12
Die Morde des Zoomannes
Jedes Jahr im Oktober sind die Berge im Osten von Tennessee sechs berauschende Wochen lang wie herausgeputzt: Die Hartriegelbäume verfärben sich scharlachrot, der Ahorn leuchtet orange, die Tulpenbäume sind hellgelb und die Eichen zeigen alle Schattierungen von Rot und Braun.
Rund 15 Kilometer östlich der Innenstadt von Knoxville, nicht weit hinter der Brücke, auf der die Interstate 40 das grüne Wasser des Holston River überquert, prangen die Herbstfarben neben der Landstraße in einem dichten Laubgehölz. Die Bäume stehen am Ende der Cahaba Lane, einer kurzen Sackgasse, die einen knappen Kilometer parallel zu den östlichen Spuren der Schnellstraße verläuft. Zur Straße hin stehen eine Hand voll Häuser und Wohnwagen, und oben auf einer grasbewachsenen Böschung thront eine Kirche, die East Sunnyview Baptist Church. Weiter südlich, in einiger Entfernung von der Straße, windet sich zwischen den Bäumen ein kleiner Bach, der nur bei Regen Wasser führt.
Die Cahaba Lane endet vor einer riesigen Werbetafel mit der Aufschrift Comfort Inn, Free Breakfast, Guest Laundry. Getragen wird das Schild von fünf verrosteten T-Trägern. Zwischen zwei dieser Pfähle führt ein Fußweg bergauf über eine sanft ansteigende Böschung, die von leeren Bierdosen, Fastfood-Verpackungen, Eierschachteln, Schuhen und anderen Haushaltsoder Autoabfällen übersät ist. Auf dem Waldboden verteilen sich aber auch unzählige Eicheln, von denen ein großer Eichhörnchenbestand lebt.
Am 20. Oktober 1992 wanderte ein Jäger mit der Absicht, ein wenig zur Kontrolle der Eichhörnchenpopulation beizutragen, den Pfad hinauf in den Wald. Nachdem er ein Stück bergauf gegangen war, bemerkte er eine mitgenommene Matratze und eine verfallene Hundehütte, in die jemand eine Schaufensterpuppe gestopft hatte. Als er einen Teil des Abfalls mit dem Fuß zur Seite beförderte, sah er, dass die »Puppe« in Wirklichkeit ein Mensch war: eine blondierte, teilweise unbekleidete und sehr tote junge Frau, deren Hände mit orangefarbenem Bindfaden gefesselt waren. Sofort eilte der Jäger zum nächsten Telefon und rief die Polizei. Wenige Minuten später wimmelte es in der Sackgasse von Fahrzeugen der Kreis- und Gemeindepolizei von Knoxville. Ein Gemeindepolizist erkannte das Opfer: Es war Patricia Anderson, eine 32-jährige Weiße, deren Fall er untersuchte, seit sie vor knapp einer Woche verschwunden war.
Patty Anderson war für die Polizei keine Unbekannte. Sie arbeitete als Prostituierte, nahm regelmäßig Kokain und war einschlägig vorbestraft; außerdem sah sie gut aus und kleidete sich gern auffällig. Was von ihren Kolleginnen und Kunden kaum jemand wusste: Sie befand sich im Frühstadium einer Schwangerschaft. Einem Kreditvermittler hatte sie erzählt, sie wolle das Geld für eine Abtreibung zusammenkratzen, und ihre Geldnöte waren wahrscheinlich auch der Grund, warum sie ein so unglückseliges Ende genommen hatte.
Der medizinische Sachverständige des Kreises Knoxville konnte schnell bestätigen, was die Polizeibeamten auf Grund des zerschmetterten Gesichts, der Blutergüsse am Hals, der hervortretenden Augen und der bläulich verfärbten Gesichtshaut bereits vermutet hatten. Jemand hatte sie gefesselt, geschlagen und schließlich erdrosselt. Grausame Ironie: Nur wenige Schritte entfernt müssen Hunderte von Menschen vorübergekommen sein. Wenn sie um Hilfe gerufen hatte, gingen ihre Schreie vermutlich im Verkehrslärm unter.
Anderson war am 13. Oktober zum letzten Mal lebend gesehen worden. Am nächsten Tag hatte ihr Freund das Auto gefunden: Ihr Chevrolet Malibu stand vor einem Motel, das die Prostituierten von Knoxville häufig als Absteige benutzten. Danach war sie verschwunden. Den Polizisten, die sich in der Unterwelt der Stadt auskannten, fiel beim Anblick ihres übel zugerichteten Leichnams sofort ein Verdächtiger ein. Er legte sich häufig mit den Bordsteinschwalben an und hatte das zuvor schon mindestens zweimal an der Cahaba Lane getan. Der »Zoomann« wurde zur Fahndung ausgeschrieben.
Am 27. Februar, acht Monate vor dem Mord an Patty Anderson, hatte eine Prostituierte bei der Polizei angerufen und berichtet, ein Mann namens John habe sie um ihre Dienste gebeten und sei mit ihr zur Cahaba Lane gefahren. Dort habe er sie in den Wald geschleppt, ausgeraubt, vergewaltigt und verprügelt. Dann hatte er sie mitten im Winter nackt und gefesselt zurückgelassen. Es war ihr gelungen, sich zu befreien, und sie hatte von einem nahe gelegenen Schönheitssalon aus die Polizei angerufen.
Noch am gleichen Tag war Tom Pressley, ein Ermittler der Polizei von Knoxville, mit ihr zu einer Tatortbesichtigung in die Cahaba Lane gefahren. Am Ende der Straße war ein älterer Buicke Le Sabre geparkt. »Das ist er! Das ist das Auto!«, hatte die Frau gerufen.
Pressley stieg aus und ging zusammen mit der Frau in den Wald. Ungefähr nach 100 Metern fing sie an zu zittern. Sie packte Pressleys Arm, zeigte in eine Richtung und flüsterte: »Er ist da! Jetzt!« Den beiden bot sich eine schockierende Szene: Ein Mann stand mit herabgelassener Hose im Wald. Vor ihm kniete eine schluchzende Frau. Der Polizist zog die Waffe und schlich sich unbemerkt an.
Pressley befahl dem Mann, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde zu legen. Er legte ihm Handschellen an, führte ihn zu seinem Streifenwagen und forderte über Funk Verstärkung an. Einer der neu hinzukommenden Beamten fuhr die beiden Frauen zurück in die Stadt; Pressley nahm den Mann fest und erhob Anklage gegen ihn.
Der Mann, den sie mit heruntergelassenen Hosen erwischt hatten, war 32 Jahre alt und hieß Thomas Dee Huskey. Er wohnte bei seinen Eltern in einem feststehenden Wohnwagen in Pigeon Forge, einer Kleinstadt 40 Kilometer östlich von Knoxville. Die Anklage lautete auf Vergewaltigung und Raub. (Auf dem Boden des Le Sabre hatte man eine Geldbörse gefunden; sie gehörte der Frau, die Pressley zur Cahaba Lane geführt hatte.) Aber das Gericht tat die Aussage der ersten Frau als bedeutungslos ab; die zweite verschwand aus der Stadt und sagte nie gegen ihn aus. Nach einigen Monaten im Gefängnis wurde Tom Huskey freigelassen.
Wenige Wochen später wurde Huskey erneut aufgegriffen; dieses Mal hatte er eine verdeckte Ermittlerin der Polizei nach käuflichem Sex gefragt. Er wurde vorgeladen, erhielt eine Geldstrafe und ging wiederum als freier Mann. Aber er blieb ein Gefangener von Wollust und Aggressivität, und für beides waren Prostituierte seine Zielobjekte. Unter den Damen des Gewerbes hatte er schon bald einen schlechten Ruf und einen Spitznamen: der »Zoomann«. Er hatte zwei Jahre die Elefanten im Zoo von Knoxville versorgt, aber dann hatte man ihn entlassen, weil er Tiere missbraucht hatte. Sein früherer Beruf war jedoch nicht der einzige Grund für den Spitznamen: Während der Zeit, als er im Zoo arbeitete, und auch später nahm er die Prostituierten gern mit in einen leeren Viehstall, der sich unmittelbar neben den Tiergehegen befand. Gerüchten zufolge fesselte er dort die Frauen, um sie dann zu missbrauchen. Im Sommer 1992 hatte es sich im Rotlichtmilieu von Knoxville herumgesprochen: Hände weg vom Zoomann.
Aber offenbar wussten nicht alle darüber Bescheid: An einem Sonntagnachmittag im September holte Huskey erneut eine Prostituierte in sein Auto und fuhr mit ihr zur Cahaba Lane. Er versprach ihr 75 Dollar, fast das Doppelte des üblichen Lohns. Aber wie sie später der Polizei berichtete, fesselte ihr Huskey im Wald sofort die Hände auf dem Rücken; dann wurde sie geschlagen und vergewaltigt. Wie schon im Februar ließ er sein Opfer auch dieses Mal gefesselt und auf dem Boden liegend zurück.
Wenige Wochen später, am Abend nachdem man die Leiche von Patty Anderson gefunden hatte, wurde Tom Huskey in Pigeon Forge festgenommen; die Polizei hatte ihn in dem Wohnwagen aufgestöbert, den er mit seinen Eltern bewohnte. Als Beamte die Behausung durchsuchten, fanden sie in Huskeys Zimmer ein Stück orangefarbenen Bindfaden des gleichen Typs, mit dem auch Andersons Hände gefesselt waren. Außerdem entdeckten die Polizisten einen Ohrring, der später als ihr Eigentum identifiziert wurde, und daran hing ein blondes Haar. Da die Haarwurzel fehlte, konnte man daraus nicht genügend DNA für einen Abgleich mit dem Erbmaterial des Mordopfers gewinnen. Eine chemische Analyse im kriminaltechnischen Labor des FBI ergab jedoch, dass das Haar aus Huskeys Zimmer mit dem gleichen Mittel gefärbt war wie die Haare von Patty Anderson.
