen ihre Eier gern an feuchten, dunklen
Orten ab; Mund, Nase, Augen und Ohren sind dafür besonders
geeignet. Das Gleiche gilt für Geschlechtsorgane und Darmausgang,
sofern sie für die Fliegen zugänglich sind. So ungefähr die einzige
Stelle, an der ein Schmeißfliegenweibchen seine Eier noch lieber
ablegt als in einer Körperöffnung, ist eine blutende Wunde.
Während also damit zu rechnen war, dass das Gesicht
fehlte, sah es mit dem Hals ganz anders aus, insbesondere da
Schultern und Arme in gutem Zustand waren. Wir hatten es mit einem
klassischen Fall von »differenzieller Verwesung« zu tun, und wenn
mir so etwas begegnet, sehe ich darin immer ein besonderes Indiz.
An der differenziellen Verwesung im Halsbereich konnte ich ablesen,
dass dort irgendeine Verletzung stattgefunden hatte. Vielleicht
hatte man ihr die Kehle durchgeschnitten - dann hätten die Fliegen
sich auf die Wunde gestürzt -, vielleicht hatte der Angreifer sie
aber auch erwürgt und mit den Fingernägeln die Haut geritzt, sodass
sie blutete. Jedenfalls war der Hals aus irgendeinem Grund für die
Schmeißfliegen und Maden genauso anziehend gewesen wie die
natürlichen Körperöffnungen am Kopf.
Während ich die Leiche untersuchte, sprach mich
Arthur Bohanan an, ein Kriminaltechniker der Polizei von Knoxville,
der ebenfalls am Tatort war: »Bill, gib mir mal die Hand.« Ich
arbeitete schon seit Jahren mit ihm zusammen und wusste, dass er es
ganz wörtlich meinte: Ich sollte der Toten eine Hand abtrennen und
ihm geben.
Art war bei der Polizei von Knoxville der führende
Experte für Fingerabdrücke. Nach und nach erwarb er sich sogar den
Ruf, im ganzen Land einer der besten Fachleute auf diesem Gebiet zu
sein, und selbst das FBI fragte ihn gelegentlich um Rat. Er war
nicht nur ein Techniker, der an Tatorten die Fingerabdrücke
sicherte, sondern er suchte auch mit wissenschaftlichen Methoden
nach neuen Verfahren, um Fingerabdrücke auf Oberflächen sichtbar zu
machen, auf denen man sie bisher nicht sehen konnte, beispielsweise
auf Stoff oder der Haut von Mordopfern. Im Laufe der Jahre hatte
Art an zahlreichen Fällen von Kindesentführung und Mord
mitgearbeitet, und dabei war ihm aufgefallen, dass die
Fingerabdrücke von Kindern viel schneller verblassen als die von
Erwachsenen - sie verschwinden beispielsweise aus dem Innenraum der
Autos von Entführern. Warum? Das wollte Art herausfinden. Wie er
dabei schließlich feststellte, fehlen in den Fingerabdrücken von
Kindern vor der Pubertät bestimmte Fettsubstanzen, die den
Abdrücken von Erwachsenen eine größere Widerstandsfähigkeit
verleihen.
Für einen unbeteiligten Beobachter hätte Arts
beiläufige Bitte »Gib mir mal die Hand« grausig geklungen, aber für
einen Gerichtsmediziner war sie Routine. In Mordfällen ist es gang
und gäbe, dass man Finger oder auch ganze Hände abschneidet und zur
weiteren Untersuchung ins eigene Labor oder zum FBI schickt. Kennt
man die Identität des Opfers nicht, muss man sich mit allen nur
denkbaren Methoden bemühen, Fingerabdrücke zu sichern und den Namen
herauszufinden. Am meisten steht bei Serienmorden wie diesem auf
dem Spiel: Mindestens drei Frauen waren bereits tot, und wenn der
Täter nach dem gleichen Schema wie die meisten anderen
Mehrfachmörder vorging, würde es weitere Opfer geben, so lange er
nicht gefasst war. Für zimperliche Eigentumsdispute blieb da keine
Zeit.
Ich sah mir die Hände an. Die Haut war durchweicht
und stand kurz davor, sich abzulösen, aber wie ich genau wusste,
war das für Art kein Hinderungsgrund bei der Sicherung der
Fingerabdrücke. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich die
abgelöste Haut von Opfern sogar über die eigenen Finger zog, um die
natürlichen Konturen wieder herzustellen und an die Abdrücke zu
gelangen. Aus meiner Sicht lautete die entscheidende Frage:
Lieferten die Hände irgendwelche Aufschlüsse über Todesart oder
Todeszeitpunkt? Auch bei eingehender Untersuchung fand ich keine
durch Verteidigung entstandenen Verletzungen - die Frau hatte also
nicht versucht, eine Messerattacke abzuwehren; ebenso wenig fand
ich Spuren von Fesseln oder sonstige Wunden.
Ich nahm ein Messer aus meinem Koffer und schnitt
nacheinander beide Hände ab, um Arts Chancen auf einen brauchbaren
Fingerabdruck zu verdoppeln. Ich ließ sie in einen Plastikbeutel
fallen und gab sie ihm, der sich sofort auf den Weg ins Labor
machte, um mit seiner Zauberei zu beginnen. Am unteren Ende des
Fußweges blieb er noch einmal stehen und nahm Fingerabdrücke von
der frischen Leiche neben der Straße. Diese Abdrücke steckte er in
eine weitere kleine Plastiktüte.
Für meine Arbeit brauchte ich einen viel größeren
Beutel. Wir breiteten auf der Erde neben dem Opfer einen
»Katastrophensack« aus - eine schönfärberische Bezeichnung für
einen Leichensack -, öffneten den Reißverschluss und legten die
Leiche vorsichtig in die längliche Öffnung. Dann griffen wir zu
sechst nach den Seiten und Ecken des Beutels, trugen sie aus dem
Wald und legten sie in den Lieferwagen.
Als wir sie gerade einluden, erwachte der
Polizeifunk krächzend zum Leben. Art Bohanan hatte eines der Opfer
bereits identifiziert. Es handelte sich nicht um die Frau, deren
Hände er mitgenommen hatte - das würde mehr Arbeit erfordern -,
sondern um die frische Leiche. Sie hieß Patricia Ann Johnson, war
31 Jahre alt und eine Ureinwohnerin vom Stamm der Chattanooga;
während der letzten Wochen hatte sie in einem Obdachlosenasyl in
Knoxville gewohnt. Wegen Prostitution war sie nie festgenommen
worden, aber man hatte sie öfter in Gegenden gesehen, in denen die
Huren von Knoxville ihrer Tätigkeit nachgingen. Darüber hinaus
teilte Art mir zwei weitere interessante Dinge mit: Sie war an
Epilepsie erkrankt, und an ihrem Hals trug sie mehrere schwer
erkennbare Fingerabdrücke; er hatte sie entdeckt, indem er die
ganze Leiche mit Superkleber eingesprüht und dann mit einem Pulver
bestäubt hatte, das im Ultraviolettlicht aufleuchtete. Leider waren
die Abdrücke aber nicht genau genug - wer ihr den Hals zugedrückt
hatte, war daran nicht zu erkennen.
Jetzt war ich an der Reihe: Ich musste an die
Arbeit gehen und so viel wie möglich über das Opfer Nummer drei
herausfinden.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kehrten wir zur
Body Farm zurück. Nachdem ich den Lieferwagen rückwärts in die
Einfahrt gesetzt hatte, holten wir den Sack heraus, legten ihn auf
den Boden, öffneten den Reißverschluss und gingen daran, das weiche
Gewebe zu entfernen.
