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Der blutrünstige Nutznießer
Wenn es von der forensischen Anthropologie
abhängt, wie der Prozess um ein Kapitalverbrechen ausgeht, steht
man unter ungeheuerem Druck. Einerseits besteht die Gefahr, dass
man dazu beiträgt, einen Unschuldigen in die Gaskammer zu schicken,
andererseits ist es aber auch durchaus möglich, dass ein brutaler
Mörder auf freien Fuß gesetzt wird. Dieses große Dilemma erlebte
ich vor kurzem hautnah, als ein Distriktsstaatsanwalt mich um
Mitwirkung bei der Verfolgung der kaltblütigsten Morde bat, mit
denen ich es jemals zu tun hatte.
Der Anruf kam im Mai 1999 von der Behörde des
Distriktsanwalts in Magnolia im Bundesstaat Mississippi, dem
Verwaltungssitz des Kreises Pike. In dem kleinen Nachbarort Summit
hatte man eine junge Familie brutal ermordet. Der 26-jährige Mann
und seine 23-jährige Frau waren jeweils mit mehreren Messerstichen
getötet worden, die kleine Tochter hatte man erdrosselt und zuvor
möglicherweise missbraucht. Am 16. Dezember 1993 waren die
blutigen, stark verwesten Leichen in einer Hütte außerhalb der
Stadt entdeckt worden. Der Strafverfolger, der mich anrief - ein
Distriktsanwaltsassistent namens Bill Goodwin -, wusste bereits,
dass die Familie im Herbst ermordet worden war, aber wann genau,
war nicht klar. Wie lange waren die drei Menschen bereits tot, als
man sie entdeckte? Das war die Viertelmillion-Dollar-Frage.
Eine genaue Abschätzung der Zeit, die seit dem Tod
vergangen ist, kann einen Mordfall in der einen oder anderen
Richtung entscheiden. Das hatte sich im Fall des Zoomannes auf eine
Weise gezeigt, die ich nie vergessen und vielleicht nie überwinden
werde. Drei der vier Opfer waren eindeutig getötet worden, als der
Verdächtige, »Zoomann« Huskey, auf freiem Fuß war. Der Zeitpunkt
des vierten Todesfalls jedoch - Patricia Johnson, deren Leiche nach
meiner eigenen Einschätzung »für mich zu frisch« war, sodass ich
sie dem medizinischen Sachverständigen übergeben hatte - wurde zum
Gegenstand hitziger Diskussionen. Wenn Johnson getötet worden war,
nachdem man Huskey festgenommen hatte, verfügte er zumindest für
einen der vier Morde an der Cahaba Lane über ein hieb- und
stichfestes Alibi, auch wenn sein eigenes Geständnis und Neal
Haskells insektenkundliche Analyse das Gegenteil besagten.
Im Mai 1999 arbeitete ich bereits seit über 40
Jahren an Kriminalfällen, und ungefähr seit der Hälfte dieser Zeit
erforschte ich die Verwesung. Seit 1981, als unsere
Forschungsarbeiten auf der Body Farm mit Bill Rodriguez’
bahnbrechender insektenkundlicher Studie begonnen hatten, waren wir
der Frage, wie ein Körper verwest, in Dutzenden von Fällen und
unter sehr unterschiedlichen Bedingungen nachgegangen. Wir hatten
Leichen im Wald versteckt, in den Kofferraum oder auf den Rücksitz
von Autos gelegt, in flachen Gruben verscharrt oder in Wasser
getaucht. Immer untersuchten und dokumentierten wir, was mit ihnen
vorging, vom Augenblick des Todes bis zu der Zeit nach Wochen oder
Monaten, wenn außer Knochen nichts mehr übrig war. Wir hielten die
Vorgänge und den zeitlichen Ablauf bei der Verwesung eines Menschen
fest und bauten so eine Datenbank für verschiedene Zeiträume seit
dem Tod auf - die erste und einzige dieser Art auf der ganzen Welt.
Mit den vielen Daten verfolgte ich ein ganz einfaches Ziel: Wenn
ein echtes Mordopfer unter beliebigen Bedingungen und in einem
beliebigen Verwesungszustand gefunden wurde, wollte ich der Polizei
eine wissenschaftlich begründete Auskunft darüber geben können,
wann der betreffende Mensch getötet worden war.
Mittlerweile hatten meine Doktoranden und ich auf
der Body Farm die Verwesung von mehr als 300 Leichen beobachtet.
Als nun Bill Goodwin anrief und mich in einem Fall um Hilfe bat, in
dem der Todeszeitpunkt von entscheidender Bedeutung war, erwiderte
ich ziemlich selbstsicher: »Ich glaube, ich kann Ihnen
helfen.«
Was dann folgte, erschütterte mein Selbstvertrauen
und stellte meine Glaubwürdigkeit in Frage. Die Vorgänge im
Gerichtssaal waren selbst für mich eine Überraschung.
Die erwachsenen Opfer in diesem Mordfall hießen
Darryl und Annie Perry. Ihre Tochter, erst vier Jahre alt, trug den
Namen Krystal. Dass es in diesem Fall erst sechs Jahre nach den
Morden zum Prozess kam, war für mich ein eindeutiges Zeichen, dass
es sich um eine schwierige Angelegenheit handelte.
Die Polizei hatte einen Verdächtigen identifiziert
und angeklagt; hier lag das Problem also nicht. Verschiedene
indirekte Indizien brachten ihn mit dem Verbrechen in Verbindung,
und er hatte sogar ein plausibles Motiv. Aber man konnte ihm den
Mord nicht durch hieb- und stichfeste, unwiderlegliche Befunde
beweisen: keine rauchende Pistole, kein verschmutztes Messer, keine
blutigen Fingerabdrücke, keine Augenzeugenberichte. Außerdem hatte
er für zwei volle Wochen vor dem Zeitpunkt, als die Leichen
gefunden wurden, ein gutes Alibi. Das war der Grund, warum die
Frage nach dem Todeszeitpunkt im Prozess von entscheidender
Bedeutung sein würde: Wenn die Verteidigung die Geschworenen davon
überzeugen konnte, dass die Familie irgendwann während dieser zwei
Wochen noch am Leben war, mussten sie den Verdächtigen
freisprechen.