Im nächsten Schritt der Ermittlungen wurden die beiden Orte durchsucht, die Huskey bekanntermaßen mit den Frauen aufgesucht hatte: der Stall am Zoo von Knoxville und der Wald oberhalb der Cahaba Lane. In den letzten Monaten waren sechs oder acht Prostituierte aus der Gegend als vermisst gemeldet worden, und wenn Huskey eine davon umgebracht hatte - worauf alle Indizien hindeuteten -, kam er vielleicht auch in den anderen Fällen als Täter in Frage.
Wenn eine Prostituierte spurlos verschwindet, muss das natürlich nicht bedeuten, dass sie umgebracht wurde. Ich hatte schon mehrere Fälle bearbeitet, an denen solche Frauen beteiligt waren, und war dabei zu der Erkenntnis gelangt, dass viele von ihnen ein unstetes Nomadenleben führen. Einerseits sind sie häufig bestrebt, den Gesetzeshütern immer einen Schritt voraus zu sein, und andererseits können sie höhere Preise fordern, wenn sie in einer Gegend das neue Gesicht sind. Vielleicht hatten die verschwundenen Prostituierten sich also einfach fettere Weidegründe gesucht; vielleicht waren aber manche von ihnen auch tot und verwesten im Wald oder in dem alten Viehstall. Leider war der Stall während des Sommers abgebrannt, und man hatte das ganze Gelände eingeebnet. Zufall oder Brandstiftung? Jedenfalls waren alle Indizien, die es vielleicht einmal gegeben hatte - und wenn es auch bloß verbrannte Knochen waren -, längst weg. Damit blieb uns nur noch die Cahaba Lane.
Sechs Tage nachdem man die Leiche von Patty Anderson gefunden hatte, rief mich die Polizei des Kreises Knoxville an. Der Beamte erklärte, sie hätten bei der Cahaba Lane zwei weitere Frauenleichen entdeckt. Ob ich wohl vorbeikommen und mir die Sache ansehen könne? Ich stellte ein kleines Team zusammen: Bill Grant, der später als forensischer Anthropologe bei der US-Armee tätig war, sowie Lee Meadows und Murray Marks, beide heute Professoren an der University of Tennessee, die neben ihren Lehraufgaben an forensischen Fällen arbeiten und heute die Body Farm leiten. Gemeinsam quetschten wir uns in einen weißen Lieferwagen der Universität und machten uns nach Osten auf den Weg. In Knoxville lief ein Serienmörder frei herum, und seine Beute suchte er sich unter den am stärksten gefährdeten Frauen der Stadt. Unter Frauen, die sich ihren Lebensunterhalt nur dadurch verdienen konnten, dass sie ihren Körper an Fremde verkauften und damit ihr Leben aufs Spiel setzten.
Es war schon Jahre her, seit ich zum letzten Mal einen Serienmord bearbeitet hatte, aber ich konnte mich noch lebhaft daran erinnern, wie beunruhigend es war. Mitte der achtziger Jahre waren acht Frauen im Südosten der USA ermordet und an großen Landstraßen abgelegt worden; drei von ihnen hatte man in Tennessee gefunden. Vielfach hatten die Opfer rote Haare gehabt, und deshalb wurde der Fall unter dem Namen »Rotschopfmorde« bekannt. Auch hier handelte es sich in den meisten Fällen um Prostituierte; damals hatte ich erfahren, dass sie häufig von einer Stadt zur anderen wechseln, sobald ihre Einnahmen zurückgehen.
Die Rotschopfmorde wurden nie aufgeklärt. Der neue Fall, so hoffte ich, würde besser ausgehen. Ein wirklich gutes Ende gibt es in solchen Dingen nie, aber wenn wir Glück hatten und außerdem anständige Arbeit leisteten, würde es zumindest weniger Verbrechen und mehr Bestrafung geben.
Als ich den Lieferwagen am Ende der Cahaba Lane geparkt hatte, blickte ich beim Aussteigen zufällig zu Boden. Oben an meinem linken Hinterreifen klebte ein gebrauchtes Kondom. Die Ermittler führten uns in den Wald. Rund 50 Meter rechts von der Werbetafel, eigentlich noch in Sichtweite der Straße, lag die erste Leiche. Die Frau war wie Patty Anderson nur unvollständig bekleidet; die Unterhose war heruntergezogen, sodass Gesäß und Genitalien frei lagen. Es war eine Farbige, und die Leiche befand sich im ersten Stadium der Verwesung: kaum Verfärbungen, keine aufgedunsenen Stellen, geringfügige Insektenbesiedelung. Teilweise lag es daran, dass die Leiche noch relativ frisch war, teilweise aber auch an dem kalten Wetter. Schmeißfliegen haben etwas gegen Temperaturen unter zehn Grad.
»Diese Leiche ist zu frisch für mich«, sagte ich. »Das ist ein Fall für den medizinischen Sachverständigen.« Nachdem ich auf diese Weise um die Untersuchung herumgekommen war, achtete ich sorgfältig darauf, die Tote nicht zu berühren. Angesichts der Blutergüsse am Hals und des verzerrten Gesichts war ich mir jedoch ziemlich sicher, dass man sie erwürgt hatte.
Ein Polizeibeamter fragte, wie lange sie schon tot sei. Ohne lange über die Kälte der letzten Zeit nachzudenken, antwortete ich: »Nicht lange - vielleicht ein paar Tage.« Diese aus dem Ärmel geschüttelte Bemerkung, die von dem Polizisten notiert und in den Zeitungen wiedergegeben wurde, sollte mich in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder einholen.
Man führte mich zu der zweiten Leiche. Sie lag viel tiefer im Wald als die anderen: Von der Werbetafel musste man einen knappen Kilometer gehen, erst den Hügel hinauf und dann auf der anderen Seite ein Stück weit wieder hinunter. Im Gegensatz zu den beiden ersten Frauen war diese völlig nackt; etwa drei Meter entfernt lag ein Stück Unterwäsche, ein Seidenteddy. Es handelte sich ebenfalls um eine Farbige - die Rasse war an den Haaren und den entblößten Zähnen leicht zu erkennen. Die Leiche war bereits stark verwest. Die Haut hatte sich verfärbt, der Bauch war aufgedunsen, die Knochen des rechten Beins lagen frei, und die Füße fehlten. Arme und Beine waren weit gespreizt, und der Körper war mit dem Schritt gegen einen kleinen Baum gedrückt. Der Baumstamm schien unmittelbar aus den Geschlechtsteilen des nackten, verwesten Mordopfers zu wachsen, was das Verbrechen noch entsetzlicher und abartiger wirken ließ.
Als ich die Lage der Leiche genauer betrachtete, wurde mir klar, dass dies nicht der Schauplatz des Mordes war - die Frau war nicht an dieser Stelle umgebracht worden. Als ich mich umsah, fiel mir ein paar Meter höher an der Böschung ein dunkler, schmieriger Fleck auf: Dort waren flüchtige Fettsäuren aus der Leiche gesickert. Auch ein Teil der Haare lag dort. Offensichtlich hatte die Leiche sich ursprünglich an dieser Stelle befunden, und erst später hatte irgendjemand oder irgendetwas sie bewegt.
Beide Füße des Opfers fehlten. Sie waren an den Enden von Schien- und Wadenbein abgebissen, und auch der linke Oberschenkel war stark angenagt. Ich konnte mir den Ablauf ganz genau ausmalen: Nach dem Mord war etwa eine Woche vergangen; anschließend musste die Leiche für einen normalen Menschen schon ziemlich stark gestunken haben. Nach den Maßstäben eines Hundes hatte sie jedoch gerade erst einen interessanten Geruch angenommen.
Ich habe oft beobachtet, dass Hunde nicht gern auf einer freien Fläche fressen; sie haben Angst, von hinten überrascht zu werden. Am liebsten drücken sie sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm oder einen Felsen, sodass sich kein anderes Tier anschleichen kann. Wenn ein Hund von 20 oder 30 Kilo eine 50 Kilo schwere Leiche an eine Stelle schleppen will, wo er sie ungestört fressen kann, wird er sie nicht bergauf ziehen; er schnappt nach einem Fuß und zerrt sie bergab, sodass die Schwerkraft beim Transport mithilft. Unsere Leiche war dabei allerdings nicht weit gekommen, weil die Beine auf die rechte und linke Seite des Baumstammes gerutscht waren. Als der Köper dort festhing, war der Hund mit seinem Latein am Ende: Er musste sich damit zufrieden geben, den Oberschenkel abzunagen und die Füße wegzutragen.
Die Leiche lag mit dem Gesicht nach oben - wobei das Gesicht allerdings nicht mehr vorhanden war. Auch das weiche Gewebe am Hals fehlte, sodass die Halswirbel frei lagen; Schultern und Arme waren dagegen noch mehr oder weniger unversehrt.
Über das Fehlen des Gesichts wunderte ich mich nicht. Es gehört häufig zu den ersten Dingen, die unkenntlich werden. Schmeißfliegen legen ihre Eier gern an feuchten, dunklen Orten ab; Mund, Nase, Augen und Ohren sind dafür besonders geeignet. Das Gleiche gilt für Geschlechtsorgane und Darmausgang, sofern sie für die Fliegen zugänglich sind. So ungefähr die einzige Stelle, an der ein Schmeißfliegenweibchen seine Eier noch lieber ablegt als in einer Körperöffnung, ist eine blutende Wunde.
