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Der blutrünstige Nutznießer
Wenn es von der forensischen Anthropologie abhängt, wie der Prozess um ein Kapitalverbrechen ausgeht, steht man unter ungeheuerem Druck. Einerseits besteht die Gefahr, dass man dazu beiträgt, einen Unschuldigen in die Gaskammer zu schicken, andererseits ist es aber auch durchaus möglich, dass ein brutaler Mörder auf freien Fuß gesetzt wird. Dieses große Dilemma erlebte ich vor kurzem hautnah, als ein Distriktsstaatsanwalt mich um Mitwirkung bei der Verfolgung der kaltblütigsten Morde bat, mit denen ich es jemals zu tun hatte.
Der Anruf kam im Mai 1999 von der Behörde des Distriktsanwalts in Magnolia im Bundesstaat Mississippi, dem Verwaltungssitz des Kreises Pike. In dem kleinen Nachbarort Summit hatte man eine junge Familie brutal ermordet. Der 26-jährige Mann und seine 23-jährige Frau waren jeweils mit mehreren Messerstichen getötet worden, die kleine Tochter hatte man erdrosselt und zuvor möglicherweise missbraucht. Am 16. Dezember 1993 waren die blutigen, stark verwesten Leichen in einer Hütte außerhalb der Stadt entdeckt worden. Der Strafverfolger, der mich anrief - ein Distriktsanwaltsassistent namens Bill Goodwin -, wusste bereits, dass die Familie im Herbst ermordet worden war, aber wann genau, war nicht klar. Wie lange waren die drei Menschen bereits tot, als man sie entdeckte? Das war die Viertelmillion-Dollar-Frage.
Eine genaue Abschätzung der Zeit, die seit dem Tod vergangen ist, kann einen Mordfall in der einen oder anderen Richtung entscheiden. Das hatte sich im Fall des Zoomannes auf eine Weise gezeigt, die ich nie vergessen und vielleicht nie überwinden werde. Drei der vier Opfer waren eindeutig getötet worden, als der Verdächtige, »Zoomann« Huskey, auf freiem Fuß war. Der Zeitpunkt des vierten Todesfalls jedoch - Patricia Johnson, deren Leiche nach meiner eigenen Einschätzung »für mich zu frisch« war, sodass ich sie dem medizinischen Sachverständigen übergeben hatte - wurde zum Gegenstand hitziger Diskussionen. Wenn Johnson getötet worden war, nachdem man Huskey festgenommen hatte, verfügte er zumindest für einen der vier Morde an der Cahaba Lane über ein hieb- und stichfestes Alibi, auch wenn sein eigenes Geständnis und Neal Haskells insektenkundliche Analyse das Gegenteil besagten.
Im Mai 1999 arbeitete ich bereits seit über 40 Jahren an Kriminalfällen, und ungefähr seit der Hälfte dieser Zeit erforschte ich die Verwesung. Seit 1981, als unsere Forschungsarbeiten auf der Body Farm mit Bill Rodriguez’ bahnbrechender insektenkundlicher Studie begonnen hatten, waren wir der Frage, wie ein Körper verwest, in Dutzenden von Fällen und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen nachgegangen. Wir hatten Leichen im Wald versteckt, in den Kofferraum oder auf den Rücksitz von Autos gelegt, in flachen Gruben verscharrt oder in Wasser getaucht. Immer untersuchten und dokumentierten wir, was mit ihnen vorging, vom Augenblick des Todes bis zu der Zeit nach Wochen oder Monaten, wenn außer Knochen nichts mehr übrig war. Wir hielten die Vorgänge und den zeitlichen Ablauf bei der Verwesung eines Menschen fest und bauten so eine Datenbank für verschiedene Zeiträume seit dem Tod auf - die erste und einzige dieser Art auf der ganzen Welt. Mit den vielen Daten verfolgte ich ein ganz einfaches Ziel: Wenn ein echtes Mordopfer unter beliebigen Bedingungen und in einem beliebigen Verwesungszustand gefunden wurde, wollte ich der Polizei eine wissenschaftlich begründete Auskunft darüber geben können, wann der betreffende Mensch getötet worden war.
Mittlerweile hatten meine Doktoranden und ich auf der Body Farm die Verwesung von mehr als 300 Leichen beobachtet. Als nun Bill Goodwin anrief und mich in einem Fall um Hilfe bat, in dem der Todeszeitpunkt von entscheidender Bedeutung war, erwiderte ich ziemlich selbstsicher: »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Was dann folgte, erschütterte mein Selbstvertrauen und stellte meine Glaubwürdigkeit in Frage. Die Vorgänge im Gerichtssaal waren selbst für mich eine Überraschung.
 
Die erwachsenen Opfer in diesem Mordfall hießen Darryl und Annie Perry. Ihre Tochter, erst vier Jahre alt, trug den Namen Krystal. Dass es in diesem Fall erst sechs Jahre nach den Morden zum Prozess kam, war für mich ein eindeutiges Zeichen, dass es sich um eine schwierige Angelegenheit handelte.
Die Polizei hatte einen Verdächtigen identifiziert und angeklagt; hier lag das Problem also nicht. Verschiedene indirekte Indizien brachten ihn mit dem Verbrechen in Verbindung, und er hatte sogar ein plausibles Motiv. Aber man konnte ihm den Mord nicht durch hieb- und stichfeste, unwiderlegliche Befunde beweisen: keine rauchende Pistole, kein verschmutztes Messer, keine blutigen Fingerabdrücke, keine Augenzeugenberichte. Außerdem hatte er für zwei volle Wochen vor dem Zeitpunkt, als die Leichen gefunden wurden, ein gutes Alibi. Das war der Grund, warum die Frage nach dem Todeszeitpunkt im Prozess von entscheidender Bedeutung sein würde: Wenn die Verteidigung die Geschworenen davon überzeugen konnte, dass die Familie irgendwann während dieser zwei Wochen noch am Leben war, mussten sie den Verdächtigen freisprechen.