Als wir die Leiche in den Beutel gelegt hatten,
waren uns nur wenige Maden aufgefallen - es waren höchstens eine
Hand voll. Jetzt jedoch kamen sie uns buchstäblich zu Zehntausenden
entgegen. Ein Student fragte, wo sie plötzlich herkämen. War es
möglich, dass eine große Zahl von ihnen während der 45-minütigen
Fahrt zur Universität aus den Eiern geschlüpft war? Nein, erklärte
ich. Sie waren nur ein wenig durcheinander, was die Tageszeit
anging. Maden mögen kein Sonnenlicht, und wenn eine Leiche im
Freien liegt, bohren sie sich tagsüber tief in die Haut. Als wir
aber die Tote in dem undurchsichtigen Beutel verstaut hatten,
glaubten die Maden, es sei Nacht geworden; deshalb waren sie
herausgekommen, um an der Körperoberfläche zu fressen.
Eine weitere interessante, aber auch grausige
Anmerkung zum Thema Maden: Kühle Witterung hält zwar die
Schmeißfliegen am Boden fest, sie bringt aber ihren
Larvennachwuchs, die Maden, keineswegs aus dem Konzept. Insekten
gelten zwar immer als »Kaltblüter«, aber wenn Maden das menschliche
Gewebe verdauen, entsteht durch den chemischen Abbau erstaunlich
viel Wärme. Auf der Body Farm ist es an einem kalten Morgen
durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, dass eine Ansammlung von
Maden, die sich der Wärme wegen zusammengedrängt haben, weißen
Dampf aufsteigen lässt. Wie mein Kollege Murray Marks festgestellt
hat, haben es die Bewohner der Body Farm also da draußen nicht ganz
so kalt und einsam, wie man vielleicht glauben könnte.
Um das Opfer Nummer drei zu identifizieren,
brachten wir an einem Arm und einem Bein Metalletiketten an. Es war
im Jahr 1992 unser 27. gerichtsmedizinischer Fall, die Leiche
erhielt also die Nummer 92-27. Um das Alter abzuschätzen,
untersuchten wir am Skelett mehrere Einzelheiten: die Schädelnähte,
die Schlüsselbeine und das Becken. Die Beckenknochen waren dicht
und glatt, eine deutliche Körnung fehlte; wir hatten es also mit
einer ausgewachsenen, aber noch relativ jungen Frau zu tun,
vermutlich im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Die Schlüsselbeine
waren jedoch noch nicht ganz ausgereift: Ihr zum Brustbein
weisendes Ende ist der letzte Knochenabschnitt, der vollständig mit
dem Schaft verschmilzt; diese Epiphysen - so der Fachausdruck -
waren nicht vollständig verknöchert, und das ließ darauf schließen,
dass sie noch keine 25 war. Glücklicherweise konnten wir das Alter
sogar noch genauer ermitteln. Die wissenschaftlichen Befunde eines
meiner früheren Studenten aus Kansas legten die Vermutung nahe,
dass es irgendwo zwischen 18 und 23 lag. Und schließlich war die
Synchondrosis sphenooccipitalis - die Verbindungsstelle zwischen
Hinterhauptsbein und Schädelbasis - nur teilweise geschlossen, auch
das ein Hinweis, dass sie noch keine 25 war. Angesichts aller
dieser Indizien war ich davon überzeugt, dass das Alter der Toten
zwischen 20 und 25 lag.
Um die Körpergröße festzustellen, vermaßen wir den
rechten Oberschenkelknochen: Er war 44,4 Zentimeter lang. Diesen
Wert setzten wir in eine Formel ein, die in den fünfziger Jahren
des 20. Jahrhunderts entwickelt und später von Dr. Richard Jantz,
einem Kollegen an der University of Tennessee, verfeinert worden
war. Richard, ein weltweit führender Experte für Skelettvermessung,
hat eine riesige Datenbank mit derartigen Messwerten
zusammengetragen und außerdem eine leistungsfähige Software
entwickelt, mit der man aus wenigen einfachen Messungen das
Geschlecht, die Rasse und den Körperbau eines Skeletts genau
ermitteln kann. Auf diese Weise erfuhren wir, dass sie mit ihrem
44,4 Zentimeter langen Oberschenkelknochen insgesamt ungefähr 1,58
Meter groß gewesen war.
Nun kannten wir Geschlecht, Rasse, Alter und
Körpergröße. Als Nächstes mussten wir nach Anhaltspunkten für die
Todesursache suchen. Immer wieder untersuchten wir alles Mögliche.
Es gab keine Verletzungsspuren - weder Knochenbrüche noch
Schnittspuren oder andere Hinweise auf eine Verwundung. Allerdings
besaßen wir nicht alle Knochen. Die Füße fehlten, aber die hätten
uns vermutlich auch keine Aufschlüsse darüber geliefert, wie sie
gestorben war. Noch ein anderer Knochen war nicht vorhanden, und
zwar vermutlich der wichtigste des ganzen Körpers. Er gehörte in
den Bereich, wo die differenzielle Verwesung schon beim ersten
Anblick der Leiche meine besondere Aufmerksamkeit geweckt hatte. Es
war das Zungenbein, der einzige Knochen, an dem man mit Sicherheit
ablesen kann, ob ein Mensch erwürgt wurde. Dieser kleine,
hufeisenförmige Knochen liegt frei über dem Kehlkopf und unter dem
Unterkiefer. Man kann ihn spüren, wenn man den Kopf ein wenig in
den Nacken legt, vorn nach der Luftröhre greift und die Hand dann
hin und her bewegt. Da er so dünn ist und an einer so exponierten
Stelle liegt, geht er häufig zu Bruch, wenn jemand erdrosselt
wird.
Angesichts der Tatsache, dass die beiden späteren
Opfer erwürgt wurden, erschien es mir unabdingbar, dass wir das
Zungenbein fanden. Wir untersuchten sehr genau, ob es vielleicht
unten in dem Leichensack lag, aber vergeblich. Dann rief ich meine
vier Doktoranden zu mir und erklärte: »Ihr müsst noch einmal zur
Cahaba Lane fahren und dieses Zungenbein finden.« Sie sahen mich
bestürzt und zweifelnd an, aber ich mochte noch nicht aufgeben.
Immer wieder war ich verblüfft gewesen, wie viele aufschlussreiche
Indizien man am Schauplatz eines Mordes sichern kann, selbst wenn
die Tat Monate oder Jahre zurückliegt: Knochen, Geschosse, Zähne,
sogar Zehennägel. »Fangt da an, wo wir die Leiche gefunden haben«,
sagte ich zu den Studenten, »und dann arbeitet euch bergauf bis zum
Fundort der Haare vor. Es muss dort sein.« Den letzten Satz meinte
ich in einem mehrfachen Sinn.
Ein paar Stunden später kamen die vier zurück und
überreichten mir triumphierend das Zungenbein. Der Knochen war mit
ziemlicher Sicherheit in der Nähe des ursprünglichen Tatortes
herausgefallen (oder von einem Aasfresser herausgerissen worden),
und dann hatten fallende Blätter ihn zugedeckt.
Das Zungenbein lag in drei Stücken vor, aber das
musste nicht unbedingt bedeuten, dass es zerbrochen war; bei
manchen Menschen entwickelt sich dieser Knochen nie zu einem
durchgehenden, harten Bogen. So war es auch in diesem Fall: Die
beiden seitlichen Stücke, »große Hörner« genannt, sind durch
Knorpel mit dem bogenförmigen »Corpus« in der Mitte verbunden.