Soweit man wusste, hatte es für den Mord außer dem
Täter nur drei Zeugen gegeben: die Getöteten. Ich musste die
Wahrheit von der Familie Perry selbst erfahren. Aber wie? Als ich
angerufen wurde, waren die Leichen schon längst bestattet, und die
Hütte, in der man sie gefunden hatte, war gesäubert und verkauft
worden. Nur Fotos und Notizen erzählten noch die Geschichte vom
Mord an dieser jungen Familie und insbesondere von dem Zeitpunkt,
als er geschah. Deshalb bat ich Goodwin, mir alle verfügbaren
Tatortfotos zu schicken, vor allem Detailaufnahmen von den Leichen.
Als ich den Hörer auflegte, konnte ich nur hoffen, dass die Fotos
mir genügend forensische Anhaltspunkte zur Lösung meiner Aufgabe
liefern würden.
Zwei Tage später brachte UPS die Abzüge, und ich
riss sofort den Umschlag auf. Wenig später war mir klar, dass meine
Rechnung nicht aufgehen würde. Und wenn mir das auffiel, konnte ich
ziemlich sicher sein, dass der Anwalt des Angeklagten oder
zumindest seine gerichtsmedizinischen Berater es ebenfalls bemerken
würden.
Eine Hälfte des forensischen Bildes war klar und
eindeutig. Die Fotos zeigten die grotesk aufgedunsenen Leichen von
Darryl, Annie und Krystal. Für mich war das ein vertrauter Anblick,
den ich schon viele hundert Mal zuvor gesehen hatte. Als man die
Leichen fand, waren Bakterien bereits fleißig dabei, die inneren
Organe zu verflüssigen. Mit Magen und Darm hatten sie den Anfang
gemacht, und als sie das weiche Gewebe verdauten, bliesen die dabei
entstehenden Gase den Bauch der Leichen auf wie einen Ballon. Unter
und neben den Toten waren dunkle, schmierige Flecken zu erkennen:
flüchtige Fettsäuren, die beim Abbau der Gewebe freigesetzt wurden.
Die Haare standen gerade im Begriff, sich als charakteristische,
einheitliche Masse, die wir als »Haarmatte« bezeichnen, von den
Köpfen zu lösen.
Die Fotos von Krystal gehörten zum Bedrückendsten,
was ich jemals gesehen habe. Ihr nackter Körper ließ besonders
deutlich erkennen, wie jung, wie klein, wie schutzlos sie gewesen
war. Der Genitalbereich war stark verwest. Der Obduktionsbericht
gab keine Auskunft darüber, ob sie sexuell missbraucht worden war,
denn dazu war das weiche Gewebe bereits zu stark zerstört. So oder
so war das Foto ein Bild der brutalen Gewaltanwendung.
Jeder normale Mensch würde beim Anblick solcher
Bilder denken: »Du liebe Güte, was für ein entsetzlicher Anblick«,
und sich dann so schnell wie möglich abwenden. Auf mich wirken sie
ganz anders. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich
verabscheue den Tod - ich habe zwei Ehefrauen durch Krebs verloren,
und diese schrecklichen Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich
den Tod hasse und Trauerfeiern schrecklich finde. Wenn ich aber
einen Verbrechensschauplatz untersuche, sehe ich darin niemals den
Tod, sondern immer ausschließlich einen Fall. Alle Beobachtungen,
alle Gerüche sind Informationen, mögliche Schlüssel zur Aufdeckung
der Wahrheit. Einmal arbeitete ich an der Aufklärung eines
Wohnungsbrandes mit, bei dem mehrere kleine Kinder ums Leben
gekommen waren. Was mir dabei Kummer bereitete, waren nicht die
verkohlten Leichen, sondern der Anblick eines Dreirades und
mehrerer anderer Spielzeuge, die verstreut im Garten lagen -
Erinnerungen an das Leben, das durch den Brand ausgelöscht
wurde.
Auf den Fotos vom Mordfall Perry suchte ich nach
abgelöster Haut, frei liegenden Knochen, ausgegangenen Haaren und
Insektenbesiedelung; daraus wollte ich ablesen, wie lange die
Familie schon tot war. Wie jeder Fall, so war auch dieser ein
wissenschaftliches Puzzle, und ich bemühte mich darum, alle Steine
zusammenzufügen. Indem ich mir buchstäblich und im übertragenen
Sinn jedes einzelne Stück aus der Nähe ansah, konnte ich einen
chronologischen Ablauf rekonstruieren. Gleichzeitig schützte ich
mich damit vor dem Entsetzen, das von dem Gesamtbild ausging.
Aus meinen jahrzehntelangen Forschungsarbeiten auf
der Body Farm wusste ich, dass die Verwesung eine immer gleiche,
vorhersagbare Abfolge von Vorgängen ist. Sie wiederholt sich bei
Mordfällen auf der ganzen Welt und zu allen Jahreszeiten.
Unterschiede gibt es nicht - jedenfalls nicht in der Reihenfolge.
Abweichungen, und zwar sehr dramatische, findet man dagegen in der
Geschwindigkeit. Und der wichtigste Faktor, der sie beeinflusst,
ist die Temperatur.
Einerseits sagt einem das natürlich schon der
gesunde Menschenverstand: Eine warme Leiche verwest schneller als
eine kalte. Meinen Studenten habe ich immer gesagt: »Das ist der
Grund, warum man Fleisch in den Kühlschrank legt und nicht in den
Küchenschrank.« Höhere Temperaturen beschleunigen bei der Verwesung
einer Leiche die Bakterientätigkeit und begünstigen auch die
Insektenbesiedelung. Wie Menschen, so veranstalten auch die Käfer
ihr Picknick am liebsten im Sommer. Aber um dieses Thema von der
Ebene des gesunden Menschenverstandes auf die der
wissenschaftlichen Präzision zu übertragen, mussten wir jahrelang
Verwesungsgeschwindigkeiten messen und dabei beobachten, wie diese
Geschwindigkeit sich in Abhängigkeit von Temperatur und
Luftfeuchtigkeit verändert. Am Ende hatten wir eine mathematische
Formel entwickelt, die unsere Beobachtungen quantitativ erfasste.
Diese Formel ermöglichte es uns in Verbindung mit den Wetterdaten
vom Tatort, die Zeit seit dem Tod bei jeder nur denkbaren
Temperatur zu berechnen.