Soweit man wusste, hatte es für den Mord außer dem Täter nur drei Zeugen gegeben: die Getöteten. Ich musste die Wahrheit von der Familie Perry selbst erfahren. Aber wie? Als ich angerufen wurde, waren die Leichen schon längst bestattet, und die Hütte, in der man sie gefunden hatte, war gesäubert und verkauft worden. Nur Fotos und Notizen erzählten noch die Geschichte vom Mord an dieser jungen Familie und insbesondere von dem Zeitpunkt, als er geschah. Deshalb bat ich Goodwin, mir alle verfügbaren Tatortfotos zu schicken, vor allem Detailaufnahmen von den Leichen. Als ich den Hörer auflegte, konnte ich nur hoffen, dass die Fotos mir genügend forensische Anhaltspunkte zur Lösung meiner Aufgabe liefern würden.
Zwei Tage später brachte UPS die Abzüge, und ich riss sofort den Umschlag auf. Wenig später war mir klar, dass meine Rechnung nicht aufgehen würde. Und wenn mir das auffiel, konnte ich ziemlich sicher sein, dass der Anwalt des Angeklagten oder zumindest seine gerichtsmedizinischen Berater es ebenfalls bemerken würden.
Eine Hälfte des forensischen Bildes war klar und eindeutig. Die Fotos zeigten die grotesk aufgedunsenen Leichen von Darryl, Annie und Krystal. Für mich war das ein vertrauter Anblick, den ich schon viele hundert Mal zuvor gesehen hatte. Als man die Leichen fand, waren Bakterien bereits fleißig dabei, die inneren Organe zu verflüssigen. Mit Magen und Darm hatten sie den Anfang gemacht, und als sie das weiche Gewebe verdauten, bliesen die dabei entstehenden Gase den Bauch der Leichen auf wie einen Ballon. Unter und neben den Toten waren dunkle, schmierige Flecken zu erkennen: flüchtige Fettsäuren, die beim Abbau der Gewebe freigesetzt wurden. Die Haare standen gerade im Begriff, sich als charakteristische, einheitliche Masse, die wir als »Haarmatte« bezeichnen, von den Köpfen zu lösen.
Die Fotos von Krystal gehörten zum Bedrückendsten, was ich jemals gesehen habe. Ihr nackter Körper ließ besonders deutlich erkennen, wie jung, wie klein, wie schutzlos sie gewesen war. Der Genitalbereich war stark verwest. Der Obduktionsbericht gab keine Auskunft darüber, ob sie sexuell missbraucht worden war, denn dazu war das weiche Gewebe bereits zu stark zerstört. So oder so war das Foto ein Bild der brutalen Gewaltanwendung.
Jeder normale Mensch würde beim Anblick solcher Bilder denken: »Du liebe Güte, was für ein entsetzlicher Anblick«, und sich dann so schnell wie möglich abwenden. Auf mich wirken sie ganz anders. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich verabscheue den Tod - ich habe zwei Ehefrauen durch Krebs verloren, und diese schrecklichen Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich den Tod hasse und Trauerfeiern schrecklich finde. Wenn ich aber einen Verbrechensschauplatz untersuche, sehe ich darin niemals den Tod, sondern immer ausschließlich einen Fall. Alle Beobachtungen, alle Gerüche sind Informationen, mögliche Schlüssel zur Aufdeckung der Wahrheit. Einmal arbeitete ich an der Aufklärung eines Wohnungsbrandes mit, bei dem mehrere kleine Kinder ums Leben gekommen waren. Was mir dabei Kummer bereitete, waren nicht die verkohlten Leichen, sondern der Anblick eines Dreirades und mehrerer anderer Spielzeuge, die verstreut im Garten lagen - Erinnerungen an das Leben, das durch den Brand ausgelöscht wurde.
Auf den Fotos vom Mordfall Perry suchte ich nach abgelöster Haut, frei liegenden Knochen, ausgegangenen Haaren und Insektenbesiedelung; daraus wollte ich ablesen, wie lange die Familie schon tot war. Wie jeder Fall, so war auch dieser ein wissenschaftliches Puzzle, und ich bemühte mich darum, alle Steine zusammenzufügen. Indem ich mir buchstäblich und im übertragenen Sinn jedes einzelne Stück aus der Nähe ansah, konnte ich einen chronologischen Ablauf rekonstruieren. Gleichzeitig schützte ich mich damit vor dem Entsetzen, das von dem Gesamtbild ausging.
Aus meinen jahrzehntelangen Forschungsarbeiten auf der Body Farm wusste ich, dass die Verwesung eine immer gleiche, vorhersagbare Abfolge von Vorgängen ist. Sie wiederholt sich bei Mordfällen auf der ganzen Welt und zu allen Jahreszeiten. Unterschiede gibt es nicht - jedenfalls nicht in der Reihenfolge. Abweichungen, und zwar sehr dramatische, findet man dagegen in der Geschwindigkeit. Und der wichtigste Faktor, der sie beeinflusst, ist die Temperatur.
Einerseits sagt einem das natürlich schon der gesunde Menschenverstand: Eine warme Leiche verwest schneller als eine kalte. Meinen Studenten habe ich immer gesagt: »Das ist der Grund, warum man Fleisch in den Kühlschrank legt und nicht in den Küchenschrank.« Höhere Temperaturen beschleunigen bei der Verwesung einer Leiche die Bakterientätigkeit und begünstigen auch die Insektenbesiedelung. Wie Menschen, so veranstalten auch die Käfer ihr Picknick am liebsten im Sommer. Aber um dieses Thema von der Ebene des gesunden Menschenverstandes auf die der wissenschaftlichen Präzision zu übertragen, mussten wir jahrelang Verwesungsgeschwindigkeiten messen und dabei beobachten, wie diese Geschwindigkeit sich in Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchtigkeit verändert. Am Ende hatten wir eine mathematische Formel entwickelt, die unsere Beobachtungen quantitativ erfasste. Diese Formel ermöglichte es uns in Verbindung mit den Wetterdaten vom Tatort, die Zeit seit dem Tod bei jeder nur denkbaren Temperatur zu berechnen.