Möglicherweise waren die Hörner abgebrochen, man konnte sich aber
auch vorstellen, dass der Knorpel an diesen Stellen einfach bereits
verwest war. Um zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu
unterscheiden, musste ich mir die Sache genauer ansehen - und zwar
viel, viel genauer.
Ich brachte die Stücke in ein
Rasterelektronenmikroskopie-Labor der Ingenieurschule. Bei
20-facher Vergrößerung glaubte ich, am eigentlichen Knochen die
Spuren einer Schädigung zu sehen: winzige gerade Bruchlinien und
Zugbrüche an der Fläche, wo der Knorpel ansetzte. Ich fuhr näher
heran. Bei 100-und 200-facher Vergrößerung trat die Schädigung
deutlich zu Tage: zahlreiche kleine Brüche, die in einem kleinen,
auseinander gerissenen Bereich des Knochens endeten.
Viel gab es nicht zu sehen, aber es war das
entscheidende Indiz, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der
Knorpel durch Gewalteinwirkung vom Knochen gerissen war -
beispielsweise durch zwei kräftige Hände, die erbarmungslos
zudrückten, bis sie sich nicht mehr wehrte, nicht mehr atmete,
nicht mehr lebte. Dieser Augenblick war vermutlich irgendwann vor
zehn bis zwanzig Tagen eingetreten. Zu meiner Schätzung der seit
dem Tod verstrichenen Zeit gelangte ich, indem ich einen
Zusammenhang zwischen zweierlei Beobachtungen herstellte: dem
fortgeschrittenen Stadium der Verwesung und den Tages- und
Nachttemperaturen während der letzten Wochen.
Um den Todeszeitpunkt näher einzugrenzen, zog ich
einen früheren Studenten hinzu: das Chemie-Ass Arpad Vass, der
jetzt als Wissenschaftler am Oak Ridge National Laboratory
arbeitete. Ihm schickte ich zwei Bodenproben: eine von der Stelle
unter der Leiche, wo flüchtige Fettsäuren in die Erde gesickert
waren, und als Kontrolle eine zweite, die wir rund fünf Meter vom
Fundort der Leiche entfernt an der Böschung entnommen hatten. Im
Fall Ramsburg - das war der Mann, den seine Frau erschossen und im
Kriechkeller unter seinem Haus verscharrt hatte - waren Arpads
Möglichkeiten wegen der langen Zeit seit dem Tod des Mannes
eingeschränkt gewesen. Hier jedoch kamen die Umstände seiner
Methode sehr entgegen. Er analysierte zunächst die
Mengenverhältnisse der Verwesungsprodukte und bezog dann den
Temperaturverlauf in die Rechnung mit ein. Dieses Mal gelangte er
zu hervorragenden Ergebnissen: Nach seiner Berechnung lag der Tod
der Frau 14 bis 17 Tage zurück. Nach dem Verwesungszustand hatte
ich den Mord in die Zeit zwischen dem 6. und 16. Oktober verlegt;
Arpad grenzte diesen Zeitraum auf den 12. bis 15. Oktober ein,
ungefähr die gleiche Zeit, in der auch Patty Anderson verschwunden
war.
Um sicherzugehen, hatten die Ermittler für alle
Leichen eine zweite Schätzung für den Todeszeitpunkt eingeholt. Sie
wurde von Neal Haskell vorgenommen, einem forensischen
Insektenforscher, der einige Jahre zuvor in der Body Farm eine
interessante Untersuchung angestellt hatte. Neal entwickelte eine
kriminalistische Methode zum Nachstellen von Mordschauplätzen und
benutzte dabei ein frisch geschlachtetes Schwein als Ersatz für das
Mordopfer - ein »Körperdouble«, wie man in Hollywood sagt, wenn
auch eines aus einer anderen biologischen Art. Er ließ der Natur
ihren Lauf, bis der Schweinekadaver mit den gleichen Insekten
besiedelt war wie das Mordopfer, und wollte damit die seit dem Tod
vergangene Zeit auf einen bis zwei Tage genau eingrenzen. Um aber
festzustellen, ob die toten Schweine einen echten Ersatz für
menschliche Leichen darstellten, musste er die Tätigkeiten der
Insekten bei beiden Lebewesen unmittelbar vergleichen. Und das war
natürlich nur in der anthropologischen Forschungseinrichtung der
University of Tennessee möglich. Ich freute mich, dass er dort
seine Untersuchungen vornahm; wenn die Methode funktionierte - und
die Arbeiten zeigten, dass dies zumindest für die ersten fünf
Wochen nach dem Tod der Fall war -, konnte sie praktisch überall an
Verbrechensschauplätzen von Nutzen sein.
Als man Neal zu den Tatorten an der Cahaba Lane
rief, sammelte er sofort lebende Maden von den Leichen ein, um
später zu beobachten, wie lange ihre Entwicklung zu ausgewachsenen
Fliegen dauerte. Auf diese Weise stellen Insektenforscher fest,
wann die Eier abgelegt wurden; es ist, als würde man von der Geburt
eines Babys zurückrechnen und auf diese Weise feststellen, wann es
gezeugt wurde.
Außerdem legte Neal mehrere große Schweinekadaver
in den Wald an der Cahaba Lane; zur Bewachung der Stelle wurden
Polizisten abgestellt, die auch in kurzen Abständen die Temperatur
maßen. Aus der Zeit, bis die Maden aus den Leichen herangereift
waren, und den Beobachtungen an den toten Schweinen berechnete er,
dass die Schmeißfliegen irgendwann zwischen dem 9. und 13. Oktober
die ersten Eier im Körper der toten Frau abgelegt hatten. Auf diese
Weise kamen drei Wissenschaftler mit drei ganz unterschiedlichen
Methoden dem tatsächlichen Zeitpunkt des Mordes schon sehr
nahe.
Als Letztes schließlich musste ich herausfinden,
wer die Tote war. Mit ein wenig Glück konnte ich das vielleicht aus
ihrem eigenen Mund erfahren. Die Zähne waren ein Bilderbuchbeispiel
für Kontraste. Einerseits war in diesen Mund viel sorgfältige
Arbeit investiert worden: 14 Zähne waren mit Amalgam gefüllt.
Andererseits jedoch faulte ein anderer Zahn buchstäblich vor sich
hin. Die Karies hatte bereits den größten Teil der Zahnkrone
zerstört und sich bis in die Wurzelhöhle ausgebreitet, sodass auch
der Kieferknochen sich allmählich auflöste.
Solche krassen Unterschiede hatte ich auch früher
schon gesehen, und zwar insbesondere bei Frauen. Sie waren fast
immer ein Hinweis darauf, dass das Schicksal für die Betroffenen
eine dramatische Wendung genommen hatte. Ein Mädchen wächst auf,
zieht zu Hause aus und hat es dann schwer, seinen Weg in der Welt
zu finden; eine ältere Frau wird entlassen, geschieden oder zur
Witwe. Um was für einen Schicksalsschlag es sich auch handeln mag,
immer muss sie an allen Ecken sparen, und dann wird Zahnbehandlung
schnell zu einem Luxus, den sie sich nicht mehr leisten kann.
Aber auch wenn 92-27 es schwer gehabt hatte, musste
es aus der Zeit, bevor es mit ihr den Bach hinunterging,
zahnärztliche Röntgenaufnahmen mit ihrem Namen geben. Die konnten
wir finden, das wusste ich, aber es würde unter Umständen eine
Weile dauern. Glücklicherweise konnten wir uns die Mühe
sparen.