Der Schlüssel war eine Maßeinheit, die wir als
accumulated degree days (ADD) bezeichneten. Vereinfacht
gesagt, bezeichnet sie die Gesamtheit der durchschnittlichen
Tagestemperaturen. Zehn Sommertage mit einer
Durchschnittstemperatur von 22 Grad würden beispielsweise insgesamt
220 ADD ergeben, genau wie zwanzig Wintertage mit einer
Durchschnittstemperatur von elf Grad. Eine Leiche mit 220 ADD zeigt
unabhängig von der Jahreszeit immer ähnliche
Verwesungserscheinungen: Sie ist aufgebläht und durch die
erweiterten, dunkelrot gefärbten Fettsäuren treten aus. Bei unseren
Experimenten auf der Body Farm ermittelten wir die ADD für viele
verschiedene Zeiträume vom Augenblick des Todes an und hielten
jeweils fest, welcher Verwesungszustand einem bestimmten ADD-Wert
entspricht. Bei forensischen Ermittlungen gingen wir dann genau
umgekehrt vor: Wir verfolgten die Wetterdaten vom Tatort in die
Vergangenheit, bis der ADD-Wert dem tatsächlichen Verwesungszustand
der vorgefundenen Leiche entsprach.
In diesem Fall konnte ich an den Tatortfotos
erkennen, dass die Leichen der Perrys sich in einem
fortgeschrittenen Verwesungszustand befanden, in dem die Aufblähung
nachlässt und das Gewebe endgültig abgebaut und verflüssigt wird.
Nach meiner Schätzung entsprach die Verwesung der Perry-Leichen
ungefähr 270 ADD. Im nächsten Schritt mussten wir nun herausfinden,
welches Wetter in Mississippi während der Wochen vor dem
Leichenfund geherrscht hatte.
Ich bat Bill Goodwin, mir die Temperaturwerte von
Magnolia für die Monate November und Dezember zu besorgen. Die
Zahlen zeigten, dass es ein recht kalter Herbst gewesen war.
Zwischen Mitte November und Mitte Dezember war die Temperatur in
acht Nächten bis auf den Gefrierpunkt oder darunter gesunken. Als
ich den Temperaturverlauf zurückverfolgte, gelangte ich zu dem
Schluss, dass die Familie bereits 25 bis 35 Tage tot war, als sie
gefunden wurde.
Nur eines passte nicht ganz ins Bild: die Maden.
Die Leichen waren von Maden bedeckt, den Larven der Schmeißfliegen.
Während Bakterien eine Leiche von innen nach außen auffressen,
beginnen die Schmeißfliegen an der Oberfläche und arbeiten sich
nach innen vor. Mit Hilfe der Insekten und Mikroorganismen holt die
Natur uns auf äußerst effiziente Weise zurück: In einem heißen
Sommer in Tennessee kann aus einer frischen Leiche in nur zwei
Wochen ein nacktes Skelett werden. Die Gesichter von Darryl und
Annie waren von Madenschwärmen bedeckt. Das Fleisch war bereits
größtenteils abgebaut, sodass der Schädel hervortrat. Große Massen
von Maden waren auch an anderen Stellen zu erkennen, wo sich dem
Obduktionsbericht zufolge die Stichwunden - und damit Blut -
befunden hatten.
Schmeißfliegen sind ganz wild auf Blut. Sie riechen
es über Kilometer hinweg. Auf einer blutigen Leiche sammeln sie
sich bei warmem Wetter zu Tausenden. Sie fressen dort und legen
Eier, aus denen nur wenige Stunden später die Maden
schlüpfen.
Darryl hatte Verteidigungswunden an den Händen
sowie die tödlichen Stiche an Brust und Bauch. Bei Annie hatte man
an verschiedenen Körperstellen insgesamt acht Stichwunden gefunden.
Alle waren stark von Maden besiedelt. Das Gleiche galt für Krystals
Genitalien - gerade solche dunklen, feuchten Körperöffnungen sind
bei Insekten besonders beliebt. Ansonsten war die Leiche des
Mädchens nicht so stark verwest wie die Eltern, und das hatte zwei
Gründe: Da sie viel kleiner und schlanker war, verweste sie auch
langsamer, ein Phänomen, das wir bei unseren Untersuchungen auf der
Body Farm immer wieder beobachtet hatten. Und da sie nicht
erstochen, sondern erdrosselt wurde, war kein Blut ausgetreten;
deshalb war sie für Fliegen und Maden weniger anziehend.
Manche Maden auf den Tatortfotos waren mehr als
einen Zentimeter lang und befanden sich im »dritten Larvenstadium«,
wie Insektenforscher es nennen. Einfach ausgedrückt, bedeutet das:
Sie waren ausgereift und standen kurz davor, sich zu verpuppen und
in erwachsene Fliegen zu verwandeln. Daraus konnte ich ablesen,
dass die Maden ungefähr zwei Wochen zuvor aus den Eiern geschlüpft
waren. Das wusste ich aus Untersuchungen, die wir in den achtziger
Jahren auf der Body Farm durchgeführt hatten. Damals hatte Bill
Rodriguez, einer meiner Doktoranden, monatelang die Reihenfolge und
den zeitlichen Ablauf der Insektentätigkeit auf Leichen
beobachtet.
Aber so genau ich auch hinsah - mit bloßem Auge und
mit einem Vergrößerungsglas -, eines fehlte auf den Fotos: Ich
konnte keine einzige Puppenhülle finden. Das machte die Sache
komplizierter. Nach dem Verwesungszustand zu urteilen, waren die
Perrys Mitte November umgebracht worden. Die Maden dagegen - und
das Fehlen von Puppenhüllen - ließen darauf schließen, dass der
Mord sich um den 2. Dezember ereignet hatte. Und vom 2. Dezember an
hatte der Verdächtige ein Alibi. Die Anklage hatte eine Menge
Arbeit vor sich. Ich auch.
Goodwin hatte mich am 18. Mai zum ersten Mal
angerufen. Zwei Wochen später machte ich mich auf die zehnstündige
Fahrt nach Mississippi zum Prozess gegen den Mann, den man des
Mordes an der Familie Perry verdächtigte.
Darryl, Annie und Krystal hatten in Marrero
gelebt, einem Vorort von New Orleans; dort wohnten auch Darryls
Mutter Doris Rubenstein und ihr Mann Michael, ein Taxifahrer.
Anfang der neunziger Jahre hatte Michael - Mike - knapp 200
Kilometer nördlich in dem 130 Meter hoch gelegenen Summit eine
Hütte als Zufluchtsort für ruhige Wochenenden gekauft. Im November
1993 war die Familie Perry für einen längeren Aufenthalt dorthin
gefahren.