Der Schlüssel war eine Maßeinheit, die wir als accumulated degree days (ADD) bezeichneten. Vereinfacht gesagt, bezeichnet sie die Gesamtheit der durchschnittlichen Tagestemperaturen. Zehn Sommertage mit einer Durchschnittstemperatur von 22 Grad würden beispielsweise insgesamt 220 ADD ergeben, genau wie zwanzig Wintertage mit einer Durchschnittstemperatur von elf Grad. Eine Leiche mit 220 ADD zeigt unabhängig von der Jahreszeit immer ähnliche Verwesungserscheinungen: Sie ist aufgebläht und durch die erweiterten, dunkelrot gefärbten Fettsäuren treten aus. Bei unseren Experimenten auf der Body Farm ermittelten wir die ADD für viele verschiedene Zeiträume vom Augenblick des Todes an und hielten jeweils fest, welcher Verwesungszustand einem bestimmten ADD-Wert entspricht. Bei forensischen Ermittlungen gingen wir dann genau umgekehrt vor: Wir verfolgten die Wetterdaten vom Tatort in die Vergangenheit, bis der ADD-Wert dem tatsächlichen Verwesungszustand der vorgefundenen Leiche entsprach.
In diesem Fall konnte ich an den Tatortfotos erkennen, dass die Leichen der Perrys sich in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand befanden, in dem die Aufblähung nachlässt und das Gewebe endgültig abgebaut und verflüssigt wird. Nach meiner Schätzung entsprach die Verwesung der Perry-Leichen ungefähr 270 ADD. Im nächsten Schritt mussten wir nun herausfinden, welches Wetter in Mississippi während der Wochen vor dem Leichenfund geherrscht hatte.
Ich bat Bill Goodwin, mir die Temperaturwerte von Magnolia für die Monate November und Dezember zu besorgen. Die Zahlen zeigten, dass es ein recht kalter Herbst gewesen war. Zwischen Mitte November und Mitte Dezember war die Temperatur in acht Nächten bis auf den Gefrierpunkt oder darunter gesunken. Als ich den Temperaturverlauf zurückverfolgte, gelangte ich zu dem Schluss, dass die Familie bereits 25 bis 35 Tage tot war, als sie gefunden wurde.
Nur eines passte nicht ganz ins Bild: die Maden. Die Leichen waren von Maden bedeckt, den Larven der Schmeißfliegen. Während Bakterien eine Leiche von innen nach außen auffressen, beginnen die Schmeißfliegen an der Oberfläche und arbeiten sich nach innen vor. Mit Hilfe der Insekten und Mikroorganismen holt die Natur uns auf äußerst effiziente Weise zurück: In einem heißen Sommer in Tennessee kann aus einer frischen Leiche in nur zwei Wochen ein nacktes Skelett werden. Die Gesichter von Darryl und Annie waren von Madenschwärmen bedeckt. Das Fleisch war bereits größtenteils abgebaut, sodass der Schädel hervortrat. Große Massen von Maden waren auch an anderen Stellen zu erkennen, wo sich dem Obduktionsbericht zufolge die Stichwunden - und damit Blut - befunden hatten.
Schmeißfliegen sind ganz wild auf Blut. Sie riechen es über Kilometer hinweg. Auf einer blutigen Leiche sammeln sie sich bei warmem Wetter zu Tausenden. Sie fressen dort und legen Eier, aus denen nur wenige Stunden später die Maden schlüpfen.
Darryl hatte Verteidigungswunden an den Händen sowie die tödlichen Stiche an Brust und Bauch. Bei Annie hatte man an verschiedenen Körperstellen insgesamt acht Stichwunden gefunden. Alle waren stark von Maden besiedelt. Das Gleiche galt für Krystals Genitalien - gerade solche dunklen, feuchten Körperöffnungen sind bei Insekten besonders beliebt. Ansonsten war die Leiche des Mädchens nicht so stark verwest wie die Eltern, und das hatte zwei Gründe: Da sie viel kleiner und schlanker war, verweste sie auch langsamer, ein Phänomen, das wir bei unseren Untersuchungen auf der Body Farm immer wieder beobachtet hatten. Und da sie nicht erstochen, sondern erdrosselt wurde, war kein Blut ausgetreten; deshalb war sie für Fliegen und Maden weniger anziehend.
Manche Maden auf den Tatortfotos waren mehr als einen Zentimeter lang und befanden sich im »dritten Larvenstadium«, wie Insektenforscher es nennen. Einfach ausgedrückt, bedeutet das: Sie waren ausgereift und standen kurz davor, sich zu verpuppen und in erwachsene Fliegen zu verwandeln. Daraus konnte ich ablesen, dass die Maden ungefähr zwei Wochen zuvor aus den Eiern geschlüpft waren. Das wusste ich aus Untersuchungen, die wir in den achtziger Jahren auf der Body Farm durchgeführt hatten. Damals hatte Bill Rodriguez, einer meiner Doktoranden, monatelang die Reihenfolge und den zeitlichen Ablauf der Insektentätigkeit auf Leichen beobachtet.
Aber so genau ich auch hinsah - mit bloßem Auge und mit einem Vergrößerungsglas -, eines fehlte auf den Fotos: Ich konnte keine einzige Puppenhülle finden. Das machte die Sache komplizierter. Nach dem Verwesungszustand zu urteilen, waren die Perrys Mitte November umgebracht worden. Die Maden dagegen - und das Fehlen von Puppenhüllen - ließen darauf schließen, dass der Mord sich um den 2. Dezember ereignet hatte. Und vom 2. Dezember an hatte der Verdächtige ein Alibi. Die Anklage hatte eine Menge Arbeit vor sich. Ich auch.
Goodwin hatte mich am 18. Mai zum ersten Mal angerufen. Zwei Wochen später machte ich mich auf die zehnstündige Fahrt nach Mississippi zum Prozess gegen den Mann, den man des Mordes an der Familie Perry verdächtigte.
 
 
Darryl, Annie und Krystal hatten in Marrero gelebt, einem Vorort von New Orleans; dort wohnten auch Darryls Mutter Doris Rubenstein und ihr Mann Michael, ein Taxifahrer. Anfang der neunziger Jahre hatte Michael - Mike - knapp 200 Kilometer nördlich in dem 130 Meter hoch gelegenen Summit eine Hütte als Zufluchtsort für ruhige Wochenenden gekauft. Im November 1993 war die Familie Perry für einen längeren Aufenthalt dorthin gefahren.