Während meine Kollegen und ich uns eingehend mit
Zähnen und Knochen, Chemikalien und Insekten beschäftigten, hatte
der Fingerabdruckexperte Art Bohanan sich um die Hände gekümmert,
die ich am Tatort in seinem Auftrag abgeschnitten hatte. Er konnte
Abdrücke gewinnen, aber in den Polizeiakten gab es dazu keine
Entsprechung; wenn die Frau also schon einmal festgenommen worden
war, dann nicht in Knoxville. Auch unter den polizeilichen
Personenbeschreibungen und Profilen von bekannten Prostituierten
gab es nichts, das zu ihr passte. Die allgemeine Beschreibung
jedoch - farbige Frau, 20 bis 25 Jahre alt, Größe 1,58 Meter -
entsprach einer Vermisstenanzeige, welche die Schwester einer Frau
kurz zuvor erstattet hatte. Die Vermisste war am 14. Oktober zum
letzten Mal gesehen worden; sie hieß Darlene Smith, war farbig, 22
Jahre alt und 1,60 Meter groß - eine auffällige Übereinstimmung mit
den Ergebnissen der Skelettuntersuchung.
Aus der Anzeige der Schwester kannte Art die
Adresse von Darlene Smith: eine Mietwohnung im Osten von Knoxville,
nicht weit von einer Gegend, in der häufig Prostituierte tätig
waren. Es war kein besonders angenehmes, aber ein recht billiges
Stadtviertel. Die Schwester führte Art in die Wohnung der
Vermissten und stöberte dort auch eine Kopie des Mietvertrages auf.
Art besprühte das Papier mit Ninhydrin, einer Verbindung, die stark
mit den Aminosäuren im Sekret menschlicher Fingerabdrücke reagiert.
Im nächsten Augenblick hatte er ein Gewirr violetter Flecken und
Fingerabdrücke vor sich.
Wie Art feststellen konnte, stammten die Abdrücke
von zwei Paar Händen. Eines davon gehörte einem Mann - und zwar
Darlenes Vermieter, dem Art am gleichen Abend die Fingerabdrücke
abnahm. Die anderen stimmten mit den Händen überein, die ich an der
Cahaba Lane von dem verwesten Leichnam abgetrennt hatte.
Am Morgen des 27. Oktober klingelte wieder das
Telefon. Die Polizei hatte in dem Wald ein viertes Opfer gefunden.
Ich schnappte mir Bill Grant und Lee Meadows, die mich auch am Tag
zuvor begleitet hatten, sowie Emily Craig, die Doktorandin, die mir
den Unterschied zwischen den Knien von Weißen und Negroiden
beigebracht hatte. Gemeinsam fuhren wir wieder den mittlerweile
vertrauten Weg zum Tatort.
Die vierte Leiche lag ungefähr 400 Meter rechts von
der Werbetafel am Ufer des kleinen Wasserlaufes, der hier aus dem
Wald hervorkam. Das breite Bachbett war den größten Teil des Jahres
ausgetrocknet; jetzt floss hier aber ein Rinnsal von wenigen
Zentimetern Tiefe.
Die Leiche war bereits weit gehend skelettiert; nur
an den Beinen, am Gesäß sowie am rechten Arm und der Hand befand
sich noch ein wenig Gewebe. Der nackte Schädel lag mit dem Gesicht
nach oben im Eichenlaub und starrte uns mit blicklosen,
vorwurfsvollen Augenhöhlen an. Die vollkommen freigelegten Wirbel
waren nur von Blättern und Zweigen bedeckt. Der rechte Arm und die
Hand fehlten - vermutlich hatte ein Hund sie abgebissen. Die linke
Hand jedoch lag unter Schlamm und Wasser im Bachbett. Als ich um
sie herum vorsichtig mit einer Maurerkelle grub, stellte ich zu
meiner angenehmen Überraschung fest, dass das weiche Gewebe der
Hand unversehrt war.
Wir verstauten die Überreste in einem Beutel und
brachten sie ins Universitätsklinikum. Unsere erste Station war die
Ladeplattform der Warenannahme des Krankenhauses; dort suchten wir
mit einem tragbaren Röntgengerät nach Kugeln, einer Messerklinge
und anderen Fremdkörpern, aus denen wir vielleicht Aufschlüsse
gewinnen konnten. Aber von einigen Zahnfüllungen abgesehen, gab es
am Skelett unseres Opfers Nummer 92-28 keine Metallgegenstände. Als
Nächstes brachten wir die Leiche zur Body Farm; dort legten wir den
Sack auf die Erde, öffneten ihn und begannen mit der Reinigung der
Überreste.
Art Bohanan war von der Cahaba Lane hinter uns
hergefahren. Ich wusste genau, was er vorhatte, aber dieses Mal
würde er nicht viel Arbeitsmaterial vorfinden. Wir hatten nur eine
Hand, und auch von der war nicht mehr viel übrig. Der Daumen fehlte
ganz, ebenso die Hälfte von Zeige- und Mittelfinger. Praktisch als
Einziges waren der Ringfinger, der kleine Finger und Teile der
Handfläche übrig. Aber wenn jemand aus Bruchstücken einer verwesten
Hand noch einen erkennbaren Fingerabdruck gewinnen konnte, dann
Art.
Da es sich bei den Überresten praktisch nur noch um
Skelettteile handelte, brauchte ich weniger Zeit als sonst, um die
Knochen für die forensische Untersuchung zu reinigen. Schon am
Tatort konnte ich erkennen, dass wir eine Frau vor uns hatten. Das
Becken war weiblich wie aus dem Lehrbuch: breite Hüften, hoch
liegende Kreuzdarmbeingelenke, eine breite Kerbe am Sitzbein und
ein größerer Winkel der Schambeinbögen - alles Bestandteile jener
geometrischen Verhältnisse, die es einem Kinderkopf gestatten, bei
der Entbindung den Geburtskanal zu passieren. Der Schädel zeigte
ebenfalls klassisch weibliche Merkmale. Die Augenhöhlen hatten
scharfe Oberkanten, das Kinn verjüngte sich in der Mitte zu einer
Spitze, das Schädelgewölbe war glatt und ohne Ansatzstellen für
kräftige Muskeln.
Auch die Rasse war leicht dingfest zu machen. Auf
dem Boden neben der Leiche hatten wir die Haare so gefunden, wie
sie sich gelöst hatten: Sie waren hellbraun und leicht gewellt.
Diese Haare und die Form des Mundes - mit Zähnen, die senkrecht
angeordnet waren und nicht nach vorn vorsprangen - kennzeichneten
die Frau eindeutig als Weiße.
Um das Alter abzuschätzen, sahen wir uns mehrere
Knochenteile an: Oberkiefer, Schlüsselbeine und Becken. Wie bei
92-27, so waren die Beckenknochen auch bei 92-28 dicht, glatt und
ohne ausgeprägte Körnung. Mit anderen Worten: Es handelte sich um
eine ausgewachsene, aber noch junge Frau, vermutlich im Alter von
Mitte 20 bis Mitte 30. Auch die Schlüsselbeine waren ausgereift:
Ihre zum Brustbein weisenden Enden waren völlig mit dem Schaft
verschmolzen, das heißt, sie war mindestens 25. Die Schädelnähte
schließlich, einschließlich der Sutura intermaxillaris zwischen den
Hälften des harten Gaumens, waren nicht völlig geschlossen. Die
Gaumennaht verwächst in der Regel erst zwischen dem 35. und 40.
Lebensjahr, älter als 35 war die Frau also vermutlich nicht.
Demnach konnte ich mit Sicherheit behaupten, dass das Alter
zwischen 25 und 35 lag, aber eine genauere Aussage war
schwierig.