Während also damit zu rechnen war, dass das Gesicht fehlte, sah es mit dem Hals ganz anders aus, insbesondere da Schultern und Arme in gutem Zustand waren. Wir hatten es mit einem klassischen Fall von »differenzieller Verwesung« zu tun, und wenn mir so etwas begegnet, sehe ich darin immer ein besonderes Indiz. An der differenziellen Verwesung im Halsbereich konnte ich ablesen, dass dort irgendeine Verletzung stattgefunden hatte. Vielleicht hatte man ihr die Kehle durchgeschnitten - dann hätten die Fliegen sich auf die Wunde gestürzt -, vielleicht hatte der Angreifer sie aber auch erwürgt und mit den Fingernägeln die Haut geritzt, sodass sie blutete. Jedenfalls war der Hals aus irgendeinem Grund für die Schmeißfliegen und Maden genauso anziehend gewesen wie die natürlichen Körperöffnungen am Kopf.
Während ich die Leiche untersuchte, sprach mich Arthur Bohanan an, ein Kriminaltechniker der Polizei von Knoxville, der ebenfalls am Tatort war: »Bill, gib mir mal die Hand.« Ich arbeitete schon seit Jahren mit ihm zusammen und wusste, dass er es ganz wörtlich meinte: Ich sollte der Toten eine Hand abtrennen und ihm geben.
Art war bei der Polizei von Knoxville der führende Experte für Fingerabdrücke. Nach und nach erwarb er sich sogar den Ruf, im ganzen Land einer der besten Fachleute auf diesem Gebiet zu sein, und selbst das FBI fragte ihn gelegentlich um Rat. Er war nicht nur ein Techniker, der an Tatorten die Fingerabdrücke sicherte, sondern er suchte auch mit wissenschaftlichen Methoden nach neuen Verfahren, um Fingerabdrücke auf Oberflächen sichtbar zu machen, auf denen man sie bisher nicht sehen konnte, beispielsweise auf Stoff oder der Haut von Mordopfern. Im Laufe der Jahre hatte Art an zahlreichen Fällen von Kindesentführung und Mord mitgearbeitet, und dabei war ihm aufgefallen, dass die Fingerabdrücke von Kindern viel schneller verblassen als die von Erwachsenen - sie verschwinden beispielsweise aus dem Innenraum der Autos von Entführern. Warum? Das wollte Art herausfinden. Wie er dabei schließlich feststellte, fehlen in den Fingerabdrücken von Kindern vor der Pubertät bestimmte Fettsubstanzen, die den Abdrücken von Erwachsenen eine größere Widerstandsfähigkeit verleihen.
Für einen unbeteiligten Beobachter hätte Arts beiläufige Bitte »Gib mir mal die Hand« grausig geklungen, aber für einen Gerichtsmediziner war sie Routine. In Mordfällen ist es gang und gäbe, dass man Finger oder auch ganze Hände abschneidet und zur weiteren Untersuchung ins eigene Labor oder zum FBI schickt. Kennt man die Identität des Opfers nicht, muss man sich mit allen nur denkbaren Methoden bemühen, Fingerabdrücke zu sichern und den Namen herauszufinden. Am meisten steht bei Serienmorden wie diesem auf dem Spiel: Mindestens drei Frauen waren bereits tot, und wenn der Täter nach dem gleichen Schema wie die meisten anderen Mehrfachmörder vorging, würde es weitere Opfer geben, so lange er nicht gefasst war. Für zimperliche Eigentumsdispute blieb da keine Zeit.
Ich sah mir die Hände an. Die Haut war durchweicht und stand kurz davor, sich abzulösen, aber wie ich genau wusste, war das für Art kein Hinderungsgrund bei der Sicherung der Fingerabdrücke. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich die abgelöste Haut von Opfern sogar über die eigenen Finger zog, um die natürlichen Konturen wieder herzustellen und an die Abdrücke zu gelangen. Aus meiner Sicht lautete die entscheidende Frage: Lieferten die Hände irgendwelche Aufschlüsse über Todesart oder Todeszeitpunkt? Auch bei eingehender Untersuchung fand ich keine durch Verteidigung entstandenen Verletzungen - die Frau hatte also nicht versucht, eine Messerattacke abzuwehren; ebenso wenig fand ich Spuren von Fesseln oder sonstige Wunden.
Ich nahm ein Messer aus meinem Koffer und schnitt nacheinander beide Hände ab, um Arts Chancen auf einen brauchbaren Fingerabdruck zu verdoppeln. Ich ließ sie in einen Plastikbeutel fallen und gab sie ihm, der sich sofort auf den Weg ins Labor machte, um mit seiner Zauberei zu beginnen. Am unteren Ende des Fußweges blieb er noch einmal stehen und nahm Fingerabdrücke von der frischen Leiche neben der Straße. Diese Abdrücke steckte er in eine weitere kleine Plastiktüte.
Für meine Arbeit brauchte ich einen viel größeren Beutel. Wir breiteten auf der Erde neben dem Opfer einen »Katastrophensack« aus - eine schönfärberische Bezeichnung für einen Leichensack -, öffneten den Reißverschluss und legten die Leiche vorsichtig in die längliche Öffnung. Dann griffen wir zu sechst nach den Seiten und Ecken des Beutels, trugen sie aus dem Wald und legten sie in den Lieferwagen.
Als wir sie gerade einluden, erwachte der Polizeifunk krächzend zum Leben. Art Bohanan hatte eines der Opfer bereits identifiziert. Es handelte sich nicht um die Frau, deren Hände er mitgenommen hatte - das würde mehr Arbeit erfordern -, sondern um die frische Leiche. Sie hieß Patricia Ann Johnson, war 31 Jahre alt und eine Ureinwohnerin vom Stamm der Chattanooga; während der letzten Wochen hatte sie in einem Obdachlosenasyl in Knoxville gewohnt. Wegen Prostitution war sie nie festgenommen worden, aber man hatte sie öfter in Gegenden gesehen, in denen die Huren von Knoxville ihrer Tätigkeit nachgingen. Darüber hinaus teilte Art mir zwei weitere interessante Dinge mit: Sie war an Epilepsie erkrankt, und an ihrem Hals trug sie mehrere schwer erkennbare Fingerabdrücke; er hatte sie entdeckt, indem er die ganze Leiche mit Superkleber eingesprüht und dann mit einem Pulver bestäubt hatte, das im Ultraviolettlicht aufleuchtete. Leider waren die Abdrücke aber nicht genau genug - wer ihr den Hals zugedrückt hatte, war daran nicht zu erkennen.
Jetzt war ich an der Reihe: Ich musste an die Arbeit gehen und so viel wie möglich über das Opfer Nummer drei herausfinden.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kehrten wir zur Body Farm zurück. Nachdem ich den Lieferwagen rückwärts in die Einfahrt gesetzt hatte, holten wir den Sack heraus, legten ihn auf den Boden, öffneten den Reißverschluss und gingen daran, das weiche Gewebe zu entfernen.
Als wir die Leiche in den Beutel gelegt hatten, waren uns nur wenige Maden aufgefallen - es waren höchstens eine Hand voll. Jetzt jedoch kamen sie uns buchstäblich zu Zehntausenden entgegen. Ein Student fragte, wo sie plötzlich herkämen. War es möglich, dass eine große Zahl von ihnen während der 45-minütigen Fahrt zur Universität aus den Eiern geschlüpft war? Nein, erklärte ich. Sie waren nur ein wenig durcheinander, was die Tageszeit anging. Maden mögen kein Sonnenlicht, und wenn eine Leiche im Freien liegt, bohren sie sich tagsüber tief in die Haut. Als wir aber die Tote in dem undurchsichtigen Beutel verstaut hatten, glaubten die Maden, es sei Nacht geworden; deshalb waren sie herausgekommen, um an der Körperoberfläche zu fressen.
Eine weitere interessante, aber auch grausige Anmerkung zum Thema Maden: Kühle Witterung hält zwar die Schmeißfliegen am Boden fest, sie bringt aber ihren Larvennachwuchs, die Maden, keineswegs aus dem Konzept. Insekten gelten zwar immer als »Kaltblüter«, aber wenn Maden das menschliche Gewebe verdauen, entsteht durch den chemischen Abbau erstaunlich viel Wärme. Auf der Body Farm ist es an einem kalten Morgen durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, dass eine Ansammlung von Maden, die sich der Wärme wegen zusammengedrängt haben, weißen Dampf aufsteigen lässt. Wie mein Kollege Murray Marks festgestellt hat, haben es die Bewohner der Body Farm also da draußen nicht ganz so kalt und einsam, wie man vielleicht glauben könnte.
Um das Opfer Nummer drei zu identifizieren, brachten wir an einem Arm und einem Bein Metalletiketten an. Es war im Jahr 1992 unser 27. gerichtsmedizinischer Fall, die Leiche erhielt also die Nummer 92-27. Um das Alter abzuschätzen, untersuchten wir am Skelett mehrere Einzelheiten: die Schädelnähte, die Schlüsselbeine und das Becken. Die Beckenknochen waren dicht und glatt, eine deutliche Körnung fehlte; wir hatten es also mit einer ausgewachsenen, aber noch relativ jungen Frau zu tun, vermutlich im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Die Schlüsselbeine waren jedoch noch nicht ganz ausgereift: Ihr zum Brustbein weisendes Ende ist der letzte Knochenabschnitt, der vollständig mit dem Schaft verschmilzt; diese Epiphysen - so der Fachausdruck - waren nicht vollständig verknöchert, und das ließ darauf schließen, dass sie noch keine 25 war. Glücklicherweise konnten wir das Alter sogar noch genauer ermitteln. Die wissenschaftlichen Befunde eines meiner früheren Studenten aus Kansas legten die Vermutung nahe, dass es irgendwo zwischen 18 und 23 lag. Und schließlich war die Synchondrosis sphenooccipitalis - die Verbindungsstelle zwischen Hinterhauptsbein und Schädelbasis - nur teilweise geschlossen, auch das ein Hinweis, dass sie noch keine 25 war. Angesichts aller dieser Indizien war ich davon überzeugt, dass das Alter der Toten zwischen 20 und 25 lag.