Am 5. November 1993 brachte Mike sie mit dem Auto zu der Hütte und setzte sie ab. Das junge Paar hatte Verwandten erzählt, sie hätten Eheprobleme und müssten ein wenig Ruhe haben, um die Sache ins Reine zubringen. Nun gut, Ruhe hatten sie in Summit wirklich: Abgesehen von der Hauptstraße, die den Ort in zwei Teile zerschnitt, gab es nur wenige befestigte Straßen, und die Bürgersteige wurden bei Sonnenuntergang hochgeklappt. In der Hütte gab es nicht einmal ein Telefon.
Mike fuhr im Laufe des November noch zweimal nach Summit, um nachzusehen, ob sie für die Heimreise bereit wären. Beide Male fand er die Hütte aber dunkel und verschlossen vor, und er hatte vergessen, seinen eigenen Ersatzschlüssel mitzubringen. Wie er später berichtete, hatte ein Nachbar ihm bei seinem zweiten Besuch erzählt, die Perrys seien in einen verrosteten braunen Van gestiegen und mit zwei Männern, die verdächtig nach Drogenhändlern aussahen, weggefahren. Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen. Am 16. Dezember schließlich fuhr Mike noch einmal zu der Hütte, und dieses Mal hatte er seinen Schlüssel dabei. Als er eintrat, fand er Darryl und Annie tot auf dem Fußboden des Wohnzimmers, Krystals Leiche lag auf einem Bett.
Sofort lief Mike zum nächsten Telefon - es befand sich fast einen halben Kilometer entfernt in einem Gemischtwarenladen an der Straße - und rief die Polizei des Kreises Pike an. Der Beamte, der daraufhin kam, fand Mike im Freien hinter der Hütte vor. »Sie sind da drin«, sagte er. »Sie sind tot. Ihre Augen sind weg.«
Kurz nach dem Beamten kam Allen Applewhite dazu, ein Polizist der Autobahnpolizei von Mississippi, der später die Ermittlungen in dem Fall leitete. Applewhite war von dem Anblick in der Hütte entsetzt. Die Leichen waren bereits stark verwest, und es herrschte ein betäubender Gestank. Die Körper von Darryl und Annie waren aufgebläht und blutüberströmt. Krystal lag nackt auf dem Rücken, Gesicht und Geschlechtsorgane waren bereits von den Maden zerstört. Applewhite hatte selbst zwei Töchter. Das Bild dieses kleinen Mädchens, das jemand ohne erkennbaren Grund hingemetzelt hatte, ließ ihn nicht mehr los.
Aber es dauerte nicht lange, dann war ein mögliches Motiv gefunden - und ein schockierender Verdächtiger. Nur 24 Stunden nachdem er die Polizei gerufen hatte, stellte Michael Rubenstein den Antrag auf Auszahlung einer Lebensversicherung von einer Viertelmillion Dollar. Die versicherte Person war Krystal, Mike Rubensteins vierjährige Enkeltochter.
Als Applewhite von der Versicherungspolice erfuhr, besorgte er sich sofort eine Kopie davon. Mike und Doris hatten den Vertrag über 250 000 Dollar im September 1991 abgeschlossen, als Krystal zwei Jahre alt war. Als Applewhite das Kleingedruckte las, stieß er auf etwas, das ihm das Blut gefrieren ließ. Der Vertrag beinhaltete eine zweijährige Wartezeit, bevor Ansprüche geltend gemacht werden konnten. Und knapp drei Monate nachdem die Versicherungssumme ausgezahlt werden konnte, war Krystal tot. Eines weiß jeder gute Detektiv: Wenn bei einem Verbrechen Geld im Spiel ist, muss man der Spur des Geldes folgen. Diese Spur führte schlicht und ergreifend zu Michael und Doris Rubenstein.
Dass eine Frau in den Mord an ihrem eigenen Sohn und der Enkeltochter verwickelt war, erschien unwahrscheinlich, aber die Polizei musste auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Was Applewhite jedoch über Doris Rubenstein in Erfahrung brachte, passte nicht zum Bild der kaltblütigen Mörderin. Allerdings war Doris auch nicht gerade ein bewundernswertes Beispiel für mütterliche Liebe und großmütterliche Güte. Ihre größte Liebe galt offenbar dem Alkohol und den Tabletten. Sie wirkte häufig wirr im Kopf, betrunken und von Drogen benebelt - eine unfähige, vielleicht sogar bemitleidenswerte Frau, aber vermutlich keine Gefahr für irgendeinen Menschen außer für sich selbst.
Als der Ermittler sich jedoch mit Doris’ Mann Michael beschäftigte, kristallisierte sich ein ganz anderes Bild heraus - das Bild eines leistungsfähigen, gerissenen, gefährlichen Mannes. Rubenstein hatte eine ganze Reihe von Versicherungsbetrügereien auf dem Kerbholz, mit gefälschten Ansprüchen an Feuerversicherungen, inszenierten Autounfällen und vorgetäuschten Verletzungen. Daran hatte eine ganze Reihe von Personen mitgewirkt. Ein besonders erschreckender Fall hatte sich Jahre zuvor in Anwesenheit eines zwölfjährigen Jungen namens Darryl Perry abgespielt, des Sohnes von Rubensteins damaliger Freundin Doris Perry.
Man schrieb das Jahr 1979. Rubenstein hatte sich gerade mit einem neuen Geschäftspartner namens Harold Connor zusammengetan. Die beiden lernten sich kennen, als Rubenstein sich an eine örtliche Arbeitsagentur wandte und sich nach Arbeitslosen erkundigte, die ihm bei der Herstellung und dem Vertrieb eines Werbeblattes mit den Programmen der örtlichen Fernsehsender helfen konnten. Da er Connor einarbeiten wollte - und da es für ihn ein Risiko war, mit einem unerfahrenen Partner zusammenzuarbeiten -, verlangte er, dass Connor eine Lebensversicherung abschloss und Rubenstein als Begünstigten benannte. Der Wert, den sie Connors Leben beimaßen, belief sich auf 240 000 Dollar.