Da dem Skelett nur ein Arm fehlte, sollte man
annehmen, dass wir die Reste zur Bestimmung der Körpergröße nur auf
einen Tisch legen und ein Maßband vom Kopf bis zur Ferse spannen
mussten. In Wirklichkeit ist die Sache aber nicht ganz so einfach.
Knorpel schrumpft nach dem Tod um mehrere Zentimeter ein und
zerfällt. Außerdem war der Schädel nicht mit dem übrigen Skelett
verbunden. Diese beiden Tatsachen boten die Gewähr, dass wir mit
der Maßbandmethode sehr ungenaue Ergebnisse erhalten würden.
Stattdessen gingen wir genauso vor, als wenn wir
nur einen Oberschenkelknochen gefunden hätten: Wir vermaßen seine
Länge und rechneten dann hoch. Dieser Oberschenkel war mit 47,8
Zentimetern deutlich länger als der vorige. Die Körpergröße von
92-28 lag demnach zwischen 1,67 und 1,74 Meter.
Als Nächstes suchte ich nach Verletzungsspuren, die
Auskunft über die Todesursache gegeben hätten. Aber obwohl wir
stundenlang Blätter und Erde durchsiebten, fanden wir das
Zungenbein leider nicht; deshalb konnte ich nicht feststellen, ob
man die Frau erdrosselt hatte.
Ein anderer Knochen jedoch lieferte ganz
buchstäblich ein schlagendes Indiz. Das linke Schulterblatt wies am
unteren Ende einen großen Bruch auf. Eigentlich ist das
Schulterblatt ein recht großer, kräftiger Knochen, und außerdem ist
es durch die Muskulatur geschützt. Der Bruch konnte nur durch
Gewalteinwirkung entstanden sein, beispielsweise durch einen
Fußtritt mit einem Stiefel, einen Baseballschläger oder ein
Vierkantholz.
An der Form der Bruchkanten konnte man erkennen,
dass der Schlag von hinten gekommen war, und Spuren einer Heilung
waren nicht vorhanden. Der Bruch war also zum Zeitpunkt des Todes
oder unmittelbar davor entstanden. Mit anderen Worten: Die Frau war
vermutlich um ihr Leben gelaufen, und dann hatte der Mörder sie
eingeholt. Hinzu kam, dass sie barfuß gewesen war, während er mit
Sicherheit Schuhe anhatte. Er hatte sie am Bachufer vornüber zu
Boden gestoßen, sich auf sie gesetzt und sie getötet.
Je mehr Zeit seit dem Tod verstrichen ist, desto
schwieriger wird es, ihre Dauer anhand der Skelettreste genau
anzugeben. Da diese Leiche bereits fast völlig skelettiert war,
musste sie, die man als Letzte gefunden hatte, als Erste gestorben
sein. Berücksichtigte man außerdem die äußerst starke Verwesung,
die Tagestemperaturen im September und Oktober sowie den Zustand
des im Bach liegenden weichen Gewebes, das bekanntermaßen nur halb
so schnell verwest, musste 92-28 nach meiner Schätzung schon vier
bis acht Wochen tot gewesen sein, bevor sie gefunden wurde. Für den
Todeszeitpunkt kam also eine recht lange Spanne in Frage, die fast
den ganzen September umfasste. Ich hoffte, die Untersuchungen an
Boden und Insekten würden bedeutend genauere Aussagen über den
Zeitpunkt des Verbrechens ermöglichen.
Diese Hoffnungen erwiesen sich als begründet.
Arpads Analyse der flüchtigen Fettsäuren im Boden unter der Leiche
grenzte die seit dem Tod verstrichene Zeit auf 30 bis 37 Tage ein -
demnach musste der Mord in der Woche zwischen dem 22. und 29.
September geschehen sein. Neal Haskell gelangte mit seiner
insektenkundlichen Untersuchung praktisch zu dem gleichen Ergebnis:
Er nannte den 22. bis 26. September. Wenn sie tatsächlich Ende
September gestorben war - in der Zeit, in der sich die Ergebnisse
der drei unabhängigen, mit unterschiedlichen Methoden
durchgeführten Analysen überschnitten -, entsprachen die Abstände
zwischen den Morden der klassischen Gesetzmäßigkeit einer sich
beschleunigenden Serie: Zwischen dem ersten und dem zweiten Mord
waren zwei bis drei Wochen vergangen, zwischen dem zweiten und
dritten lagen vielleicht nur wenige Tage, und der dritte und vierte
waren nach den Untersuchungsergebnissen des medizinischen
Sachverständigen möglicherweise nur durch einen oder zwei Tage
voneinander getrennt.
Die Zähne dieses Opfers boten das gleiche Bild wie
die von Darlene Smith: Man hatte sie in der Jugend vorbildlich
versorgt, in den letzten Jahren waren sie jedoch vernachlässigt
worden. Auch dieser Mund war also ein Opfer schwieriger
Verhältnisse. Sechs Zähne hatten Füllungen, einer jedoch, ein
unterer linker Schneidezahn, ließ zwei ungefüllte Löcher erkennen.
Eines davon war klein, aber das andere erstreckte sich von der
Zahnoberfläche bis weit in die Wurzelhöhle. Es war vermutlich
früher einmal gefüllt gewesen, aber dann war die Füllung
herausgefallen, sodass es für weitere Zerstörung anfälliger war als
je zuvor. Die Infektion hatte auf den Kiefer übergegriffen und am
Knochen einen großen Abszess verursacht. Als ich den Schädel am
Tatort zum ersten Mal in die Hand nahm, war mir aufgefallen, dass
das Loch im Zahn mit Watte ausgestopft war. Damals hatte ich zu Art
Bohanan gesagt: »Sie hatte Zahnschmerzen, als sie starb.« Die Watte
war nach meiner Überzeugung ein Indiz dafür, dass ein Zahnarzt eine
Wurzelbehandlung vornehmen wollte. Später stellte die Polizei
jedoch fest, dass sie sich selbst mit einer ganz besonderen,
verzweifelten Methode gegen die Schmerzen geholfen hatte: Die Watte
war mit Kokainpaste getränkt. Schlimme Zeiten, schlimme
Hilfsmittel.
Art Bohanan erlebte hier das Gleiche wie bei
Darlene Smith: Er untersuchte die verbliebene Hand und zog das
große Los. Die wenige noch verbliebene Haut war vom Wasser
durchweicht, halb zersetzt und unglaublich empfindlich. Art tränkte
sie mit Alkohol, um sie widerstandsfähiger zu machen und ihr das
Wasser zu entziehen. (Im umgekehrten Fall - wenn die Haut trocken
und steif gewesen wäre - hätte er sie in Weichspüler der Marke
Downy gelegt; ich bin überzeugt, dass die Hersteller von Downy
begeistert über die Mitteilung wären, dass ihr Produkt sogar
mumifizierter menschlicher Haut neue Weichheit und Aprilfrische
verleiht.) Von der mitgenommenen Hand konnte Art nur einen einzigen
Abdruck sichern, und der stammte noch nicht einmal von einem
Finger. Er erhielt das Muster von einem Teil der Handfläche knapp
unterhalb des kleinen Fingers.
Das war nicht viel, aber es reichte. Der
Teilabdruck der Handfläche passte zu einem Abdruck aus den Akten
der Polizei von Knoxville: Er gehörte zu Susan Stone, 30 Jahre alt,
1,73 Meter groß, Prostituierte und kokainabhängig. Auf die schiefe
Bahn war sie vor sieben Jahren geraten, nachdem sie einen
Drogendealer geheiratet hatte. Bevor sie Hure wurde, hatte sie in
mehreren bürgerlichen Berufen gearbeitet; noch sechs Monate vor
ihrem Tod war sie als Bürokraft bei einer Computerfirma tätig
gewesen. Wäre sie bei dieser Arbeit geblieben, hätte sie vermutlich
auch ihr Leben behalten.