Um die Körpergröße festzustellen, vermaßen wir den rechten Oberschenkelknochen: Er war 44,4 Zentimeter lang. Diesen Wert setzten wir in eine Formel ein, die in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und später von Dr. Richard Jantz, einem Kollegen an der University of Tennessee, verfeinert worden war. Richard, ein weltweit führender Experte für Skelettvermessung, hat eine riesige Datenbank mit derartigen Messwerten zusammengetragen und außerdem eine leistungsfähige Software entwickelt, mit der man aus wenigen einfachen Messungen das Geschlecht, die Rasse und den Körperbau eines Skeletts genau ermitteln kann. Auf diese Weise erfuhren wir, dass sie mit ihrem 44,4 Zentimeter langen Oberschenkelknochen insgesamt ungefähr 1,58 Meter groß gewesen war.
Nun kannten wir Geschlecht, Rasse, Alter und Körpergröße. Als Nächstes mussten wir nach Anhaltspunkten für die Todesursache suchen. Immer wieder untersuchten wir alles Mögliche. Es gab keine Verletzungsspuren - weder Knochenbrüche noch Schnittspuren oder andere Hinweise auf eine Verwundung. Allerdings besaßen wir nicht alle Knochen. Die Füße fehlten, aber die hätten uns vermutlich auch keine Aufschlüsse darüber geliefert, wie sie gestorben war. Noch ein anderer Knochen war nicht vorhanden, und zwar vermutlich der wichtigste des ganzen Körpers. Er gehörte in den Bereich, wo die differenzielle Verwesung schon beim ersten Anblick der Leiche meine besondere Aufmerksamkeit geweckt hatte. Es war das Zungenbein, der einzige Knochen, an dem man mit Sicherheit ablesen kann, ob ein Mensch erwürgt wurde. Dieser kleine, hufeisenförmige Knochen liegt frei über dem Kehlkopf und unter dem Unterkiefer. Man kann ihn spüren, wenn man den Kopf ein wenig in den Nacken legt, vorn nach der Luftröhre greift und die Hand dann hin und her bewegt. Da er so dünn ist und an einer so exponierten Stelle liegt, geht er häufig zu Bruch, wenn jemand erdrosselt wird.
Angesichts der Tatsache, dass die beiden späteren Opfer erwürgt wurden, erschien es mir unabdingbar, dass wir das Zungenbein fanden. Wir untersuchten sehr genau, ob es vielleicht unten in dem Leichensack lag, aber vergeblich. Dann rief ich meine vier Doktoranden zu mir und erklärte: »Ihr müsst noch einmal zur Cahaba Lane fahren und dieses Zungenbein finden.« Sie sahen mich bestürzt und zweifelnd an, aber ich mochte noch nicht aufgeben. Immer wieder war ich verblüfft gewesen, wie viele aufschlussreiche Indizien man am Schauplatz eines Mordes sichern kann, selbst wenn die Tat Monate oder Jahre zurückliegt: Knochen, Geschosse, Zähne, sogar Zehennägel. »Fangt da an, wo wir die Leiche gefunden haben«, sagte ich zu den Studenten, »und dann arbeitet euch bergauf bis zum Fundort der Haare vor. Es muss dort sein.« Den letzten Satz meinte ich in einem mehrfachen Sinn.
Ein paar Stunden später kamen die vier zurück und überreichten mir triumphierend das Zungenbein. Der Knochen war mit ziemlicher Sicherheit in der Nähe des ursprünglichen Tatortes herausgefallen (oder von einem Aasfresser herausgerissen worden), und dann hatten fallende Blätter ihn zugedeckt.
Das Zungenbein lag in drei Stücken vor, aber das musste nicht unbedingt bedeuten, dass es zerbrochen war; bei manchen Menschen entwickelt sich dieser Knochen nie zu einem durchgehenden, harten Bogen. So war es auch in diesem Fall: Die beiden seitlichen Stücke, »große Hörner« genannt, sind durch Knorpel mit dem bogenförmigen »Corpus« in der Mitte verbunden. Möglicherweise waren die Hörner abgebrochen, man konnte sich aber auch vorstellen, dass der Knorpel an diesen Stellen einfach bereits verwest war. Um zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu unterscheiden, musste ich mir die Sache genauer ansehen - und zwar viel, viel genauer.
Ich brachte die Stücke in ein Rasterelektronenmikroskopie-Labor der Ingenieurschule. Bei 20-facher Vergrößerung glaubte ich, am eigentlichen Knochen die Spuren einer Schädigung zu sehen: winzige gerade Bruchlinien und Zugbrüche an der Fläche, wo der Knorpel ansetzte. Ich fuhr näher heran. Bei 100-und 200-facher Vergrößerung trat die Schädigung deutlich zu Tage: zahlreiche kleine Brüche, die in einem kleinen, auseinander gerissenen Bereich des Knochens endeten.
Viel gab es nicht zu sehen, aber es war das entscheidende Indiz, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der Knorpel durch Gewalteinwirkung vom Knochen gerissen war - beispielsweise durch zwei kräftige Hände, die erbarmungslos zudrückten, bis sie sich nicht mehr wehrte, nicht mehr atmete, nicht mehr lebte. Dieser Augenblick war vermutlich irgendwann vor zehn bis zwanzig Tagen eingetreten. Zu meiner Schätzung der seit dem Tod verstrichenen Zeit gelangte ich, indem ich einen Zusammenhang zwischen zweierlei Beobachtungen herstellte: dem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung und den Tages- und Nachttemperaturen während der letzten Wochen.
Um den Todeszeitpunkt näher einzugrenzen, zog ich einen früheren Studenten hinzu: das Chemie-Ass Arpad Vass, der jetzt als Wissenschaftler am Oak Ridge National Laboratory arbeitete. Ihm schickte ich zwei Bodenproben: eine von der Stelle unter der Leiche, wo flüchtige Fettsäuren in die Erde gesickert waren, und als Kontrolle eine zweite, die wir rund fünf Meter vom Fundort der Leiche entfernt an der Böschung entnommen hatten. Im Fall Ramsburg - das war der Mann, den seine Frau erschossen und im Kriechkeller unter seinem Haus verscharrt hatte - waren Arpads Möglichkeiten wegen der langen Zeit seit dem Tod des Mannes eingeschränkt gewesen. Hier jedoch kamen die Umstände seiner Methode sehr entgegen. Er analysierte zunächst die Mengenverhältnisse der Verwesungsprodukte und bezog dann den Temperaturverlauf in die Rechnung mit ein. Dieses Mal gelangte er zu hervorragenden Ergebnissen: Nach seiner Berechnung lag der Tod der Frau 14 bis 17 Tage zurück. Nach dem Verwesungszustand hatte ich den Mord in die Zeit zwischen dem 6. und 16. Oktober verlegt; Arpad grenzte diesen Zeitraum auf den 12. bis 15. Oktober ein, ungefähr die gleiche Zeit, in der auch Patty Anderson verschwunden war.
Um sicherzugehen, hatten die Ermittler für alle Leichen eine zweite Schätzung für den Todeszeitpunkt eingeholt. Sie wurde von Neal Haskell vorgenommen, einem forensischen Insektenforscher, der einige Jahre zuvor in der Body Farm eine interessante Untersuchung angestellt hatte. Neal entwickelte eine kriminalistische Methode zum Nachstellen von Mordschauplätzen und benutzte dabei ein frisch geschlachtetes Schwein als Ersatz für das Mordopfer - ein »Körperdouble«, wie man in Hollywood sagt, wenn auch eines aus einer anderen biologischen Art. Er ließ der Natur ihren Lauf, bis der Schweinekadaver mit den gleichen Insekten besiedelt war wie das Mordopfer, und wollte damit die seit dem Tod vergangene Zeit auf einen bis zwei Tage genau eingrenzen. Um aber festzustellen, ob die toten Schweine einen echten Ersatz für menschliche Leichen darstellten, musste er die Tätigkeiten der Insekten bei beiden Lebewesen unmittelbar vergleichen. Und das war natürlich nur in der anthropologischen Forschungseinrichtung der University of Tennessee möglich. Ich freute mich, dass er dort seine Untersuchungen vornahm; wenn die Methode funktionierte - und die Arbeiten zeigten, dass dies zumindest für die ersten fünf Wochen nach dem Tod der Fall war -, konnte sie praktisch überall an Verbrechensschauplätzen von Nutzen sein.
Als man Neal zu den Tatorten an der Cahaba Lane rief, sammelte er sofort lebende Maden von den Leichen ein, um später zu beobachten, wie lange ihre Entwicklung zu ausgewachsenen Fliegen dauerte. Auf diese Weise stellen Insektenforscher fest, wann die Eier abgelegt wurden; es ist, als würde man von der Geburt eines Babys zurückrechnen und auf diese Weise feststellen, wann es gezeugt wurde.