Der Versicherungsvertrag wurde im August 1990 abgeschlossen. Hirschjagd ein. Connor lehnte ab: Er war noch nie zuvor auf die Jagd gegangen und hatte Verwandten sogar erzählt, der Gedanke, Tiere zu töten, sei ihm zuwider. Aber Rubenstein blieb hartnäckig. Um des lieben Friedens mit seinem neuen Partner willen stimmte Connor schließlich zu. An einem kalten Morgen im November fuhren sie nach Evangeline Parish in Louisiana, stellten den Wagen auf der Lone Pine Road ab und gingen zu Fuß in den Wald. Zu der Jagdgesellschaft gehörten auch ein anderer Sohn von Doris namens David Perry, ein Mann namens Michael Fornier, der kurz zuvor vorzeitig aus einem Bundesgefängnis entlassen worden war, und der junge Darryl.
Connor kehrte von seinem ersten und einzigen Jagdausflug in einem Leichensack zurück. Die Geschichte, die Rubenstein und die anderen erzählten, zeichnete das klassische Bild eines tragischen Jagdunfalls: Als Fornier über einen umgestürzten Baumstamm kletterte, entglitt ihm seine zwölfschüssige Schrotflinte. Der Gewehrkolben schlug auf den Boden, und ein Schuss löste sich. Connor, der unmittelbar vor Fornier stand, wurde mitten in den Rücken getroffen. Der Schrot drang in den Brustkorb und durchlöcherte sein Herz.
Diese Geschichte erzählte Rubenstein nicht nur den Wildhütern und dann der Polizei, sondern auch einem Versicherungsvertreter der Mutual of New York, die den Vertrag über 240 000 Dollar abgeschlossen hatte. Aber die Versicherung hatte eine schlechte Nachricht für Rubenstein: Er konnte die Versicherungsleistung noch nicht beanspruchen. Wie viele Lebensversicherungen, so beinhaltete auch diese eine zweijährige Wartezeit. Connors Tod war um 21 Monate zu früh gekommen.
Daraufhin strengte Rubenstein einen Prozess gegen Mutual of New York an. Er behauptete, man habe ihn über die Wartezeit nicht informiert. In der Gerichtsverhandlung rief die Versicherungsgesellschaft als Zeugen einen Sachverständigen auf: Dr. Ronald Singer, einen forensischen Pathologen aus Texas und Experten für Ballistik. Dieser machte auf den Winkel von Ein- und Austrittsöffnungen aufmerksam und erklärte dann, die Schrotflinte könne unmöglich losgegangen sein, als ihr Kolben auf dem Boden aufschlug. Nach Singers Angaben musste sich das Gewehr auf Schulterhöhe befunden haben, um die tödliche Verletzung hervorzurufen. Mit anderen Worten: Die Waffe war nicht zufällig zu Boden gefallen. Sie wurde sorgfältig auf ihr Ziel gerichtet, gespannt und abgefeuert.
Als Officer Applewhite die Vorgänge um Connors Tod und den Lebensversicherungsvertrag erfuhr, fielen ihm sofort die Parallelen zum Tod von Krystal Perry auf. Ebenso bemerkte er auch einen entscheidenden Unterschied: In Krystals Fall hatte sich der grausige Tod unmittelbar nach Ende der zweijährigen Wartezeit ereignet - und erst dann war Anspruch auf die Versicherungsleistung erhoben worden. Für Applewhite sah es so aus, als habe Rubenstein aus seinem Fehler im Jahr 1979 gelernt und sorgfältig darauf geachtet, beim zweiten Mord alles richtig zu machen. Bemerkenswerterweise deutete mein gerichtsmedizinischer Bericht darauf hin, dass die Morde irgendwann um den 15. November begangen wurden, ein Datum, das fast genau mit einem der von ihm eingestandenen Besuche bei der Hütte zusammenfiel.
Ein ganzes Jahr lang sammelte Applewhite Indizien gegen Rubenstein. Als er dann aber mit seinen Erkenntnissen zum Distriktsanwalt des Kreises Pike ging und ihn drängte, Rubenstein festnehmen zu lassen, erhielt er nicht die gewünschte Antwort. Der Staatsanwalt Dun Lampton erklärte, er könne den Fall Perry nur mit handfesten Beweisen weiterverfolgen, und Applewhite habe nur indirekte Indizien in der Hand. Die Viertelmillion Dollar war zwar zugegebenermaßen ein starkes Motiv, und Rubenstein hatte auch früher schon eindeutig fragwürdige Geschäfte gemacht, Versicherungen betrogen und vermutlich sogar einen Mord begangen. Außerdem hatte er sicher mehr als genug Gelegenheiten gehabt, die Familie Parry umzubringen: Immerhin gehörte ihm die Hütte, und er selbst hatte die drei dorthin gebracht. Und er hatte sogar gestanden, dass er später noch zweimal bei der Hütte gewesen war. Aber das alles war kein hieb- und stichfester Beweis seiner Schuld.
Applewhite war verblüfft und frustriert. Als er Darryls leiblichem Vater Mack Perry berichtete, dass man gegen Rubenstein keine Anklage erheben werde, fing dieser an zu weinen. Aber Applewhite versprach ihm, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Er blieb Rubensteins Versicherungsbetrug und anderen Gaunereien weiterhin auf der Spur, und der Berg der Indizien wuchs weiter. Im September 1995 erfuhr Applewhite zu seinem Erstaunen, dass eine weitere Person aus Rubensteins Umfeld zu Schaden gekommen war: Laron Rosson, ein neuer Geschäftspartner. Er war an einem Samstagmorgen zu Rubenstein ins Auto gestiegen und dann spurlos verschwunden. Kurz zuvor hatte er seinem Partner eine Lastwagenladung mit teuren Antiquitäten übergeben, die mit ungedeckten Schecks bezahlt waren.