Einen Serienmörder zu fangen ist eine
Mammutaufgabe. Es erfordert in allen Phasen ausgesprochene
Teamarbeit. Die Opfer zu identifizieren, Art und Zeitpunkt ihres
Todes festzustellen und die Indizienkette bis zum Zoomann zu
verfolgen erforderte die vereinten Kräfte der Polizeiermittler,
eines forensischen Pathologen, mehrerer forensischer Anthropologen,
eines Wissenschaftlers aus der Forschung und eines forensischen
Entomologen. Damit wurde der Fall zu einem Musterbeispiel für
derartige Teamarbeit. Ebenso schwierig ist es, einen Serienmörder
vor Gericht zu bringen, denn die dazu notwendigen Anstrengungen
setzen sich auch dann noch lange fort, wenn der Betreffende bereits
verhaftet und des Mordes angeklagt ist. Auch dafür kenne ich kein
besseres Beispiel als diesen Fall. Während meine Kollegen und ich
uns darum bemühten, aus den Leichen der ermordeten Frauen so viele
Indizien wie möglich zu gewinnen, bemühte sich die Polizei um
Indizien von Tom Huskey.
Zwei Wochen nach seiner Festnahme trugen die
Anstrengungen erste Früchte, und zwar auf spektakuläre Weise. Im
mehreren Verhören gestand Huskey, er habe die vier Frauen ermordet.
Die gespenstischen Einzelheiten hielt ein Tonbandgerät fest: Er
erzählte den Ermittlern, wie er eine Leiche (die von Patty
Anderson) unter einer Matratze versteckt und ihr Halskette und
Ohrringe abgenommen hatte - Gegenstände, die während der Festnahme
in seinem Zimmer gefunden wurden. Sein letztes Opfer war nach
Huskeys Worten eine Farbige, die groß, dünn und »hässlich« gewesen
sei. Er berichtete, sie habe Angst gehabt und eine Art »Anfall«
bekommen, sodass sie über den Boden »getitscht« sei. Sein Bericht
stimmte mit der Personenbeschreibung und der medizinischen
Vergangenheit von Patricia Johnson überein, der kürzlich
zugezogenen Chattanooga-Frau, deren Leiche mir für eine
Untersuchung zu frisch gewesen war.
Wenig später jedoch vollzog sich in den
Bandaufnahmen eine bizarre Wendung. Zu Beginn der Aufnahmen sprach
Thomas Huskey leise, fast demütig. Bald darauf jedoch änderte sich
sein Tonfall völlig: Er wurde laut, streitlustig und vulgär - es
war, als gehörte diese Stimme einem anderen, einer anderen
Persönlichkeit namens »Kyle«, Huskeys bösem Alter Ego. »Kyle«,
prahlte er, und nicht Thomas habe die Morde begangen. Dann mischte
sich eine dritte Stimme ein. Kultiviert und mit britischem Akzent
stellte sie sich als »Phillip Daxx« vor, Engländer, geboren in
Südafrika. Er erklärte, er habe in der Dreiheit der
Persönlichkeiten die Aufgabe, Tom vor dem bösen Kyle zu schützen.
In einem gewissen Sinn erschien die Beweislage gegen Huskey
eindeutig, aber die bizarren Aussagen der verschiedenen Stimmen
machten das Bild erheblich komplizierter. Außerdem arbeitete noch
ein weiterer wirksamer Faktor in Huskeys Sinn: der hartleibigste
Strafverteidiger, der mir jemals begegnet ist. Herb Moncier war in
ganz Tennessee berüchtigt für seine aggressive Taktik, für seinen
eisernen Willen, mit Zähnen und Klauen für seine Mandanten zu
kämpfen.
Moncier verlor keine Zeit und ging sofort in die
Offensive. Er stellte Antrag auf Antrag und versuchte so zu
erreichen, dass Huskeys Geständnis nicht verwertet wurde. Dann
versuchte er, einen anderen Verhandlungsort durchzusetzen: Er
behauptete, wegen der Berichterstattung in Zeitungen und Fernsehen
sei ein faires Verfahren für Huskey in Knoxville nicht
gewährleistet; er versuchte, Huskey für unzurechnungsfähig und
verhandlungsunfähig erklären zu lassen; er verlangte den Rücktritt
des zuständigen Richters; und er forderte mehr Zeit für weitere
psychiatrische Gutachten sowie mehr Geld für die
Verteidigung.
Im Sperrfeuer solcher Schachzüge kam der
Mordprozess zum Stillstand. Aber ich war viel zu beschäftigt, um
darauf zu achten oder mich darum zu kümmern, ob eine Jury den
Zoomann Huskey zu Leben oder Tod verurteilte. Mich nahm ein weitaus
dringenderer Kampf um Leben und Tod in Anspruch.
Seit Jahrzehnten hatte ich mich beruflich mit dem
Sterben beschäftigt. Es war, als hätte ich mir jedes Mal, wenn ich
fröhlich in das Reich des Todes schritt, einen liebenswürdigen
Mantel der Immunität umgehängt. Der Sensenmann und ich, wir hatten
ein Abkommen: Ich folgte ihm auf dem Fuße, und er ließ mich in
Ruhe. Es war eine enge, aber ausschließlich berufliche Beziehung.
Dann griff sie eines Tages ins Privatleben ein, und leider war er
dabei nicht hinter mir her. Er streckte die Hand nach dem Menschen
aus, der seit 40 Jahren an meiner Seite durchs Leben gegangen
war.
Im Herbst 1951 verdüsterte der Koreakrieg mit den
blutigen Schlachten von Bloody Bridge und Heartbreak Bridge die
Stimmung der meisten jungen Amerikaner, auch meine eigene. Ich
hatte gerade die University of Virginia verlassen und wartete auf
meinen Einberufungsbescheid zur Armee. Am 15. November meldete ich
mich entsprechend der Anordnung bei der Aufnahmestelle der
Streitkräfte in Martinsburg in West Virginia. Ich war einer vor
rund 200 Wehrpflichtigen, die an diesem Tag eingezogen wurden. Der
zuständige Feldwebel rief die ersten 15 Namen auf seiner Liste auf
- sie war alphabetisch sortiert, und ich war Nummer drei - und wies
uns den Marines zu. Mir rutschte das Herz in die Hose. Die Marines
entrichteten in Korea den höchsten Blutzoll, und ich glaubte, ich
müsse mit meinem Leben abschließen.
Dann mischte sich ein Leutnant ein. Er hatte in den
Aufnahmepapieren gelesen, dass ich von der University of Virginia
kam und Naturwissenschaften sowie Mathematik unterrichtet hatte.