Außerdem legte Neal mehrere große Schweinekadaver in den Wald an der Cahaba Lane; zur Bewachung der Stelle wurden Polizisten abgestellt, die auch in kurzen Abständen die Temperatur maßen. Aus der Zeit, bis die Maden aus den Leichen herangereift waren, und den Beobachtungen an den toten Schweinen berechnete er, dass die Schmeißfliegen irgendwann zwischen dem 9. und 13. Oktober die ersten Eier im Körper der toten Frau abgelegt hatten. Auf diese Weise kamen drei Wissenschaftler mit drei ganz unterschiedlichen Methoden dem tatsächlichen Zeitpunkt des Mordes schon sehr nahe.
Als Letztes schließlich musste ich herausfinden, wer die Tote war. Mit ein wenig Glück konnte ich das vielleicht aus ihrem eigenen Mund erfahren. Die Zähne waren ein Bilderbuchbeispiel für Kontraste. Einerseits war in diesen Mund viel sorgfältige Arbeit investiert worden: 14 Zähne waren mit Amalgam gefüllt. Andererseits jedoch faulte ein anderer Zahn buchstäblich vor sich hin. Die Karies hatte bereits den größten Teil der Zahnkrone zerstört und sich bis in die Wurzelhöhle ausgebreitet, sodass auch der Kieferknochen sich allmählich auflöste.
Solche krassen Unterschiede hatte ich auch früher schon gesehen, und zwar insbesondere bei Frauen. Sie waren fast immer ein Hinweis darauf, dass das Schicksal für die Betroffenen eine dramatische Wendung genommen hatte. Ein Mädchen wächst auf, zieht zu Hause aus und hat es dann schwer, seinen Weg in der Welt zu finden; eine ältere Frau wird entlassen, geschieden oder zur Witwe. Um was für einen Schicksalsschlag es sich auch handeln mag, immer muss sie an allen Ecken sparen, und dann wird Zahnbehandlung schnell zu einem Luxus, den sie sich nicht mehr leisten kann.
Aber auch wenn 92-27 es schwer gehabt hatte, musste es aus der Zeit, bevor es mit ihr den Bach hinunterging, zahnärztliche Röntgenaufnahmen mit ihrem Namen geben. Die konnten wir finden, das wusste ich, aber es würde unter Umständen eine Weile dauern. Glücklicherweise konnten wir uns die Mühe sparen.
Während meine Kollegen und ich uns eingehend mit Zähnen und Knochen, Chemikalien und Insekten beschäftigten, hatte der Fingerabdruckexperte Art Bohanan sich um die Hände gekümmert, die ich am Tatort in seinem Auftrag abgeschnitten hatte. Er konnte Abdrücke gewinnen, aber in den Polizeiakten gab es dazu keine Entsprechung; wenn die Frau also schon einmal festgenommen worden war, dann nicht in Knoxville. Auch unter den polizeilichen Personenbeschreibungen und Profilen von bekannten Prostituierten gab es nichts, das zu ihr passte. Die allgemeine Beschreibung jedoch - farbige Frau, 20 bis 25 Jahre alt, Größe 1,58 Meter - entsprach einer Vermisstenanzeige, welche die Schwester einer Frau kurz zuvor erstattet hatte. Die Vermisste war am 14. Oktober zum letzten Mal gesehen worden; sie hieß Darlene Smith, war farbig, 22 Jahre alt und 1,60 Meter groß - eine auffällige Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Skelettuntersuchung.
Aus der Anzeige der Schwester kannte Art die Adresse von Darlene Smith: eine Mietwohnung im Osten von Knoxville, nicht weit von einer Gegend, in der häufig Prostituierte tätig waren. Es war kein besonders angenehmes, aber ein recht billiges Stadtviertel. Die Schwester führte Art in die Wohnung der Vermissten und stöberte dort auch eine Kopie des Mietvertrages auf. Art besprühte das Papier mit Ninhydrin, einer Verbindung, die stark mit den Aminosäuren im Sekret menschlicher Fingerabdrücke reagiert. Im nächsten Augenblick hatte er ein Gewirr violetter Flecken und Fingerabdrücke vor sich.
Wie Art feststellen konnte, stammten die Abdrücke von zwei Paar Händen. Eines davon gehörte einem Mann - und zwar Darlenes Vermieter, dem Art am gleichen Abend die Fingerabdrücke abnahm. Die anderen stimmten mit den Händen überein, die ich an der Cahaba Lane von dem verwesten Leichnam abgetrennt hatte.
 
Am Morgen des 27. Oktober klingelte wieder das Telefon. Die Polizei hatte in dem Wald ein viertes Opfer gefunden. Ich schnappte mir Bill Grant und Lee Meadows, die mich auch am Tag zuvor begleitet hatten, sowie Emily Craig, die Doktorandin, die mir den Unterschied zwischen den Knien von Weißen und Negroiden beigebracht hatte. Gemeinsam fuhren wir wieder den mittlerweile vertrauten Weg zum Tatort.
Die vierte Leiche lag ungefähr 400 Meter rechts von der Werbetafel am Ufer des kleinen Wasserlaufes, der hier aus dem Wald hervorkam. Das breite Bachbett war den größten Teil des Jahres ausgetrocknet; jetzt floss hier aber ein Rinnsal von wenigen Zentimetern Tiefe.
Die Leiche war bereits weit gehend skelettiert; nur an den Beinen, am Gesäß sowie am rechten Arm und der Hand befand sich noch ein wenig Gewebe. Der nackte Schädel lag mit dem Gesicht nach oben im Eichenlaub und starrte uns mit blicklosen, vorwurfsvollen Augenhöhlen an. Die vollkommen freigelegten Wirbel waren nur von Blättern und Zweigen bedeckt. Der rechte Arm und die Hand fehlten - vermutlich hatte ein Hund sie abgebissen. Die linke Hand jedoch lag unter Schlamm und Wasser im Bachbett. Als ich um sie herum vorsichtig mit einer Maurerkelle grub, stellte ich zu meiner angenehmen Überraschung fest, dass das weiche Gewebe der Hand unversehrt war.
Wir verstauten die Überreste in einem Beutel und brachten sie ins Universitätsklinikum. Unsere erste Station war die Ladeplattform der Warenannahme des Krankenhauses; dort suchten wir mit einem tragbaren Röntgengerät nach Kugeln, einer Messerklinge und anderen Fremdkörpern, aus denen wir vielleicht Aufschlüsse gewinnen konnten. Aber von einigen Zahnfüllungen abgesehen, gab es am Skelett unseres Opfers Nummer 92-28 keine Metallgegenstände. Als Nächstes brachten wir die Leiche zur Body Farm; dort legten wir den Sack auf die Erde, öffneten ihn und begannen mit der Reinigung der Überreste.
Art Bohanan war von der Cahaba Lane hinter uns hergefahren. Ich wusste genau, was er vorhatte, aber dieses Mal würde er nicht viel Arbeitsmaterial vorfinden. Wir hatten nur eine Hand, und auch von der war nicht mehr viel übrig. Der Daumen fehlte ganz, ebenso die Hälfte von Zeige- und Mittelfinger. Praktisch als Einziges waren der Ringfinger, der kleine Finger und Teile der Handfläche übrig. Aber wenn jemand aus Bruchstücken einer verwesten Hand noch einen erkennbaren Fingerabdruck gewinnen konnte, dann Art.
Da es sich bei den Überresten praktisch nur noch um Skelettteile handelte, brauchte ich weniger Zeit als sonst, um die Knochen für die forensische Untersuchung zu reinigen. Schon am Tatort konnte ich erkennen, dass wir eine Frau vor uns hatten. Das Becken war weiblich wie aus dem Lehrbuch: breite Hüften, hoch liegende Kreuzdarmbeingelenke, eine breite Kerbe am Sitzbein und ein größerer Winkel der Schambeinbögen - alles Bestandteile jener geometrischen Verhältnisse, die es einem Kinderkopf gestatten, bei der Entbindung den Geburtskanal zu passieren. Der Schädel zeigte ebenfalls klassisch weibliche Merkmale. Die Augenhöhlen hatten scharfe Oberkanten, das Kinn verjüngte sich in der Mitte zu einer Spitze, das Schädelgewölbe war glatt und ohne Ansatzstellen für kräftige Muskeln.
Auch die Rasse war leicht dingfest zu machen. Auf dem Boden neben der Leiche hatten wir die Haare so gefunden, wie sie sich gelöst hatten: Sie waren hellbraun und leicht gewellt. Diese Haare und die Form des Mundes - mit Zähnen, die senkrecht angeordnet waren und nicht nach vorn vorsprangen - kennzeichneten die Frau eindeutig als Weiße.
Um das Alter abzuschätzen, sahen wir uns mehrere Knochenteile an: Oberkiefer, Schlüsselbeine und Becken. Wie bei 92-27, so waren die Beckenknochen auch bei 92-28 dicht, glatt und ohne ausgeprägte Körnung. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine ausgewachsene, aber noch junge Frau, vermutlich im Alter von Mitte 20 bis Mitte 30. Auch die Schlüsselbeine waren ausgereift: Ihre zum Brustbein weisenden Enden waren völlig mit dem Schaft verschmolzen, das heißt, sie war mindestens 25. Die Schädelnähte schließlich, einschließlich der Sutura intermaxillaris zwischen den Hälften des harten Gaumens, waren nicht völlig geschlossen. Die Gaumennaht verwächst in der Regel erst zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr, älter als 35 war die Frau also vermutlich nicht. Demnach konnte ich mit Sicherheit behaupten, dass das Alter zwischen 25 und 35 lag, aber eine genauere Aussage war schwierig.