Am 5. November 1993 brachte Mike sie mit dem Auto
zu der Hütte und setzte sie ab. Das junge Paar hatte Verwandten
erzählt, sie hätten Eheprobleme und müssten ein wenig Ruhe haben,
um die Sache ins Reine zubringen. Nun gut, Ruhe hatten sie in
Summit wirklich: Abgesehen von der Hauptstraße, die den Ort in zwei
Teile zerschnitt, gab es nur wenige befestigte Straßen, und die
Bürgersteige wurden bei Sonnenuntergang hochgeklappt. In der Hütte
gab es nicht einmal ein Telefon.
Mike fuhr im Laufe des November noch zweimal nach
Summit, um nachzusehen, ob sie für die Heimreise bereit wären.
Beide Male fand er die Hütte aber dunkel und verschlossen vor, und
er hatte vergessen, seinen eigenen Ersatzschlüssel mitzubringen.
Wie er später berichtete, hatte ein Nachbar ihm bei seinem zweiten
Besuch erzählt, die Perrys seien in einen verrosteten braunen Van
gestiegen und mit zwei Männern, die verdächtig nach Drogenhändlern
aussahen, weggefahren. Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen. Am
16. Dezember schließlich fuhr Mike noch einmal zu der Hütte, und
dieses Mal hatte er seinen Schlüssel dabei. Als er eintrat, fand er
Darryl und Annie tot auf dem Fußboden des Wohnzimmers, Krystals
Leiche lag auf einem Bett.
Sofort lief Mike zum nächsten Telefon - es befand
sich fast einen halben Kilometer entfernt in einem
Gemischtwarenladen an der Straße - und rief die Polizei des Kreises
Pike an. Der Beamte, der daraufhin kam, fand Mike im Freien hinter
der Hütte vor. »Sie sind da drin«, sagte er. »Sie sind tot. Ihre
Augen sind weg.«
Kurz nach dem Beamten kam Allen Applewhite dazu,
ein Polizist der Autobahnpolizei von Mississippi, der später die
Ermittlungen in dem Fall leitete. Applewhite war von dem Anblick in
der Hütte entsetzt. Die Leichen waren bereits stark verwest, und es
herrschte ein betäubender Gestank. Die Körper von Darryl und Annie
waren aufgebläht und blutüberströmt. Krystal lag nackt auf dem
Rücken, Gesicht und Geschlechtsorgane waren bereits von den Maden
zerstört. Applewhite hatte selbst zwei Töchter. Das Bild dieses
kleinen Mädchens, das jemand ohne erkennbaren Grund hingemetzelt
hatte, ließ ihn nicht mehr los.
Aber es dauerte nicht lange, dann war ein mögliches
Motiv gefunden - und ein schockierender Verdächtiger. Nur 24
Stunden nachdem er die Polizei gerufen hatte, stellte Michael
Rubenstein den Antrag auf Auszahlung einer Lebensversicherung von
einer Viertelmillion Dollar. Die versicherte Person war Krystal,
Mike Rubensteins vierjährige Enkeltochter.
Als Applewhite von der Versicherungspolice erfuhr,
besorgte er sich sofort eine Kopie davon. Mike und Doris hatten den
Vertrag über 250 000 Dollar im September 1991 abgeschlossen, als
Krystal zwei Jahre alt war. Als Applewhite das Kleingedruckte las,
stieß er auf etwas, das ihm das Blut gefrieren ließ. Der Vertrag
beinhaltete eine zweijährige Wartezeit, bevor Ansprüche geltend
gemacht werden konnten. Und knapp drei Monate nachdem die
Versicherungssumme ausgezahlt werden konnte, war Krystal tot. Eines
weiß jeder gute Detektiv: Wenn bei einem Verbrechen Geld im Spiel
ist, muss man der Spur des Geldes folgen. Diese Spur führte
schlicht und ergreifend zu Michael und Doris Rubenstein.
Dass eine Frau in den Mord an ihrem eigenen Sohn
und der Enkeltochter verwickelt war, erschien unwahrscheinlich,
aber die Polizei musste auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.
Was Applewhite jedoch über Doris Rubenstein in Erfahrung brachte,
passte nicht zum Bild der kaltblütigen Mörderin. Allerdings war
Doris auch nicht gerade ein bewundernswertes Beispiel für
mütterliche Liebe und großmütterliche Güte. Ihre größte Liebe galt
offenbar dem Alkohol und den Tabletten. Sie wirkte häufig wirr im
Kopf, betrunken und von Drogen benebelt - eine unfähige, vielleicht
sogar bemitleidenswerte Frau, aber vermutlich keine Gefahr für
irgendeinen Menschen außer für sich selbst.
Als der Ermittler sich jedoch mit Doris’ Mann
Michael beschäftigte, kristallisierte sich ein ganz anderes Bild
heraus - das Bild eines leistungsfähigen, gerissenen, gefährlichen
Mannes. Rubenstein hatte eine ganze Reihe von
Versicherungsbetrügereien auf dem Kerbholz, mit gefälschten
Ansprüchen an Feuerversicherungen, inszenierten Autounfällen und
vorgetäuschten Verletzungen. Daran hatte eine ganze Reihe von
Personen mitgewirkt. Ein besonders erschreckender Fall hatte sich
Jahre zuvor in Anwesenheit eines zwölfjährigen Jungen namens Darryl
Perry abgespielt, des Sohnes von Rubensteins damaliger Freundin
Doris Perry.
Man schrieb das Jahr 1979. Rubenstein hatte sich
gerade mit einem neuen Geschäftspartner namens Harold Connor
zusammengetan. Die beiden lernten sich kennen, als Rubenstein sich
an eine örtliche Arbeitsagentur wandte und sich nach Arbeitslosen
erkundigte, die ihm bei der Herstellung und dem Vertrieb eines
Werbeblattes mit den Programmen der örtlichen Fernsehsender helfen
konnten. Da er Connor einarbeiten wollte - und da es für ihn ein
Risiko war, mit einem unerfahrenen Partner zusammenzuarbeiten -,
verlangte er, dass Connor eine Lebensversicherung abschloss und
Rubenstein als Begünstigten benannte. Der Wert, den sie Connors
Leben beimaßen, belief sich auf 240 000 Dollar.