Daraus schloss er wohl, ich müsse einigermaßen intelligent sein
(oder vielleicht erkannte er in mir auch nicht einen der »wenigen
guten Männer«, die bei den Marines gebraucht wurden), und erklärte
dem Feldwebel, er solle mich der U.S. Army zuweisen, und zwar in
der Kategorie »Wissenschaft und berufliche Qualifikation«. Der
Feldwebel erhob Einwände, aber der Leutnant bestand darauf. Als der
Feldwebel - vor einem ganzen Saal voller Wehrpflichtiger - weiter
diskutieren wollte, sagte der Leutnant schließlich: »Sergeant, das
ist ein Befehl.«
Ich war gerettet. Man schickte mich nicht auf die
koreanische Halbinsel, sondern ins Army Medical Research Lab oder
kurz AMRL, das medizinische Forschungsinstitut der Armee in Fort
Knox in Kentucky. Dort sollte ich an der Untersuchung von
Geräuschen und Vibrationen von Lastwagen, Panzern und Artillerie
mitarbeiten, von denen die Soldaten beim Einsatz solcher Geräte
beeinträchtigt wurden. Den Rest des Krieges überstand ich in einem
Umfeld mit Dutzenden von Ärzten, Wissenschaftlern, gut aussehenden
Krankenschwestern und ohrenbetäubend lauten, starken Maschinen. Es
war ein schönes Leben. Aber dann wurde es noch besser: Ich lernte
Lieutenant Owen kennen.
Im Pentagon vor den Toren Washingtons arbeitete
eine alte Freundin meiner Mutter: Colonel Hilda Lovett, leitende
Ernährungswissenschaftlerin für sämtliche Armeekrankenhäuser.
Colonel Lovett hatte meiner Mutter versprochen, sie werde sich um
mich kümmern, und sie hielt Wort. Als sie hörte, dass man mich dem
AMRL zugewiesen hatte, sah sie sich nach einer geeigneten Freundin
für mich um, und dabei blieb ihr Blick an einer intelligenten
jungen Ernährungswissenschaftlerin hängen, die gerade am Walter
Reed Army Hospital ihre Ausbildung absolvierte: First Lieutenant
Mary Anna Owen. Lieutenant Owen sollte nach Fort Lee in Virginia
abgeordnet werden; aber ob es nun ein glücklicher Zufall war oder
ob in den höchsten Etagen des Pentagon die Beziehungen gespielt
hatten, jedenfalls wurde ihr Befehl geändert, und sie kam
stattdessen nach Fort Knox. Auch ich erhielt einen Befehl: Ich
sollte den weiblichen Lieutenant im Empfang nehmen und dafür
sorgen, dass sie sich bei uns gut einlebte.
An dem verabredeten Nachmittag im Herbst 1952 fuhr
ich zu ihrer Wohnung. Wie immer war ich zu früh dran, und als ich
hinkam, war sie nicht zu Hause, sondern nebenan und unterhielt sich
mit einer Kollegin. Sie hörte mich klopfen und kam angerannt. Als
ich aber die Schritte hörte und mich umdrehte, sah ich nicht
Lieutenant Owen mit ihrer Armeeuniform im Laufschritt, sondern ein
Mädchen namens Ann, das in seiner roten Kleidung hervorragend
aussah. In diesem Augenblick, als sie in der roten Uniform auf mich
zugelaufen kam, dachte ich: Dieses Mädchen wirst du
heiraten.
Ich sollte Recht behalten. Ein knappes Jahr später
heirateten wir in meiner Heimatstadt in Virginia; bei uns waren
meine Mutter, mein Stiefvater, zahlreiche Freunde und Verwandte
sowie die Person, die das glückliche Zusammentreffen möglich
gemacht hatte: Colonel Hilda Lovett.
In den folgenden 40 Jahren bauten Ann und ich uns
unser gemeinsames Leben auf. Wir legten insgesamt vier akademische
Examina ab und bekamen drei gesunde Söhne. Unser Leben war nicht
immer einfach; zwischen Charlie, unserem ersten Kind, und Billy,
dem zweiten, hatte Ann fünf Fehlgeburten. Insgesamt jedoch waren
wir zufrieden, viel beschäftigt und glücklich.
Von Fort Knox zogen wir über Lexington,
Philadelphia, Nebraska und Kansas schließlich nach Tennessee. Zwölf
Jahre lang verbrachten wir den Sommer in South Dakota, wo ich tote
Arikara-Indianer ausgrub, während Ann den Sioux half, am Leben zu
bleiben - sie trug dazu bei, in dem Stamm mit gesünderer Ernährung
den Diabetes zu bekämpfen. Bevor es uns so recht bewusst wurde,
waren unsere Söhne erwachsen, und im August 1990 hatten wir unser
erstes Enkelkind. Ein neues Kapitel unseres Lebens begann. Aber es
endete nicht so, wie wir es uns gewünscht oder erwartet hätten. Ein
Jahr später wurde Ann krank.
Es begann mit Bauchschmerzen. Anfangs traten sie
nur zeitweise auf, dann ständig. Ann ging zum Hausarzt, und der
machte Röntgenaufnahmen. Dem Röntgenologen fiel ganz am Rand des
Bildes etwas auf, das wie ein Verschluss des unteren
Magen-Darm-Traktes aussah; also ging Ann ins Krankenhaus, trank
einen schrecklichen Barium-Milchshake und ließ sich fluoroskopisch
untersuchen. Der Pathologe erklärte uns, sie habe Krebs, und der
sei schon weit fortgeschritten: Er befand sich im Stadium III, das
heißt, er hatte vermutlich bereits auf andere Organe
übergegriffen.
Ann wollte dagegen ankämpfen. Mit ihren 60 Jahren
war sie noch relativ jung, und sie freute sich auf viele weitere
Enkelkinder. Deshalb entschloss sie sich zu einer aggressiven
Chemotherapie. Die Behandlung forderte schweren Tribut, aber Ann
hielt durch, bis es zu spät war. Im März 1993, 18 entsetzliche
Monate nach jenem ersten Besuch beim Hausarzt, war Ann tot.
Jahrzehntelang hatte ich jeden Tag mit dem Tod zu
tun gehabt, und doch war es mir immer gelungen, ungerührt über den
Tragödien zu stehen, die mich dabei umgaben. Ich war
Wissenschaftler; verweste Leichen und gebrochene Knochen - mein
Arbeitsmaterial - waren für mich gerichtsmedizinische Fälle,
wissenschaftliche Fragestellungen, intellektuelle Herausforderungen
und sonst gar nichts. Das heißt nicht, dass ich hartherzig gewesen
wäre, dass mich die Menschen nicht gerührt hätten, deren Angehörige
gestorben waren; es berührte mich sehr wohl, vor allem wenn es sich
um die Eltern ermordeter Kinder handelte. Aber das waren
vorübergehende Wellen des Mitgefühls. Als der Tod jetzt in meinem
eigenen Haus zuschlug, versank ich in einem Ozean der Trauer.
Der Fall des Zoomannes zog sich während Anns
Krankheit und darüber hinaus endlos hin. Ein Mordprozess war noch
weit und breit nicht in Sicht. Mittlerweile hatten weitere Frauen
ausgesagt, Huskey habe sie überfallen. Ende 1995 und Anfang 1996
stand er wegen mehrerer brutaler Vergewaltigungen vor Gericht, die
er 1991 und 1992 begangen hatte.
Moncier verlor den Prozess - es war eine der
wenigen hochkarätigen Niederlagen, an die ich mich bei ihm erinnern
kann. Huskey wurde in mehreren Fällen der Vergewaltigung, des
Raubes und der Entführung für schuldig befunden und erhielt für
drei Vergewaltigungen und einen Raubüberfall eine Gefängnisstrafe
von 66 Jahren. Der Mordprozess jedoch war durch Monciers ständige
Anträge und Schachzüge weiterhin blockiert. Erst im Januar 1999,
mehr als sechs Jahre nachdem die vier Frauen im Wald an der Cahaba
Lane ums Leben gekommen waren, begann die Auswahl der Geschworenen
für den Mordprozess gegen Huskey. Moncier hatte nicht durchsetzen
können, dass das Verfahren an einen anderen Ort verlegt wurde; er
konnte aber erreichen, dass Jurymitglieder von außerhalb eingesetzt
wurden, die vielleicht weniger durch die umfangreiche
Berichterstattung der Presse von Knoxville beeinflusst waren.