Da dem Skelett nur ein Arm fehlte, sollte man annehmen, dass wir die Reste zur Bestimmung der Körpergröße nur auf einen Tisch legen und ein Maßband vom Kopf bis zur Ferse spannen mussten. In Wirklichkeit ist die Sache aber nicht ganz so einfach. Knorpel schrumpft nach dem Tod um mehrere Zentimeter ein und zerfällt. Außerdem war der Schädel nicht mit dem übrigen Skelett verbunden. Diese beiden Tatsachen boten die Gewähr, dass wir mit der Maßbandmethode sehr ungenaue Ergebnisse erhalten würden.
Stattdessen gingen wir genauso vor, als wenn wir nur einen Oberschenkelknochen gefunden hätten: Wir vermaßen seine Länge und rechneten dann hoch. Dieser Oberschenkel war mit 47,8 Zentimetern deutlich länger als der vorige. Die Körpergröße von 92-28 lag demnach zwischen 1,67 und 1,74 Meter.
Als Nächstes suchte ich nach Verletzungsspuren, die Auskunft über die Todesursache gegeben hätten. Aber obwohl wir stundenlang Blätter und Erde durchsiebten, fanden wir das Zungenbein leider nicht; deshalb konnte ich nicht feststellen, ob man die Frau erdrosselt hatte.
Ein anderer Knochen jedoch lieferte ganz buchstäblich ein schlagendes Indiz. Das linke Schulterblatt wies am unteren Ende einen großen Bruch auf. Eigentlich ist das Schulterblatt ein recht großer, kräftiger Knochen, und außerdem ist es durch die Muskulatur geschützt. Der Bruch konnte nur durch Gewalteinwirkung entstanden sein, beispielsweise durch einen Fußtritt mit einem Stiefel, einen Baseballschläger oder ein Vierkantholz.
An der Form der Bruchkanten konnte man erkennen, dass der Schlag von hinten gekommen war, und Spuren einer Heilung waren nicht vorhanden. Der Bruch war also zum Zeitpunkt des Todes oder unmittelbar davor entstanden. Mit anderen Worten: Die Frau war vermutlich um ihr Leben gelaufen, und dann hatte der Mörder sie eingeholt. Hinzu kam, dass sie barfuß gewesen war, während er mit Sicherheit Schuhe anhatte. Er hatte sie am Bachufer vornüber zu Boden gestoßen, sich auf sie gesetzt und sie getötet.
Je mehr Zeit seit dem Tod verstrichen ist, desto schwieriger wird es, ihre Dauer anhand der Skelettreste genau anzugeben. Da diese Leiche bereits fast völlig skelettiert war, musste sie, die man als Letzte gefunden hatte, als Erste gestorben sein. Berücksichtigte man außerdem die äußerst starke Verwesung, die Tagestemperaturen im September und Oktober sowie den Zustand des im Bach liegenden weichen Gewebes, das bekanntermaßen nur halb so schnell verwest, musste 92-28 nach meiner Schätzung schon vier bis acht Wochen tot gewesen sein, bevor sie gefunden wurde. Für den Todeszeitpunkt kam also eine recht lange Spanne in Frage, die fast den ganzen September umfasste. Ich hoffte, die Untersuchungen an Boden und Insekten würden bedeutend genauere Aussagen über den Zeitpunkt des Verbrechens ermöglichen.
Diese Hoffnungen erwiesen sich als begründet. Arpads Analyse der flüchtigen Fettsäuren im Boden unter der Leiche grenzte die seit dem Tod verstrichene Zeit auf 30 bis 37 Tage ein - demnach musste der Mord in der Woche zwischen dem 22. und 29. September geschehen sein. Neal Haskell gelangte mit seiner insektenkundlichen Untersuchung praktisch zu dem gleichen Ergebnis: Er nannte den 22. bis 26. September. Wenn sie tatsächlich Ende September gestorben war - in der Zeit, in der sich die Ergebnisse der drei unabhängigen, mit unterschiedlichen Methoden durchgeführten Analysen überschnitten -, entsprachen die Abstände zwischen den Morden der klassischen Gesetzmäßigkeit einer sich beschleunigenden Serie: Zwischen dem ersten und dem zweiten Mord waren zwei bis drei Wochen vergangen, zwischen dem zweiten und dritten lagen vielleicht nur wenige Tage, und der dritte und vierte waren nach den Untersuchungsergebnissen des medizinischen Sachverständigen möglicherweise nur durch einen oder zwei Tage voneinander getrennt.
Die Zähne dieses Opfers boten das gleiche Bild wie die von Darlene Smith: Man hatte sie in der Jugend vorbildlich versorgt, in den letzten Jahren waren sie jedoch vernachlässigt worden. Auch dieser Mund war also ein Opfer schwieriger Verhältnisse. Sechs Zähne hatten Füllungen, einer jedoch, ein unterer linker Schneidezahn, ließ zwei ungefüllte Löcher erkennen. Eines davon war klein, aber das andere erstreckte sich von der Zahnoberfläche bis weit in die Wurzelhöhle. Es war vermutlich früher einmal gefüllt gewesen, aber dann war die Füllung herausgefallen, sodass es für weitere Zerstörung anfälliger war als je zuvor. Die Infektion hatte auf den Kiefer übergegriffen und am Knochen einen großen Abszess verursacht. Als ich den Schädel am Tatort zum ersten Mal in die Hand nahm, war mir aufgefallen, dass das Loch im Zahn mit Watte ausgestopft war. Damals hatte ich zu Art Bohanan gesagt: »Sie hatte Zahnschmerzen, als sie starb.« Die Watte war nach meiner Überzeugung ein Indiz dafür, dass ein Zahnarzt eine Wurzelbehandlung vornehmen wollte. Später stellte die Polizei jedoch fest, dass sie sich selbst mit einer ganz besonderen, verzweifelten Methode gegen die Schmerzen geholfen hatte: Die Watte war mit Kokainpaste getränkt. Schlimme Zeiten, schlimme Hilfsmittel.
Art Bohanan erlebte hier das Gleiche wie bei Darlene Smith: Er untersuchte die verbliebene Hand und zog das große Los. Die wenige noch verbliebene Haut war vom Wasser durchweicht, halb zersetzt und unglaublich empfindlich. Art tränkte sie mit Alkohol, um sie widerstandsfähiger zu machen und ihr das Wasser zu entziehen. (Im umgekehrten Fall - wenn die Haut trocken und steif gewesen wäre - hätte er sie in Weichspüler der Marke Downy gelegt; ich bin überzeugt, dass die Hersteller von Downy begeistert über die Mitteilung wären, dass ihr Produkt sogar mumifizierter menschlicher Haut neue Weichheit und Aprilfrische verleiht.) Von der mitgenommenen Hand konnte Art nur einen einzigen Abdruck sichern, und der stammte noch nicht einmal von einem Finger. Er erhielt das Muster von einem Teil der Handfläche knapp unterhalb des kleinen Fingers.
Das war nicht viel, aber es reichte. Der Teilabdruck der Handfläche passte zu einem Abdruck aus den Akten der Polizei von Knoxville: Er gehörte zu Susan Stone, 30 Jahre alt, 1,73 Meter groß, Prostituierte und kokainabhängig. Auf die schiefe Bahn war sie vor sieben Jahren geraten, nachdem sie einen Drogendealer geheiratet hatte. Bevor sie Hure wurde, hatte sie in mehreren bürgerlichen Berufen gearbeitet; noch sechs Monate vor ihrem Tod war sie als Bürokraft bei einer Computerfirma tätig gewesen. Wäre sie bei dieser Arbeit geblieben, hätte sie vermutlich auch ihr Leben behalten.
 
Einen Serienmörder zu fangen ist eine Mammutaufgabe. Es erfordert in allen Phasen ausgesprochene Teamarbeit. Die Opfer zu identifizieren, Art und Zeitpunkt ihres Todes festzustellen und die Indizienkette bis zum Zoomann zu verfolgen erforderte die vereinten Kräfte der Polizeiermittler, eines forensischen Pathologen, mehrerer forensischer Anthropologen, eines Wissenschaftlers aus der Forschung und eines forensischen Entomologen. Damit wurde der Fall zu einem Musterbeispiel für derartige Teamarbeit. Ebenso schwierig ist es, einen Serienmörder vor Gericht zu bringen, denn die dazu notwendigen Anstrengungen setzen sich auch dann noch lange fort, wenn der Betreffende bereits verhaftet und des Mordes angeklagt ist. Auch dafür kenne ich kein besseres Beispiel als diesen Fall. Während meine Kollegen und ich uns darum bemühten, aus den Leichen der ermordeten Frauen so viele Indizien wie möglich zu gewinnen, bemühte sich die Polizei um Indizien von Tom Huskey.
Zwei Wochen nach seiner Festnahme trugen die Anstrengungen erste Früchte, und zwar auf spektakuläre Weise. Im mehreren Verhören gestand Huskey, er habe die vier Frauen ermordet. Die gespenstischen Einzelheiten hielt ein Tonbandgerät fest: Er erzählte den Ermittlern, wie er eine Leiche (die von Patty Anderson) unter einer Matratze versteckt und ihr Halskette und Ohrringe abgenommen hatte - Gegenstände, die während der Festnahme in seinem Zimmer gefunden wurden. Sein letztes Opfer war nach Huskeys Worten eine Farbige, die groß, dünn und »hässlich« gewesen sei. Er berichtete, sie habe Angst gehabt und eine Art »Anfall« bekommen, sodass sie über den Boden »getitscht« sei. Sein Bericht stimmte mit der Personenbeschreibung und der medizinischen Vergangenheit von Patricia Johnson überein, der kürzlich zugezogenen Chattanooga-Frau, deren Leiche mir für eine Untersuchung zu frisch gewesen war.