Der Versicherungsvertrag wurde im August 1990
abgeschlossen. Hirschjagd ein. Connor lehnte ab: Er war noch nie
zuvor auf die Jagd gegangen und hatte Verwandten sogar erzählt, der
Gedanke, Tiere zu töten, sei ihm zuwider. Aber Rubenstein blieb
hartnäckig. Um des lieben Friedens mit seinem neuen Partner willen
stimmte Connor schließlich zu. An einem kalten Morgen im November
fuhren sie nach Evangeline Parish in Louisiana, stellten den Wagen
auf der Lone Pine Road ab und gingen zu Fuß in den Wald. Zu der
Jagdgesellschaft gehörten auch ein anderer Sohn von Doris namens
David Perry, ein Mann namens Michael Fornier, der kurz zuvor
vorzeitig aus einem Bundesgefängnis entlassen worden war, und der
junge Darryl.
Connor kehrte von seinem ersten und einzigen
Jagdausflug in einem Leichensack zurück. Die Geschichte, die
Rubenstein und die anderen erzählten, zeichnete das klassische Bild
eines tragischen Jagdunfalls: Als Fornier über einen umgestürzten
Baumstamm kletterte, entglitt ihm seine zwölfschüssige
Schrotflinte. Der Gewehrkolben schlug auf den Boden, und ein Schuss
löste sich. Connor, der unmittelbar vor Fornier stand, wurde mitten
in den Rücken getroffen. Der Schrot drang in den Brustkorb und
durchlöcherte sein Herz.
Diese Geschichte erzählte Rubenstein nicht nur den
Wildhütern und dann der Polizei, sondern auch einem
Versicherungsvertreter der Mutual of New York, die den Vertrag über
240 000 Dollar abgeschlossen hatte. Aber die Versicherung hatte
eine schlechte Nachricht für Rubenstein: Er konnte die
Versicherungsleistung noch nicht beanspruchen. Wie viele
Lebensversicherungen, so beinhaltete auch diese eine zweijährige
Wartezeit. Connors Tod war um 21 Monate zu früh gekommen.
Daraufhin strengte Rubenstein einen Prozess gegen
Mutual of New York an. Er behauptete, man habe ihn über die
Wartezeit nicht informiert. In der Gerichtsverhandlung rief die
Versicherungsgesellschaft als Zeugen einen Sachverständigen auf:
Dr. Ronald Singer, einen forensischen Pathologen aus Texas und
Experten für Ballistik. Dieser machte auf den Winkel von Ein- und
Austrittsöffnungen aufmerksam und erklärte dann, die Schrotflinte
könne unmöglich losgegangen sein, als ihr Kolben auf dem Boden
aufschlug. Nach Singers Angaben musste sich das Gewehr auf
Schulterhöhe befunden haben, um die tödliche Verletzung
hervorzurufen. Mit anderen Worten: Die Waffe war nicht zufällig zu
Boden gefallen. Sie wurde sorgfältig auf ihr Ziel gerichtet,
gespannt und abgefeuert.
Als Officer Applewhite die Vorgänge um Connors Tod
und den Lebensversicherungsvertrag erfuhr, fielen ihm sofort die
Parallelen zum Tod von Krystal Perry auf. Ebenso bemerkte er auch
einen entscheidenden Unterschied: In Krystals Fall hatte sich der
grausige Tod unmittelbar nach Ende der zweijährigen Wartezeit
ereignet - und erst dann war Anspruch auf die Versicherungsleistung
erhoben worden. Für Applewhite sah es so aus, als habe Rubenstein
aus seinem Fehler im Jahr 1979 gelernt und sorgfältig darauf
geachtet, beim zweiten Mord alles richtig zu machen.
Bemerkenswerterweise deutete mein gerichtsmedizinischer Bericht
darauf hin, dass die Morde irgendwann um den 15. November begangen
wurden, ein Datum, das fast genau mit einem der von ihm
eingestandenen Besuche bei der Hütte zusammenfiel.
Ein ganzes Jahr lang sammelte Applewhite Indizien
gegen Rubenstein. Als er dann aber mit seinen Erkenntnissen zum
Distriktsanwalt des Kreises Pike ging und ihn drängte, Rubenstein
festnehmen zu lassen, erhielt er nicht die gewünschte Antwort. Der
Staatsanwalt Dun Lampton erklärte, er könne den Fall Perry nur mit
handfesten Beweisen weiterverfolgen, und Applewhite habe nur
indirekte Indizien in der Hand. Die Viertelmillion Dollar war zwar
zugegebenermaßen ein starkes Motiv, und Rubenstein hatte auch
früher schon eindeutig fragwürdige Geschäfte gemacht,
Versicherungen betrogen und vermutlich sogar einen Mord begangen.
Außerdem hatte er sicher mehr als genug Gelegenheiten gehabt, die
Familie Parry umzubringen: Immerhin gehörte ihm die Hütte, und er
selbst hatte die drei dorthin gebracht. Und er hatte sogar
gestanden, dass er später noch zweimal bei der Hütte gewesen war.
Aber das alles war kein hieb- und stichfester Beweis seiner
Schuld.
Applewhite war verblüfft und frustriert. Als er
Darryls leiblichem Vater Mack Perry berichtete, dass man gegen
Rubenstein keine Anklage erheben werde, fing dieser an zu weinen.
Aber Applewhite versprach ihm, die Sache nicht auf sich beruhen zu
lassen. Er blieb Rubensteins Versicherungsbetrug und anderen
Gaunereien weiterhin auf der Spur, und der Berg der Indizien wuchs
weiter. Im September 1995 erfuhr Applewhite zu seinem Erstaunen,
dass eine weitere Person aus Rubensteins Umfeld zu Schaden gekommen
war: Laron Rosson, ein neuer Geschäftspartner. Er war an einem
Samstagmorgen zu Rubenstein ins Auto gestiegen und dann spurlos
verschwunden. Kurz zuvor hatte er seinem Partner eine
Lastwagenladung mit teuren Antiquitäten übergeben, die mit
ungedeckten Schecks bezahlt waren.