Im Juli 1998 gab es für Applewhite endlich einen Hoffnungsschimmer: In diesem Monat befand ein Geschworenengericht in Mississippi einen Angeklagten für schuldig, seinen vierjährigen Sohn ertränkt zu haben, und das Urteil gründete sich ausschließlich auf indirekte Indizien. Das Motiv des Mannes war eine Lebensversicherung von 100 000 Dollar gewesen. Applewhite ging zu Lamptons Assistenten Bill Goodwin - er war der Staatsanwalt, der den Prozess gerade gewonnen hatte - und appellierte an ihn: »Bill, wir haben bessere Argumente als in diesem Fall. Es sind nicht nur 100 000 Dollar, sondern 250 000, und es geht nicht nur um ein Opfer, sondern um drei.«
Zwei Monate später legte der Distriktsstaatsanwalt Applewhites Indizien einem Geschworenengericht vor. Rubenstein wurde wegen der Morde an der Familie Perry und wegen Versicherungsbetrug angeklagt und von Louisiana nach Mississippi ausgeliefert. Im Juni 1999 begann der Prozess.
Das Fehlen handfester Beweise war nicht das einzige Problem, mit denen die Ankläger zu kämpfen hatten. Der Todeszeitpunkt war unter anderem deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil Rubenstein eine Zeugin präsentierte: Tanya Rubenstein - sie war bequemerweise seine Nichte - sagte aus, sie habe Annie Perry gesund und munter in einer Bar in New Orleans gesehen. Ihren Angaben zufolge war das am 2. Dezember gewesen, 14 Tage bevor die Leichen gefunden wurden. Und für die Zeit zwischen dem 2. und 16. Dezember hatte Rubenstein ein wasserdichtes Alibi. Wenn Darryl, Annie und Krystal tatsächlich am 2. Dezember noch am Leben waren, konnte Rubenstein sie nicht ermordet haben. Falls wir aber mit den Methoden der forensischen Wissenschaft nachweisen konnten, dass sie an diesem Tag bereits tot waren, war die Glaubwürdigkeit der Nichte erschüttert, und damit war auch Rubensteins Alibi gegenstandslos.
Das würde die Verteidigung nicht kampflos zulassen. Dieses Mal war es ein Kampf um Maden.
Seit ich die Tatortfotos zum ersten Mal gesehen hatte, musste ich immer wieder über die fehlenden Puppenhüllen nachgrübeln. Hätte ich sie gesehen, wäre ich sicher gewesen, dass die Besiedlung mit Maden bereits deutlich vor dem 2. Dezember begonnen hatte. Ohne sie jedoch konnte ich definitiv nur sagen, dass die Maden sich seit ungefähr zwei Wochen auf den Leichen befanden. Natürlich hatten die kühleren Temperaturen die Aktivität der Schmeißfliegen und Maden vermindert: Unter elf Grad gehen Schmeißfliegen in einen Ruhezustand über, und während eines großen Teils der fraglichen Zeit lag die Temperatur deutlich darunter. Deshalb war ich zuversichtlich, dass ich mit meiner Schätzung von 25 bis 35 Tagen Recht hatte. Aber würden die Geschworenen meine Zuversicht teilen? Diese Frage bereitete mir Sorgen, insbesondere weil die Verteidigung immer wieder auf der Tatsache herumritt, dass ich kein Insektenfachmann war.
Nach nur wenigen Stunden setzte die Jury den Richter in Kenntnis, dass die Beratungen festgefahren waren: Es stand 11 zu 1 für eine Verurteilung. Der Richter erklärte die Verhandlung für gescheitert, und die Ankläger begaben sich wieder an ihre Schreibtische, um die Neuauflage des Verfahrens vorzubereiten. Zur Stärkung ihrer Position zogen Goodwin und Lampton insektenkundliche Verstärkung hinzu: meinen früheren Studenten Bill Rodriguez, der mittlerweile als weltweit führender Experte für die Insektenbesiedlung menschlicher Leichen galt.
 
 
Der zweite Prozess begann am 21. Januar 2000. Wenige Tage später rief Goodwin mich in den Zeugenstand. Wir gingen kurz meine Qualifikationen und wissenschaftlichen Leistungen durch, darunter auch die Forschungsarbeiten auf der Body Farm. Daraufhin wurde ich auch dieses Mal als Sachverständiger für forensische Anthropologie anerkannt. Anschließend erklärte ich den neuen Geschworenen genau wie in der ersten Verhandlung, wie ich zu meiner Schätzung für den Todeszeitpunkt gelangt war.
Als der Verteidiger an der Reihe war, mich ins Kreuzverhör zu nehmen, versuchte er sofort, meine Schätzung unglaubwürdig zu machen. Wie nicht anders zu erwarten, sprach er zunächst den Fall des Colonel Shy an, bei dem ich mich in der seit dem Tod verstrichenen Zeit um fast 113 Jahre verschätzt hatte. Ich erwiderte, dieser Fall sei der Grund gewesen, warum wir mit unserem Forschungsprogramm auf der Body Farm begonnen hätten. Auch mit dem nächsten Argument hatte ich gerechnet: Er konzentrierte sich auf die Maden und die Tatsache, dass sie sich im Zwei-Wochen-Stadium befanden. Ich wies darauf hin, dass die kühleren Temperaturen ihre Entwicklung vermutlich verlangsamt hatten, aber er ritt immer weiter auf der Zeit von 14 Tagen herum.
Ich erwiderte, man müsse noch einen weiteren Faktor in Betracht ziehen, der mir erst deutlich geworden war, als ich mehr über den Tatort erfahren hatte. Ja, die Maden befanden sich in dem typischen 14-Tage-Stadium. Aber die Leichen lagen in einem geschlossenen Raum - sie waren in der Hütte eingeschlossen. Und bei dieser Hütte handelte es sich nicht um ein zugiges Bauwerk aus rohen Baumstämmen, deren Ritzen mit Lehm abgedichtet waren; vielmehr war sie aus soliden Balken von fünf mal zehn Zentimetern erbaut, die flach übereinander lagen. Der Mann, der sie errichtet hatte, arbeitete in einer Holzhandlung und konnte solche Balken offenbar umsonst oder zumindest sehr billig bekommen, deshalb baute er die ganze Hütte daraus. Selbst die Innenwände bestanden aus dicht an dicht stehenden Vierkanthölzern. Es gab schlicht und einfach kaum Öffnungen, durch die Insekten hätten eindringen können.