Wenig später jedoch vollzog sich in den Bandaufnahmen eine bizarre Wendung. Zu Beginn der Aufnahmen sprach Thomas Huskey leise, fast demütig. Bald darauf jedoch änderte sich sein Tonfall völlig: Er wurde laut, streitlustig und vulgär - es war, als gehörte diese Stimme einem anderen, einer anderen Persönlichkeit namens »Kyle«, Huskeys bösem Alter Ego. »Kyle«, prahlte er, und nicht Thomas habe die Morde begangen. Dann mischte sich eine dritte Stimme ein. Kultiviert und mit britischem Akzent stellte sie sich als »Phillip Daxx« vor, Engländer, geboren in Südafrika. Er erklärte, er habe in der Dreiheit der Persönlichkeiten die Aufgabe, Tom vor dem bösen Kyle zu schützen. In einem gewissen Sinn erschien die Beweislage gegen Huskey eindeutig, aber die bizarren Aussagen der verschiedenen Stimmen machten das Bild erheblich komplizierter. Außerdem arbeitete noch ein weiterer wirksamer Faktor in Huskeys Sinn: der hartleibigste Strafverteidiger, der mir jemals begegnet ist. Herb Moncier war in ganz Tennessee berüchtigt für seine aggressive Taktik, für seinen eisernen Willen, mit Zähnen und Klauen für seine Mandanten zu kämpfen.
Moncier verlor keine Zeit und ging sofort in die Offensive. Er stellte Antrag auf Antrag und versuchte so zu erreichen, dass Huskeys Geständnis nicht verwertet wurde. Dann versuchte er, einen anderen Verhandlungsort durchzusetzen: Er behauptete, wegen der Berichterstattung in Zeitungen und Fernsehen sei ein faires Verfahren für Huskey in Knoxville nicht gewährleistet; er versuchte, Huskey für unzurechnungsfähig und verhandlungsunfähig erklären zu lassen; er verlangte den Rücktritt des zuständigen Richters; und er forderte mehr Zeit für weitere psychiatrische Gutachten sowie mehr Geld für die Verteidigung.
Im Sperrfeuer solcher Schachzüge kam der Mordprozess zum Stillstand. Aber ich war viel zu beschäftigt, um darauf zu achten oder mich darum zu kümmern, ob eine Jury den Zoomann Huskey zu Leben oder Tod verurteilte. Mich nahm ein weitaus dringenderer Kampf um Leben und Tod in Anspruch.
Seit Jahrzehnten hatte ich mich beruflich mit dem Sterben beschäftigt. Es war, als hätte ich mir jedes Mal, wenn ich fröhlich in das Reich des Todes schritt, einen liebenswürdigen Mantel der Immunität umgehängt. Der Sensenmann und ich, wir hatten ein Abkommen: Ich folgte ihm auf dem Fuße, und er ließ mich in Ruhe. Es war eine enge, aber ausschließlich berufliche Beziehung. Dann griff sie eines Tages ins Privatleben ein, und leider war er dabei nicht hinter mir her. Er streckte die Hand nach dem Menschen aus, der seit 40 Jahren an meiner Seite durchs Leben gegangen war.
Im Herbst 1951 verdüsterte der Koreakrieg mit den blutigen Schlachten von Bloody Bridge und Heartbreak Bridge die Stimmung der meisten jungen Amerikaner, auch meine eigene. Ich hatte gerade die University of Virginia verlassen und wartete auf meinen Einberufungsbescheid zur Armee. Am 15. November meldete ich mich entsprechend der Anordnung bei der Aufnahmestelle der Streitkräfte in Martinsburg in West Virginia. Ich war einer vor rund 200 Wehrpflichtigen, die an diesem Tag eingezogen wurden. Der zuständige Feldwebel rief die ersten 15 Namen auf seiner Liste auf - sie war alphabetisch sortiert, und ich war Nummer drei - und wies uns den Marines zu. Mir rutschte das Herz in die Hose. Die Marines entrichteten in Korea den höchsten Blutzoll, und ich glaubte, ich müsse mit meinem Leben abschließen.
Dann mischte sich ein Leutnant ein. Er hatte in den Aufnahmepapieren gelesen, dass ich von der University of Virginia kam und Naturwissenschaften sowie Mathematik unterrichtet hatte. Daraus schloss er wohl, ich müsse einigermaßen intelligent sein (oder vielleicht erkannte er in mir auch nicht einen der »wenigen guten Männer«, die bei den Marines gebraucht wurden), und erklärte dem Feldwebel, er solle mich der U.S. Army zuweisen, und zwar in der Kategorie »Wissenschaft und berufliche Qualifikation«. Der Feldwebel erhob Einwände, aber der Leutnant bestand darauf. Als der Feldwebel - vor einem ganzen Saal voller Wehrpflichtiger - weiter diskutieren wollte, sagte der Leutnant schließlich: »Sergeant, das ist ein Befehl.«
Ich war gerettet. Man schickte mich nicht auf die koreanische Halbinsel, sondern ins Army Medical Research Lab oder kurz AMRL, das medizinische Forschungsinstitut der Armee in Fort Knox in Kentucky. Dort sollte ich an der Untersuchung von Geräuschen und Vibrationen von Lastwagen, Panzern und Artillerie mitarbeiten, von denen die Soldaten beim Einsatz solcher Geräte beeinträchtigt wurden. Den Rest des Krieges überstand ich in einem Umfeld mit Dutzenden von Ärzten, Wissenschaftlern, gut aussehenden Krankenschwestern und ohrenbetäubend lauten, starken Maschinen. Es war ein schönes Leben. Aber dann wurde es noch besser: Ich lernte Lieutenant Owen kennen.
Im Pentagon vor den Toren Washingtons arbeitete eine alte Freundin meiner Mutter: Colonel Hilda Lovett, leitende Ernährungswissenschaftlerin für sämtliche Armeekrankenhäuser. Colonel Lovett hatte meiner Mutter versprochen, sie werde sich um mich kümmern, und sie hielt Wort. Als sie hörte, dass man mich dem AMRL zugewiesen hatte, sah sie sich nach einer geeigneten Freundin für mich um, und dabei blieb ihr Blick an einer intelligenten jungen Ernährungswissenschaftlerin hängen, die gerade am Walter Reed Army Hospital ihre Ausbildung absolvierte: First Lieutenant Mary Anna Owen. Lieutenant Owen sollte nach Fort Lee in Virginia abgeordnet werden; aber ob es nun ein glücklicher Zufall war oder ob in den höchsten Etagen des Pentagon die Beziehungen gespielt hatten, jedenfalls wurde ihr Befehl geändert, und sie kam stattdessen nach Fort Knox. Auch ich erhielt einen Befehl: Ich sollte den weiblichen Lieutenant im Empfang nehmen und dafür sorgen, dass sie sich bei uns gut einlebte.
An dem verabredeten Nachmittag im Herbst 1952 fuhr ich zu ihrer Wohnung. Wie immer war ich zu früh dran, und als ich hinkam, war sie nicht zu Hause, sondern nebenan und unterhielt sich mit einer Kollegin. Sie hörte mich klopfen und kam angerannt. Als ich aber die Schritte hörte und mich umdrehte, sah ich nicht Lieutenant Owen mit ihrer Armeeuniform im Laufschritt, sondern ein Mädchen namens Ann, das in seiner roten Kleidung hervorragend aussah. In diesem Augenblick, als sie in der roten Uniform auf mich zugelaufen kam, dachte ich: Dieses Mädchen wirst du heiraten.
Ich sollte Recht behalten. Ein knappes Jahr später heirateten wir in meiner Heimatstadt in Virginia; bei uns waren meine Mutter, mein Stiefvater, zahlreiche Freunde und Verwandte sowie die Person, die das glückliche Zusammentreffen möglich gemacht hatte: Colonel Hilda Lovett.
In den folgenden 40 Jahren bauten Ann und ich uns unser gemeinsames Leben auf. Wir legten insgesamt vier akademische Examina ab und bekamen drei gesunde Söhne. Unser Leben war nicht immer einfach; zwischen Charlie, unserem ersten Kind, und Billy, dem zweiten, hatte Ann fünf Fehlgeburten. Insgesamt jedoch waren wir zufrieden, viel beschäftigt und glücklich.
Von Fort Knox zogen wir über Lexington, Philadelphia, Nebraska und Kansas schließlich nach Tennessee. Zwölf Jahre lang verbrachten wir den Sommer in South Dakota, wo ich tote Arikara-Indianer ausgrub, während Ann den Sioux half, am Leben zu bleiben - sie trug dazu bei, in dem Stamm mit gesünderer Ernährung den Diabetes zu bekämpfen. Bevor es uns so recht bewusst wurde, waren unsere Söhne erwachsen, und im August 1990 hatten wir unser erstes Enkelkind. Ein neues Kapitel unseres Lebens begann. Aber es endete nicht so, wie wir es uns gewünscht oder erwartet hätten. Ein Jahr später wurde Ann krank.
Es begann mit Bauchschmerzen. Anfangs traten sie nur zeitweise auf, dann ständig. Ann ging zum Hausarzt, und der machte Röntgenaufnahmen. Dem Röntgenologen fiel ganz am Rand des Bildes etwas auf, das wie ein Verschluss des unteren Magen-Darm-Traktes aussah; also ging Ann ins Krankenhaus, trank einen schrecklichen Barium-Milchshake und ließ sich fluoroskopisch untersuchen. Der Pathologe erklärte uns, sie habe Krebs, und der sei schon weit fortgeschritten: Er befand sich im Stadium III, das heißt, er hatte vermutlich bereits auf andere Organe übergegriffen.