Anfangs wurden 340 potenzielle Geschworene benannt,
dann wurde die Zahl auf 60 eingegrenzt. Einige Kandidaten taten
alles, um von ihrer Pflicht als Geschworene entbunden zu werden,
andere waren ebenso eifrig darauf aus, das Amt anzutreten. Der
Staatsanwalt hatte erkennen lassen, dass er auf Todesstrafe
plädieren würde, und deshalb wurden Geschworene, die erklärte
Gegner der Todesstrafe waren, nicht zugelassen. Nachdem Anklage und
Verteidigung mehrere Wochen lang die Kandidaten befragt hatten,
mussten zwölf Geschworene und vier Stellvertreter die Koffer
packen. Sie wurden mit dem Bus nach Knoxville gebracht; in den
folgenden zwei Wochen würden sie ihre Tage im Gerichtssaal und die
Nächte in einem nicht näher bezeichneten Hotel verbringen.
Am 26. Januar 1999 kam der Prozess gegen den
Zoomann endlich in Gang. Dreh- und Angelpunkt der Anklage war
Huskeys eigenes Geständnis, bei dem er die Morde in allen
Einzelheiten beschrieben hatte. Aus seiner Aussage ging zwar
hervor, dass Huskey - oder »Kyle«, oder wie er sich auch sonst an
jenen Tagen vielleicht genannt hatte - die vier Frauen erdrosselt
hatte, das Tonband lieferte aber auch der Verteidigung sehr
wirksame Munition. Als die drei Stimmen und Namen aus den
Lautsprechern drangen, konnte man ohne weiteres glauben, dass der
Zoomann tatsächlich geistesgestört war. Um seine Behauptung der
Unzurechnungsfähigkeit zu untermauern, ließ Moncier zahlreiche
Zeugen auftreten, darunter einen Psychiater und einen Psychologen -
die übereinstimmend bestätigten, Huskey leide an einer krankhaften
Persönlichkeitsspaltung - sowie Wärter aus dem Bezirksgefängnis von
Knoxville, die ebenfalls bezeugten, sie hätten mit Huskeys Alter
Ego »Kyle« gesprochen. Seltsamerweise behauptete Huskeys Mutter
jedoch, sie wisse nichts von »Kyle« oder »Daxx«. Tom, so sagte sie,
sei immer nur Tom gewesen. Einen anderen habe es in ihm nie
gegeben.
Meine Untersuchung der gebrochenen Schulterblätter
wurde von der Verteidigung nicht in Frage gestellt. Eine ganz
andere Frage jedoch war die nach dem Zungenbein. Die
elektronenmikroskopischen Aufnahmen zeigten eindeutig, dass der
Knochen beschädigt war, aber Moncier bezweifelte meine
Schlussfolgerung, wonach dies auf Tod durch Erdrosseln hindeutete.
Dazu rief er einen eigenen Sachverständigen als Zeugen auf; der
Pathologe aus Atlanta war zwar Arzt, besaß aber keine entsprechende
Qualifikation. Er behauptete, ein Hirsch könne auf das Zungenbein
getreten sein und es zerbrochen haben; daraufhin bedrängte Moncier
mich mit der Frage, ob so etwas denkbar sei. Nun ja, denkbar ist
alles. Vielleicht war auch ein Raumschiff vom Mars darauf gelandet,
aber sowohl für die forensische Wissenschaft als auch für den
gesunden Menschenverstand gab es nur eine einzige zufrieden
stellende Erklärung: dass die Frau erdrosselt worden war.
Die eigentliche Gerichtsverhandlung dauerte zwei
Wochen, dann begannen die Beratungen der Geschworenen. Sie zogen
sich einen Tag hin, zwei Tage, drei Tage. Schließlich schickte die
Jury eine Nachricht: Sie seien übereinstimmend der Ansicht, dass
Huskey drei der vier Frauen umgebracht hatte; was den vierten Mord
anging, waren elf der zwölf Geschworenen ebenfalls von der Schuld
des Angeklagten überzeugt, der zwölfte hielt es jedoch für denkbar,
dass die Tat erst nach Huskeys Festnahme am 22. Oktober begangen
wurde. (Neal Haskell hatte nach seiner entomologischen Analyse zwar
den Todeszeitpunkt auf den 21. oder 22. Oktober verlegt, aber
Moncier war auf meiner beiläufigen Bemerkung herumgeritten,
Patricia Johnson sei erst »vor wenigen Tagen« gestorben.) Trotz
aller Argumente und dem Druck der anderen elf Geschworenen blieb
der zwölfte bei seinem Urteil.
Der wahre Stolperstein war aber am Ende nicht
Huskeys Schuld oder Unschuld, sondern sein Geisteszustand. Am
vierten Tag der Beratungen waren die zwölf Geschworenen in drei
Lager gespalten: Fünf hielten Huskey für gesund und waren der
Ansicht, man müsse ihn für die Morde zur Rechenschaft ziehen; vier
glaubten, er sei geistesgestört; die übrigen drei konnten sich
nicht entscheiden. Am fünften Tag schließlich teilten sie dem
Richter mit, die Verhandlungen seien hoffnungslos
festgefahren.
Nach sechs Jahren, einem Aufwand von einer halben
Million Dollar und vielen tausend Stunden Ermittlungsarbeit
erklärte der Richter Richard Baumgardner den Prozess für
gescheitert. Für Polizei, Ankläger und die Familien der Opfer war
es ein schwerer Schlag. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Im
Juli 2002 kam der Richter Richard Baumgardner einem weiteren Antrag
der Verteidigung nach und entschied, dass Huskeys Geständnisse im
Verfahren nicht mehr verwendet werden dürften. Während seiner
Verhöre hatte Huskey zweimal - am Tag seiner Festnahme und dann
noch einmal eine Woche später - einen Anwalt verlangt, aber die
Ermittler der Kreispolizei von Knoxville und die Polizei des
Staates Tennessee hatten das Verhör einfach fortgesetzt.
Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, ist
das erneute Verfahren gegen Tom Huskey wegen der vier Morde wieder
einmal ausgesetzt; ein Berufungsgericht hat einige frühere Urteile
wegen Vergewaltigung und Kidnapping aufgehoben und die Strafe auf
44 Jahre herabgesetzt. Kenner der Materie gehen davon aus, dass man
die Mordanklage ganz fallen lassen wird, wenn die Geständnisse
nicht mehr als Beweis verwendet werden dürfen. Die Räder der
Justiz, so scheint es, mahlen langsam... und manchmal bleiben sie
auch ganz stehen oder drehen sich sogar rückwärts. Andererseits
bleibt der Mann, der nach eigenem Geständnis vier Frauen umgebracht
hat, wenigstens vorerst hinter Gittern, und das noch für 40 Jahre.
Die einzigen Leichen, die in den zehn Jahren seit Huskeys Festnahme
noch aus dem Wald an der Cahaba Lane ans Licht kamen, waren die von
ein paar Eichhörnchen. Auf der Magnolia Avenue geht mittlerweile
eine neue Frauengeneration ihrem Gewerbe nach. Die Fluktuation ist
dort groß. Ich frage mich, wie viele von ihnen wohl schon einmal
vom Zoomann gehört haben, und ob ihnen klar ist, wie stark sie
gefährdet sind. Und ich frage mich, ob sie etwas dagegen tun
können, selbst wenn sie es wissen.