Ich erklärte, die scheinbare Diskrepanz zwischen Verwesungszustand und Insektenbesiedelung müsse in Wirklichkeit nicht unbedingt ein Widerspruch sein. Es hatte einfach eine Zeit lang gedauert, bis die Schmeißfliegen den Todesgeruch im Inneren der Hütte bemerkten - und noch länger brauchten sie, bis sie zwischen den dicht an dicht stehenden Balken ihren Weg gefunden hatten. Die zwei Wochen, in denen die Fliegen aktiv waren, waren also nur eine Untergrenze - das absolute Minimum - für die Zeit, die seit dem Tod vergangen war. In Wirklichkeit lag der Todeszeitpunkt vermutlich viel länger zurück, darauf wiesen die anderen Verwesungsmerkmale eindeutig hin.
Auf meine Zeugenaussage folgte die meines früheren Studenten Bill Rodriguez. Er hatte die Zeit seit dem Tod unabhängig von mir ebenfalls auf fast einen Monat geschätzt - auch das auf Grund des kalten Wetters und der Tatsache, dass die Leichen relativ unzugänglich waren. Goodwin hoffte, das Insektenproblem sei durch uns beide aus der Welt geschafft. Als die Anklage zwei Tage später ihren Teil der Beweisaufnahme abschloss, war ich bereits wieder in Knoxville. Jetzt war die Verteidigung an der Reihe.
Ohne dass Bill Goodwin zuvor etwas davon gewusst hätte, bot die Verteidigung einen Überraschungszeugen auf: den Insektenforscher Neal Haskell, der kurz zuvor zusammen mit mir im Fall des Zoomannes von Knoxville als Zeuge der Anklage aufgetreten war. Er war 1998 zum zweiten Mal auf die Body Farm gekommen, um seine Vergleichsuntersuchungen der Insektenbesiedelung von menschlichen Leichen und Schweinekadavern auszuweiten. Jetzt sagte Neal in einem Mordfall zu Gunsten der anderen Seite aus. Das ist nichts Ungewöhnliches: Die Welt der forensischen Wissenschaft ist klein, und früher oder später wird immer irgendjemand, mit dem man in einem Fall zusammengearbeitet hat, in einem anderen auf der Gegenseite stehen. Aber als Bill Goodwin mich anrief und mir berichtete, was im Richterzimmer besprochen worden war, nachdem er Widerspruch gegen Haskells Auftritt als Überraschungszeuge eingelegt hatte, traf es mich völlig unvorbereitet: Der Verteidiger hatte angekündigt, Haskell werde nicht nur seine Behauptung unterstützen, wonach die Todesfälle sich nach dem 2. Dezember ereignet hatten, sondern er wolle auch bezeugen, dass ich im Fall des Zoomannes einen Meineid geleistet hätte - ich hätte gelogen, um der Anklage zu helfen.
Wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten sind das eine, der Vorwurf des Meineides aber ist ganz etwas anderes. Es war ein Schlag ins Gesicht, widersprach es doch allem, wofür ich persönlich und beruflich einstand. 40 Jahre zuvor hatte Dr. Wilton Krogman mir eine grundlegende ethische Regel eingebläut: In einem Prozess war es nicht meine Aufgabe, der Anklage oder der Verteidigung zu Diensten zu sein; meine Funktion - meine einzige Funktion - bestand darin, die Wahrheit aufzudecken und so dem Opfer eine Stimme zu geben. Als Bill Goodwin mich im Fall Perry zum ersten Mal nach meiner Schätzung des Todeszeitpunktes fragte, bat ich ihn sofort, mir nichts über Theorien oder Vermutungen der Anklage zu erzählen. Wäre ich der Ansicht gewesen, dass die Familie am 2. Dezember oder noch später getötet worden war, hätte ich das gesagt und jede beliebige Folge in Kauf genommen; die Nachricht, dass Haskell meine Ehrlichkeit anzweifelte, machte mich wütend.
Noch beunruhigender als meine persönliche und berufliche Verärgerung jedoch war, dass Haskells Aussage der Argumentation der Anklage erheblich schaden konnte: Wenn die Geschworenen Haskells Vorwurf Glauben schenkten, ließen sie möglicherweise eine ganze Reihe überzeugender forensischer Indizien außer Acht. Goodwin hörte sich am Telefon meinen Wutausbruch an und bat mich dann, noch einmal nach Mississippi zu fliegen und den Vorwurf des Meineides zurückzuweisen. Keine zehn Pferde hätten mich zurückhalten können.
 
 
Wieder saß ich in dem Gerichtssaal in Magnolia, und dieses Mal wartete ich darauf, meinen guten Namen verteidigen zu können. Aber als Haskell aussagte, beschuldigte er mich weder des Meineides noch der Lüge; er sagte nur, ich hätte bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes von Patricia Johnson einen Fehler gemacht. Vielleicht hatte der Anwalt der Verteidigung nur geblufft, vielleicht hatte auch Goodwin etwas missverstanden. Was der Grund auch sein mochte, ich war immer noch erpicht darauf, die näheren Umstände zu erläutern: Noch einmal berichtete ich über die Vorgänge an der Cahaba Lane an jenem Tag, als ich verkündete, die Leiche sei zu frisch für mich; ich erzählte, wie ich dann auf die hartnäckigen Nachfragen eines Polizisten die Vermutung geäußert hatte, sie habe ein bis zwei Tage dort gelegen. Wie im Huskey-Prozess wies ich ausdrücklich darauf hin, dass ich die Leiche sofort dem medizinischen Sachverständigen übergeben hatte, ohne sie auch nur zu berühren. Mindestens zum hundertsten Mal bereute ich diese voreilig geäußerte Vermutung, die mir seither immer wieder zu schaffen gemacht hatte.
Als ich anschließend wartete und mir Sorgen machte, geschah etwas Erstaunliches. Rubensteins Anwalt rief die Pathologin aus der Behörde des medizinischen Sachverständigen des Kreises in den Zeugenstand. Im Rahmen ihrer Aussage zeigte die Pathologin vergrößerte Fotos von der Obduktion. Diese Aufnahmen hatte ich nie gesehen - ich wusste bis zu jenem Augenblick noch nicht einmal, dass sie überhaupt existierten.