Ann wollte dagegen ankämpfen. Mit ihren 60 Jahren war sie noch relativ jung, und sie freute sich auf viele weitere Enkelkinder. Deshalb entschloss sie sich zu einer aggressiven Chemotherapie. Die Behandlung forderte schweren Tribut, aber Ann hielt durch, bis es zu spät war. Im März 1993, 18 entsetzliche Monate nach jenem ersten Besuch beim Hausarzt, war Ann tot.
Jahrzehntelang hatte ich jeden Tag mit dem Tod zu tun gehabt, und doch war es mir immer gelungen, ungerührt über den Tragödien zu stehen, die mich dabei umgaben. Ich war Wissenschaftler; verweste Leichen und gebrochene Knochen - mein Arbeitsmaterial - waren für mich gerichtsmedizinische Fälle, wissenschaftliche Fragestellungen, intellektuelle Herausforderungen und sonst gar nichts. Das heißt nicht, dass ich hartherzig gewesen wäre, dass mich die Menschen nicht gerührt hätten, deren Angehörige gestorben waren; es berührte mich sehr wohl, vor allem wenn es sich um die Eltern ermordeter Kinder handelte. Aber das waren vorübergehende Wellen des Mitgefühls. Als der Tod jetzt in meinem eigenen Haus zuschlug, versank ich in einem Ozean der Trauer.
 
Der Fall des Zoomannes zog sich während Anns Krankheit und darüber hinaus endlos hin. Ein Mordprozess war noch weit und breit nicht in Sicht. Mittlerweile hatten weitere Frauen ausgesagt, Huskey habe sie überfallen. Ende 1995 und Anfang 1996 stand er wegen mehrerer brutaler Vergewaltigungen vor Gericht, die er 1991 und 1992 begangen hatte.
Moncier verlor den Prozess - es war eine der wenigen hochkarätigen Niederlagen, an die ich mich bei ihm erinnern kann. Huskey wurde in mehreren Fällen der Vergewaltigung, des Raubes und der Entführung für schuldig befunden und erhielt für drei Vergewaltigungen und einen Raubüberfall eine Gefängnisstrafe von 66 Jahren. Der Mordprozess jedoch war durch Monciers ständige Anträge und Schachzüge weiterhin blockiert. Erst im Januar 1999, mehr als sechs Jahre nachdem die vier Frauen im Wald an der Cahaba Lane ums Leben gekommen waren, begann die Auswahl der Geschworenen für den Mordprozess gegen Huskey. Moncier hatte nicht durchsetzen können, dass das Verfahren an einen anderen Ort verlegt wurde; er konnte aber erreichen, dass Jurymitglieder von außerhalb eingesetzt wurden, die vielleicht weniger durch die umfangreiche Berichterstattung der Presse von Knoxville beeinflusst waren.
Anfangs wurden 340 potenzielle Geschworene benannt, dann wurde die Zahl auf 60 eingegrenzt. Einige Kandidaten taten alles, um von ihrer Pflicht als Geschworene entbunden zu werden, andere waren ebenso eifrig darauf aus, das Amt anzutreten. Der Staatsanwalt hatte erkennen lassen, dass er auf Todesstrafe plädieren würde, und deshalb wurden Geschworene, die erklärte Gegner der Todesstrafe waren, nicht zugelassen. Nachdem Anklage und Verteidigung mehrere Wochen lang die Kandidaten befragt hatten, mussten zwölf Geschworene und vier Stellvertreter die Koffer packen. Sie wurden mit dem Bus nach Knoxville gebracht; in den folgenden zwei Wochen würden sie ihre Tage im Gerichtssaal und die Nächte in einem nicht näher bezeichneten Hotel verbringen.
Am 26. Januar 1999 kam der Prozess gegen den Zoomann endlich in Gang. Dreh- und Angelpunkt der Anklage war Huskeys eigenes Geständnis, bei dem er die Morde in allen Einzelheiten beschrieben hatte. Aus seiner Aussage ging zwar hervor, dass Huskey - oder »Kyle«, oder wie er sich auch sonst an jenen Tagen vielleicht genannt hatte - die vier Frauen erdrosselt hatte, das Tonband lieferte aber auch der Verteidigung sehr wirksame Munition. Als die drei Stimmen und Namen aus den Lautsprechern drangen, konnte man ohne weiteres glauben, dass der Zoomann tatsächlich geistesgestört war. Um seine Behauptung der Unzurechnungsfähigkeit zu untermauern, ließ Moncier zahlreiche Zeugen auftreten, darunter einen Psychiater und einen Psychologen - die übereinstimmend bestätigten, Huskey leide an einer krankhaften Persönlichkeitsspaltung - sowie Wärter aus dem Bezirksgefängnis von Knoxville, die ebenfalls bezeugten, sie hätten mit Huskeys Alter Ego »Kyle« gesprochen. Seltsamerweise behauptete Huskeys Mutter jedoch, sie wisse nichts von »Kyle« oder »Daxx«. Tom, so sagte sie, sei immer nur Tom gewesen. Einen anderen habe es in ihm nie gegeben.
Meine Untersuchung der gebrochenen Schulterblätter wurde von der Verteidigung nicht in Frage gestellt. Eine ganz andere Frage jedoch war die nach dem Zungenbein. Die elektronenmikroskopischen Aufnahmen zeigten eindeutig, dass der Knochen beschädigt war, aber Moncier bezweifelte meine Schlussfolgerung, wonach dies auf Tod durch Erdrosseln hindeutete. Dazu rief er einen eigenen Sachverständigen als Zeugen auf; der Pathologe aus Atlanta war zwar Arzt, besaß aber keine entsprechende Qualifikation. Er behauptete, ein Hirsch könne auf das Zungenbein getreten sein und es zerbrochen haben; daraufhin bedrängte Moncier mich mit der Frage, ob so etwas denkbar sei. Nun ja, denkbar ist alles. Vielleicht war auch ein Raumschiff vom Mars darauf gelandet, aber sowohl für die forensische Wissenschaft als auch für den gesunden Menschenverstand gab es nur eine einzige zufrieden stellende Erklärung: dass die Frau erdrosselt worden war.
Die eigentliche Gerichtsverhandlung dauerte zwei Wochen, dann begannen die Beratungen der Geschworenen. Sie zogen sich einen Tag hin, zwei Tage, drei Tage. Schließlich schickte die Jury eine Nachricht: Sie seien übereinstimmend der Ansicht, dass Huskey drei der vier Frauen umgebracht hatte; was den vierten Mord anging, waren elf der zwölf Geschworenen ebenfalls von der Schuld des Angeklagten überzeugt, der zwölfte hielt es jedoch für denkbar, dass die Tat erst nach Huskeys Festnahme am 22. Oktober begangen wurde. (Neal Haskell hatte nach seiner entomologischen Analyse zwar den Todeszeitpunkt auf den 21. oder 22. Oktober verlegt, aber Moncier war auf meiner beiläufigen Bemerkung herumgeritten, Patricia Johnson sei erst »vor wenigen Tagen« gestorben.) Trotz aller Argumente und dem Druck der anderen elf Geschworenen blieb der zwölfte bei seinem Urteil.
Der wahre Stolperstein war aber am Ende nicht Huskeys Schuld oder Unschuld, sondern sein Geisteszustand. Am vierten Tag der Beratungen waren die zwölf Geschworenen in drei Lager gespalten: Fünf hielten Huskey für gesund und waren der Ansicht, man müsse ihn für die Morde zur Rechenschaft ziehen; vier glaubten, er sei geistesgestört; die übrigen drei konnten sich nicht entscheiden. Am fünften Tag schließlich teilten sie dem Richter mit, die Verhandlungen seien hoffnungslos festgefahren.
Nach sechs Jahren, einem Aufwand von einer halben Million Dollar und vielen tausend Stunden Ermittlungsarbeit erklärte der Richter Richard Baumgardner den Prozess für gescheitert. Für Polizei, Ankläger und die Familien der Opfer war es ein schwerer Schlag. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Im Juli 2002 kam der Richter Richard Baumgardner einem weiteren Antrag der Verteidigung nach und entschied, dass Huskeys Geständnisse im Verfahren nicht mehr verwendet werden dürften. Während seiner Verhöre hatte Huskey zweimal - am Tag seiner Festnahme und dann noch einmal eine Woche später - einen Anwalt verlangt, aber die Ermittler der Kreispolizei von Knoxville und die Polizei des Staates Tennessee hatten das Verhör einfach fortgesetzt.
Zu dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, ist das erneute Verfahren gegen Tom Huskey wegen der vier Morde wieder einmal ausgesetzt; ein Berufungsgericht hat einige frühere Urteile wegen Vergewaltigung und Kidnapping aufgehoben und die Strafe auf 44 Jahre herabgesetzt. Kenner der Materie gehen davon aus, dass man die Mordanklage ganz fallen lassen wird, wenn die Geständnisse nicht mehr als Beweis verwendet werden dürfen. Die Räder der Justiz, so scheint es, mahlen langsam... und manchmal bleiben sie auch ganz stehen oder drehen sich sogar rückwärts. Andererseits bleibt der Mann, der nach eigenem Geständnis vier Frauen umgebracht hat, wenigstens vorerst hinter Gittern, und das noch für 40 Jahre. Die einzigen Leichen, die in den zehn Jahren seit Huskeys Festnahme noch aus dem Wald an der Cahaba Lane ans Licht kamen, waren die von ein paar Eichhörnchen. Auf der Magnolia Avenue geht mittlerweile eine neue Frauengeneration ihrem Gewerbe nach. Die Fluktuation ist dort groß. Ich frage mich, wie viele von ihnen wohl schon einmal vom Zoomann gehört haben, und ob ihnen klar ist, wie stark sie gefährdet sind. Und ich frage mich, ob sie etwas dagegen tun können, selbst wenn sie es wissen.