Im Juli 1998 gab es für Applewhite endlich einen
Hoffnungsschimmer: In diesem Monat befand ein Geschworenengericht
in Mississippi einen Angeklagten für schuldig, seinen vierjährigen
Sohn ertränkt zu haben, und das Urteil gründete sich ausschließlich
auf indirekte Indizien. Das Motiv des Mannes war eine
Lebensversicherung von 100 000 Dollar gewesen. Applewhite ging zu
Lamptons Assistenten Bill Goodwin - er war der Staatsanwalt, der
den Prozess gerade gewonnen hatte - und appellierte an ihn: »Bill,
wir haben bessere Argumente als in diesem Fall. Es sind nicht nur
100 000 Dollar, sondern 250 000, und es geht nicht nur um ein
Opfer, sondern um drei.«
Zwei Monate später legte der Distriktsstaatsanwalt
Applewhites Indizien einem Geschworenengericht vor. Rubenstein
wurde wegen der Morde an der Familie Perry und wegen
Versicherungsbetrug angeklagt und von Louisiana nach Mississippi
ausgeliefert. Im Juni 1999 begann der Prozess.
Das Fehlen handfester Beweise war nicht das einzige
Problem, mit denen die Ankläger zu kämpfen hatten. Der
Todeszeitpunkt war unter anderem deshalb von so entscheidender
Bedeutung, weil Rubenstein eine Zeugin präsentierte: Tanya
Rubenstein - sie war bequemerweise seine Nichte - sagte aus, sie
habe Annie Perry gesund und munter in einer Bar in New Orleans
gesehen. Ihren Angaben zufolge war das am 2. Dezember gewesen, 14
Tage bevor die Leichen gefunden wurden. Und für die Zeit zwischen
dem 2. und 16. Dezember hatte Rubenstein ein wasserdichtes Alibi.
Wenn Darryl, Annie und Krystal tatsächlich am 2. Dezember noch am
Leben waren, konnte Rubenstein sie nicht ermordet haben. Falls wir
aber mit den Methoden der forensischen Wissenschaft nachweisen
konnten, dass sie an diesem Tag bereits tot waren, war die
Glaubwürdigkeit der Nichte erschüttert, und damit war auch
Rubensteins Alibi gegenstandslos.
Das würde die Verteidigung nicht kampflos zulassen.
Dieses Mal war es ein Kampf um Maden.
Seit ich die Tatortfotos zum ersten Mal gesehen
hatte, musste ich immer wieder über die fehlenden Puppenhüllen
nachgrübeln. Hätte ich sie gesehen, wäre ich sicher gewesen, dass
die Besiedlung mit Maden bereits deutlich vor dem 2. Dezember
begonnen hatte. Ohne sie jedoch konnte ich definitiv nur sagen,
dass die Maden sich seit ungefähr zwei Wochen auf den Leichen
befanden. Natürlich hatten die kühleren Temperaturen die Aktivität
der Schmeißfliegen und Maden vermindert: Unter elf Grad gehen
Schmeißfliegen in einen Ruhezustand über, und während eines großen
Teils der fraglichen Zeit lag die Temperatur deutlich darunter.
Deshalb war ich zuversichtlich, dass ich mit meiner Schätzung von
25 bis 35 Tagen Recht hatte. Aber würden die Geschworenen meine
Zuversicht teilen? Diese Frage bereitete mir Sorgen, insbesondere
weil die Verteidigung immer wieder auf der Tatsache herumritt, dass
ich kein Insektenfachmann war.
Nach nur wenigen Stunden setzte die Jury den
Richter in Kenntnis, dass die Beratungen festgefahren waren: Es
stand 11 zu 1 für eine Verurteilung. Der Richter erklärte die
Verhandlung für gescheitert, und die Ankläger begaben sich wieder
an ihre Schreibtische, um die Neuauflage des Verfahrens
vorzubereiten. Zur Stärkung ihrer Position zogen Goodwin und
Lampton insektenkundliche Verstärkung hinzu: meinen früheren
Studenten Bill Rodriguez, der mittlerweile als weltweit führender
Experte für die Insektenbesiedlung menschlicher Leichen galt.
Der zweite Prozess begann am 21. Januar 2000.
Wenige Tage später rief Goodwin mich in den Zeugenstand. Wir gingen
kurz meine Qualifikationen und wissenschaftlichen Leistungen durch,
darunter auch die Forschungsarbeiten auf der Body Farm. Daraufhin
wurde ich auch dieses Mal als Sachverständiger für forensische
Anthropologie anerkannt. Anschließend erklärte ich den neuen
Geschworenen genau wie in der ersten Verhandlung, wie ich zu meiner
Schätzung für den Todeszeitpunkt gelangt war.
Als der Verteidiger an der Reihe war, mich ins
Kreuzverhör zu nehmen, versuchte er sofort, meine Schätzung
unglaubwürdig zu machen. Wie nicht anders zu erwarten, sprach er
zunächst den Fall des Colonel Shy an, bei dem ich mich in der seit
dem Tod verstrichenen Zeit um fast 113 Jahre verschätzt hatte. Ich
erwiderte, dieser Fall sei der Grund gewesen, warum wir mit unserem
Forschungsprogramm auf der Body Farm begonnen hätten. Auch mit dem
nächsten Argument hatte ich gerechnet: Er konzentrierte sich auf
die Maden und die Tatsache, dass sie sich im Zwei-Wochen-Stadium
befanden. Ich wies darauf hin, dass die kühleren Temperaturen ihre
Entwicklung vermutlich verlangsamt hatten, aber er ritt immer
weiter auf der Zeit von 14 Tagen herum.
Ich erwiderte, man müsse noch einen weiteren Faktor
in Betracht ziehen, der mir erst deutlich geworden war, als ich
mehr über den Tatort erfahren hatte. Ja, die Maden befanden sich in
dem typischen 14-Tage-Stadium. Aber die Leichen lagen in einem
geschlossenen Raum - sie waren in der Hütte eingeschlossen. Und bei
dieser Hütte handelte es sich nicht um ein zugiges Bauwerk aus
rohen Baumstämmen, deren Ritzen mit Lehm abgedichtet waren;
vielmehr war sie aus soliden Balken von fünf mal zehn Zentimetern
erbaut, die flach übereinander lagen. Der Mann, der sie errichtet
hatte, arbeitete in einer Holzhandlung und konnte solche Balken
offenbar umsonst oder zumindest sehr billig bekommen, deshalb baute
er die ganze Hütte daraus. Selbst die Innenwände bestanden aus
dicht an dicht stehenden Vierkanthölzern. Es gab schlicht und
einfach kaum Öffnungen, durch die Insekten hätten eindringen
können.