Und plötzlich war es da. In einer Nahaufnahme von Krystals Gesicht und Kopf sah ich es zwischen ihren Haarwurzeln: ein winziges braunes Gebilde, ungefähr von der Größe und Form eines wilden Reiskorns. Bei näherem Hinsehen erkannte ich noch mehr solche Objekte. Von meinem Platz im Gerichtssaal beugte ich mich über die Brüstung und flüsterte Bill Goodwin zu: »Sie müssen den Prozess unterbrechen. Sie müssen mich noch einmal in den Zeugenstand rufen.«
Schnell beantragte Goodwin eine Beratungspause, sodass wir uns unterhalten konnten. Aufgeregt erklärte ich ihm, was ich auf dem Foto gesehen hatte: die leeren Puppenhüllen, nach denen ich die ganze Zeit gesucht hatte - Gehäuse, welche die Maden zurücklassen, wenn sie ihren Lebenszyklus vollenden und sich in erwachsene Fliegen verwandeln. Wie eine Raupe, die sich in einen Kokon einspinnt und dann als Schmetterling wieder hervorkommt, so zieht sich auch eine Made in ein schützendes Gehäuse zurück, bevor ihr Flügel wachsen. Es ist paradox: Wir finden Raupen niedlich und Schmetterlinge schön, aber von Maden fühlen wir uns abgestoßen, und vor Fliegen ekeln wir uns. Für mich haben auch Maden und Fliegen ihre eigene Schönheit. Das galt insbesondere in diesem Fall: Es war, als wären meine Gebete hier, mitten im Gerichtssaal, erhört worden.
Die Puppenhüllen waren der wissenschaftliche Beweis dafür, dass Schmeißfliegen schon vor mehr als zwei Wochen an den Leichen gefressen und ihre Eier abgelegt hatten. Selbst wenn man davon ausging, dass sie in die kalte, solide gebaute Hütte eingedrungen waren und dann schon nach wenigen Minuten die ersten Eier abgelegt hatten, konnte Annie Perry am 2. Dezember nicht mehr in einer Bar in New Orleans gewesen sein. Wie Darryl und Krystal, so war auch sie am 2. Dezember bereits tot und lag verwest in der Hütte. Endlich hatten wir den entomologischen Beweis; jetzt passten alle Teile des forensischen Bildes zusammen.
Am 3. Februar 2000 zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Nur fünf Stunden später stand das Urteil fest. Sie hatten Rubenstein des schweren Mordes in drei Fällen für schuldig befunden. Für die Morde an Darryl und Annie Perry verhängten sie lebenslange Freiheitsstrafen, für den Mord an Krystal jedoch - dem »Geldkind«, wie Goodwin und Applewhite sie nannten - verurteilten sie ihn zum Tode. Irgendwie erschien es angemessen: Die Geschworenen waren überzeugt, dass Rubenstein drei Angehörige seiner eigenen Familie getötet hatte, drei Menschen, die ihn kannten und ihm vertrauten; jetzt war er derjenige, der hingerichtet werden sollte.
Jeder Mord ist in irgendeiner Form schlimm und brutal, aber dieser Fall war mit seiner kalten Berechnung und Unmenschlichkeit besonders schockierend. Michael Rubenstein erstach den Sohn seiner Frau. Er erstach seine Schwiegertochter. Und er erdrosselte ein vierjähriges Kind. Vermutlich hatte er auch die beiden Geschäftspartner umgebracht. Wenn ich mit meiner Fachkenntnis dazu beitragen kann, dass auch nur ein derart bösartiges Exemplar der Spezies Mensch unschädlich gemacht wird, haben sich meine jahrelangen Studien und Forschungsarbeiten gelohnt.
Während des Prozesses wohnten Carol und ich in der gleichen Pension, in der auch der Vater und die Stiefmutter von Darryl Perry abgestiegen waren. Die beiden waren nach dem Verlust von Darryl, Annie und Krystal am Boden zerstört. Eines Morgens - ich war bereits zum Gericht gefahren - sprach Mr. Perry, ein schüchterner, ruhiger Mann, Carol in der Küche an. Den Blick zu Boden gerichtet, sagte er: »Sagen Sie bitte Ihrem Mann, wir danken ihm sehr dafür, dass er hergekommen ist und uns geholfen hat.« Als sie aufblickte, liefen ihm die Tränen über die Wangen.
Doris Rubenstein reichte die Scheidung ein, nachdem Mike wegen des Mordes an ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkeltochter verurteilt war. Ob sie wirklich geschieden wurde, weiß ich nicht, aber in jedem Fall lebte sie nicht mehr lange genug, um Freude daran zu haben. Vor kurzem wurde sie tot aufgefunden. Herzversagen.
Rubenstein hat Berufung gegen die Todesstrafe eingelegt, und das Verfahren wird sich noch über Jahre hinziehen. Ich muss immer wieder daran denken, dass Darryl, Annie und Krystal keine Chance hatten, um ihr Leben zu bitten. Rubensteins Hinrichtung würde die Menschen, die er getötet hat, nicht wieder lebendig machen, aber sie könnte andere davor schützen, das gleiche Schicksal zu erleiden.
Wenn es in diesem Fall - außer der forensischen Wissenschaft, die eine Anklage gegen Rubenstein erst möglich machte - einen Helden gibt, dann ist es Allen Applewhite, Beamter bei der Autobahnpolizei, der den Fall nicht auf sich beruhen lassen wollte. Er verfolgte die Sache jahrelang weiter, auch als keine Hoffnung auf ein Verfahren zu bestehen schien. Er grub einen Berg von Indizien gegen Rubenstein aus, einen Mann, der für ihn später nach eigenen Angaben »das Böse in Reinkultur« war. Von der Heimtücke und der Verdorbenheit, die er bei Rubenstein ans Licht brachte, war Allen so tief getroffen, dass er noch heute ein Foto des Mörders in seinem Polizeiauto hat. Es soll ihn daran erinnern, wie viel auf dem Spiel stehen kann, wenn man einen Mörder verfolgt. Als die Geschworenen im ersten Verfahren in der Sackgasse steckten und der Richter den Prozess für gescheitert erklärte, hatte Allen geweint; nachdem die zweite Jury den Angeklagten für schuldig befunden hatte, ging er nach Hause und nahm seine eigene vierjährige Tochter ganz fest in die Arme.