Ich erklärte, die scheinbare Diskrepanz zwischen
Verwesungszustand und Insektenbesiedelung müsse in Wirklichkeit
nicht unbedingt ein Widerspruch sein. Es hatte einfach eine Zeit
lang gedauert, bis die Schmeißfliegen den Todesgeruch im Inneren
der Hütte bemerkten - und noch länger brauchten sie, bis sie
zwischen den dicht an dicht stehenden Balken ihren Weg gefunden
hatten. Die zwei Wochen, in denen die Fliegen aktiv waren, waren
also nur eine Untergrenze - das absolute Minimum - für die Zeit,
die seit dem Tod vergangen war. In Wirklichkeit lag der
Todeszeitpunkt vermutlich viel länger zurück, darauf wiesen die
anderen Verwesungsmerkmale eindeutig hin.
Auf meine Zeugenaussage folgte die meines früheren
Studenten Bill Rodriguez. Er hatte die Zeit seit dem Tod unabhängig
von mir ebenfalls auf fast einen Monat geschätzt - auch das auf
Grund des kalten Wetters und der Tatsache, dass die Leichen relativ
unzugänglich waren. Goodwin hoffte, das Insektenproblem sei durch
uns beide aus der Welt geschafft. Als die Anklage zwei Tage später
ihren Teil der Beweisaufnahme abschloss, war ich bereits wieder in
Knoxville. Jetzt war die Verteidigung an der Reihe.
Ohne dass Bill Goodwin zuvor etwas davon gewusst
hätte, bot die Verteidigung einen Überraschungszeugen auf: den
Insektenforscher Neal Haskell, der kurz zuvor zusammen mit mir im
Fall des Zoomannes von Knoxville als Zeuge der Anklage aufgetreten
war. Er war 1998 zum zweiten Mal auf die Body Farm gekommen, um
seine Vergleichsuntersuchungen der Insektenbesiedelung von
menschlichen Leichen und Schweinekadavern auszuweiten. Jetzt sagte
Neal in einem Mordfall zu Gunsten der anderen Seite aus. Das ist
nichts Ungewöhnliches: Die Welt der forensischen Wissenschaft ist
klein, und früher oder später wird immer irgendjemand, mit dem man
in einem Fall zusammengearbeitet hat, in einem anderen auf der
Gegenseite stehen. Aber als Bill Goodwin mich anrief und mir
berichtete, was im Richterzimmer besprochen worden war, nachdem er
Widerspruch gegen Haskells Auftritt als Überraschungszeuge
eingelegt hatte, traf es mich völlig unvorbereitet: Der Verteidiger
hatte angekündigt, Haskell werde nicht nur seine Behauptung
unterstützen, wonach die Todesfälle sich nach dem 2. Dezember
ereignet hatten, sondern er wolle auch bezeugen, dass ich im Fall
des Zoomannes einen Meineid geleistet hätte - ich hätte gelogen, um
der Anklage zu helfen.
Wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten sind
das eine, der Vorwurf des Meineides aber ist ganz etwas anderes. Es
war ein Schlag ins Gesicht, widersprach es doch allem, wofür ich
persönlich und beruflich einstand. 40 Jahre zuvor hatte Dr. Wilton
Krogman mir eine grundlegende ethische Regel eingebläut: In einem
Prozess war es nicht meine Aufgabe, der Anklage oder der
Verteidigung zu Diensten zu sein; meine Funktion - meine einzige
Funktion - bestand darin, die Wahrheit aufzudecken und so dem Opfer
eine Stimme zu geben. Als Bill Goodwin mich im Fall Perry zum
ersten Mal nach meiner Schätzung des Todeszeitpunktes fragte, bat
ich ihn sofort, mir nichts über Theorien oder Vermutungen der
Anklage zu erzählen. Wäre ich der Ansicht gewesen, dass die Familie
am 2. Dezember oder noch später getötet worden war, hätte ich das
gesagt und jede beliebige Folge in Kauf genommen; die Nachricht,
dass Haskell meine Ehrlichkeit anzweifelte, machte mich
wütend.
Noch beunruhigender als meine persönliche und
berufliche Verärgerung jedoch war, dass Haskells Aussage der
Argumentation der Anklage erheblich schaden konnte: Wenn die
Geschworenen Haskells Vorwurf Glauben schenkten, ließen sie
möglicherweise eine ganze Reihe überzeugender forensischer Indizien
außer Acht. Goodwin hörte sich am Telefon meinen Wutausbruch an und
bat mich dann, noch einmal nach Mississippi zu fliegen und den
Vorwurf des Meineides zurückzuweisen. Keine zehn Pferde hätten mich
zurückhalten können.
Wieder saß ich in dem Gerichtssaal in Magnolia,
und dieses Mal wartete ich darauf, meinen guten Namen verteidigen
zu können. Aber als Haskell aussagte, beschuldigte er mich weder
des Meineides noch der Lüge; er sagte nur, ich hätte bei der
Bestimmung des Todeszeitpunktes von Patricia Johnson einen Fehler
gemacht. Vielleicht hatte der Anwalt der Verteidigung nur geblufft,
vielleicht hatte auch Goodwin etwas missverstanden. Was der Grund
auch sein mochte, ich war immer noch erpicht darauf, die näheren
Umstände zu erläutern: Noch einmal berichtete ich über die Vorgänge
an der Cahaba Lane an jenem Tag, als ich verkündete, die Leiche sei
zu frisch für mich; ich erzählte, wie ich dann auf die hartnäckigen
Nachfragen eines Polizisten die Vermutung geäußert hatte, sie habe
ein bis zwei Tage dort gelegen. Wie im Huskey-Prozess wies ich
ausdrücklich darauf hin, dass ich die Leiche sofort dem
medizinischen Sachverständigen übergeben hatte, ohne sie auch nur
zu berühren. Mindestens zum hundertsten Mal bereute ich diese
voreilig geäußerte Vermutung, die mir seither immer wieder zu
schaffen gemacht hatte.
Als ich anschließend wartete und mir Sorgen machte,
geschah etwas Erstaunliches. Rubensteins Anwalt rief die Pathologin
aus der Behörde des medizinischen Sachverständigen des Kreises in
den Zeugenstand. Im Rahmen ihrer Aussage zeigte die Pathologin
vergrößerte Fotos von der Obduktion. Diese Aufnahmen hatte ich nie
gesehen - ich wusste bis zu jenem Augenblick noch nicht einmal,
dass sie überhaupt existierten.
Und plötzlich war es da. In einer Nahaufnahme von
Krystals Gesicht und Kopf sah ich es zwischen ihren Haarwurzeln:
ein winziges braunes Gebilde, ungefähr von der Größe und Form eines
wilden Reiskorns. Bei näherem Hinsehen erkannte ich noch mehr
solche Objekte. Von meinem Platz im Gerichtssaal beugte ich mich
über die Brüstung und flüsterte Bill Goodwin zu: »Sie müssen den
Prozess unterbrechen. Sie müssen mich noch einmal in den
Zeugenstand rufen.«
Schnell beantragte Goodwin eine Beratungspause,
sodass wir uns unterhalten konnten. Aufgeregt erklärte ich ihm, was
ich auf dem Foto gesehen hatte: die leeren Puppenhüllen, nach denen
ich die ganze Zeit gesucht hatte - Gehäuse, welche die Maden
zurücklassen, wenn sie ihren Lebenszyklus vollenden und sich in
erwachsene Fliegen verwandeln. Wie eine Raupe, die sich in einen
Kokon einspinnt und dann als Schmetterling wieder hervorkommt, so
zieht sich auch eine Made in ein schützendes Gehäuse zurück, bevor
ihr Flügel wachsen. Es ist paradox: Wir finden Raupen niedlich und
Schmetterlinge schön, aber von Maden fühlen wir uns abgestoßen, und
vor Fliegen ekeln wir uns. Für mich haben auch Maden und Fliegen
ihre eigene Schönheit. Das galt insbesondere in diesem Fall: Es
war, als wären meine Gebete hier, mitten im Gerichtssaal, erhört
worden.
Die Puppenhüllen waren der wissenschaftliche Beweis
dafür, dass Schmeißfliegen schon vor mehr als zwei Wochen an den
Leichen gefressen und ihre Eier abgelegt hatten. Selbst wenn man
davon ausging, dass sie in die kalte, solide gebaute Hütte
eingedrungen waren und dann schon nach wenigen Minuten die ersten
Eier abgelegt hatten, konnte Annie Perry am 2. Dezember nicht mehr
in einer Bar in New Orleans gewesen sein. Wie Darryl und Krystal,
so war auch sie am 2. Dezember bereits tot und lag verwest in der
Hütte. Endlich hatten wir den entomologischen Beweis; jetzt passten
alle Teile des forensischen Bildes zusammen.
Am 3. Februar 2000 zogen sich die Geschworenen zur
Beratung zurück. Nur fünf Stunden später stand das Urteil fest. Sie
hatten Rubenstein des schweren Mordes in drei Fällen für schuldig
befunden. Für die Morde an Darryl und Annie Perry verhängten sie
lebenslange Freiheitsstrafen, für den Mord an Krystal jedoch - dem
»Geldkind«, wie Goodwin und Applewhite sie nannten - verurteilten
sie ihn zum Tode. Irgendwie erschien es angemessen: Die
Geschworenen waren überzeugt, dass Rubenstein drei Angehörige
seiner eigenen Familie getötet hatte, drei Menschen, die ihn
kannten und ihm vertrauten; jetzt war er derjenige, der
hingerichtet werden sollte.
Jeder Mord ist in irgendeiner Form schlimm und
brutal, aber dieser Fall war mit seiner kalten Berechnung und
Unmenschlichkeit besonders schockierend. Michael Rubenstein erstach
den Sohn seiner Frau. Er erstach seine Schwiegertochter. Und er
erdrosselte ein vierjähriges Kind. Vermutlich hatte er auch die
beiden Geschäftspartner umgebracht. Wenn ich mit meiner
Fachkenntnis dazu beitragen kann, dass auch nur ein derart
bösartiges Exemplar der Spezies Mensch unschädlich gemacht wird,
haben sich meine jahrelangen Studien und Forschungsarbeiten
gelohnt.
Während des Prozesses wohnten Carol und ich in der
gleichen Pension, in der auch der Vater und die Stiefmutter von
Darryl Perry abgestiegen waren. Die beiden waren nach dem Verlust
von Darryl, Annie und Krystal am Boden zerstört. Eines Morgens -
ich war bereits zum Gericht gefahren - sprach Mr. Perry, ein
schüchterner, ruhiger Mann, Carol in der Küche an. Den Blick zu
Boden gerichtet, sagte er: »Sagen Sie bitte Ihrem Mann, wir danken
ihm sehr dafür, dass er hergekommen ist und uns geholfen hat.« Als
sie aufblickte, liefen ihm die Tränen über die Wangen.
Doris Rubenstein reichte die Scheidung ein, nachdem
Mike wegen des Mordes an ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und
ihrer Enkeltochter verurteilt war. Ob sie wirklich geschieden
wurde, weiß ich nicht, aber in jedem Fall lebte sie nicht mehr
lange genug, um Freude daran zu haben. Vor kurzem wurde sie tot
aufgefunden. Herzversagen.
Rubenstein hat Berufung gegen die Todesstrafe
eingelegt, und das Verfahren wird sich noch über Jahre hinziehen.
Ich muss immer wieder daran denken, dass Darryl, Annie und Krystal
keine Chance hatten, um ihr Leben zu bitten. Rubensteins
Hinrichtung würde die Menschen, die er getötet hat, nicht wieder
lebendig machen, aber sie könnte andere davor schützen, das gleiche
Schicksal zu erleiden.
Wenn es in diesem Fall - außer der forensischen
Wissenschaft, die eine Anklage gegen Rubenstein erst möglich machte
- einen Helden gibt, dann ist es Allen Applewhite, Beamter bei der
Autobahnpolizei, der den Fall nicht auf sich beruhen lassen wollte.
Er verfolgte die Sache jahrelang weiter, auch als keine Hoffnung
auf ein Verfahren zu bestehen schien. Er grub einen Berg von
Indizien gegen Rubenstein aus, einen Mann, der für ihn später nach
eigenen Angaben »das Böse in Reinkultur« war. Von der Heimtücke und
der Verdorbenheit, die er bei Rubenstein ans Licht brachte, war
Allen so tief getroffen, dass er noch heute ein Foto des Mörders in
seinem Polizeiauto hat. Es soll ihn daran erinnern, wie viel auf
dem Spiel stehen kann, wenn man einen Mörder verfolgt. Als die
Geschworenen im ersten Verfahren in der Sackgasse steckten und der
Richter den Prozess für gescheitert erklärte, hatte Allen geweint;
nachdem die zweite Jury den Angeklagten für schuldig befunden
hatte, ging er nach Hause und nahm seine eigene vierjährige Tochter
ganz fest in die Arme.