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Mit unbekanntem Ziel verreist
Das Klingeln des Telefons klang verblüffend laut in der Stille. Es war Juli, und die Universität war mehr oder weniger eine Geisterstadt. Verlassen und nur schwach erleuchtet, lagen die Korridore unter dem Neyland Stadium. Die meisten Studenten und Dozenten hatten sich Ende Mai verabschiedet und würden erst Ende August wieder auf der Bildfläche erscheinen. Verständlicherweise nutzte jeder gern die Gelegenheit, den Tiefen des Stadions zu entkommen. Ich dagegen verbrachte praktisch jede wache Minute in meinem düsteren, staubigen Büro. Anns Tod lag schon einige Monate zurück, aber ich konnte die Leere in unserem Haus immer noch nicht ertragen. Bei der Arbeit war ich von Menschen umgeben. In ihrer Mehrzahl waren sie zwar schon tot, aber deshalb trösteten sie mich nicht weniger. Sie hatten mir ihre Geschichte erzählt und waren Teil meines Lebens geworden; es waren Kameraden, die mich nie verlassen würden. Außerdem wusste ich ganz genau: Wenn ich im Büro war, würde es nicht lange dauern, bis mich irgendjemand anrief und mir von einem interessanten Fall erzählte. Und als an diesem stillen Sommertag das Telefon klingelte, griff ich eifrig zum Hörer.
Am anderen Ende der Leitung war meine Sekretärin Donna. Ihr Büro lag ganz buchstäblich ein Footballfeld von meinem privaten Heiligtum entfernt tief unter der Osttribüne des Stadions. Sie erklärte, sie werde mir jetzt einen Anrufer durchstellen; es war Corporal James J. Kelleher von der Polizei des Bundesstaates New Hampshire.
»Hallo, hier ist Dr. Bass«, sagte ich. Corporal Kelleher stellte sich vor. Er arbeitete in der Abteilung für Kapitalverbrechen und leitete die Ermittlungen in einem Fall, bei dem es sich nach seiner Vermutung möglicherweise um Mord handelte. Von mir hatte er aus dem Buch Bones erfahren, das Doug Ubelaker, einer meiner früheren Studenten, geschrieben hatte. Ubelaker war jetzt als Anthropologe an der Smithsonian Institution tätig. (Das gehört zu den Dingen, die mir beim Rückblick auf meine Berufslaufbahn besondere Freude bereiten: Von den physischen Anthropologen der Smithsonian Institution haben drei - Ubelaker, Doug Owsley und Dave Hunt - bei mir promoviert, und bei einem vierten, Don Ortner, saß ich in der Prüfungskommission für die Promotion.)
Als Kelleher mir den Fall in groben Zügen schilderte, machte ich mir Notizen. Man hatte in Alexandria, einem winzigen Dörfchen in der Mitte des Bundesstaates, in einem Hinterhof ein paar Hände voll verbrannter Knochenfragmente gefunden. Der medizinische Sachverständige hielt sie für Hundeknochen, aber Kelleher hatte den Verdacht, sie könnten von einem Menschen stammen. Wenn er mit seiner Vermutung Recht hatte, musste er den Toten identifizieren, und wenn irgend möglich, wollte er auch etwas über die Todesursache erfahren. Kelleher fragte, ob ich ihm helfen könne. »Ich glaube schon«, erwiderte ich. »Auf jeden Fall kann ich es versuchen.«
Sechs Tage später brachte FedEx ein gut verpacktes Paket; darin lag zwischen vielen Schichten von Papier und Luftpolsterfolie die Schachtel mit den Knochenbruchstücken. Es waren Hunderte, und sie waren völlig verbrannt. Ich hatte zu jener Zeit schon Dutzende von verbrannten Leichen mit vielen hundert Knochen untersucht; man hatte sie aus ausgebrannten Autos oder abgebrannten Häusern geklaubt, ja sogar aus einer »in die Luft gejagten« Fabrik für Feuerwerkskörper, wie manche Einheimische sagen würden. Aber von den Resten aus richtigen Krematorien abgesehen, hatte ich noch nie derart stark verbrannte Knochen gesehen.
Fast jeder forensische Fall ist ein wissenschaftliches Puzzle im übertragenen Sinne. Bei diesem hier jedoch behielt das Wort seine ganz buchstäbliche Bedeutung. Das Paket enthielt insgesamt 475 einzelne Knochenbruchstücke, viele davon nicht größer als eine Erbse. Daraus auch nur etwas Ähnliches wie ein menschliches Skelett zusammenzusetzen, würde mehrere Tage langwieriger Arbeit in Anspruch nehmen.
Ich brachte das Paket ins Knochenlabor im Untergeschoss des Stadions. Dort hatten wir viel Platz zum Arbeiten, gutes Licht von einer breiten Fensterfront und an der Tür ein kräftiges Schloss, das für den Schutz unserer anvertrauten Güter sorgte. Ich räumte einen der langen Tische am Fenster ab, entrollte darauf eine lange braune Packpapierbahn und befestigte sie mit Klebeband an der Tischplatte. Mit einem Filzstift schrieb ich die Namen der großen Körperabschnitte - Schädel, Arme, Rippen, Wirbel, Becken und Beine - mehr oder weniger an ihre normalen anatomischen Positionen. Wenn ich zusammengehörige Stücke zu mehreren Haufen ordnete, konnte ich die verkohlten Trümmer, die einst ein menschliches Skelett gewesen waren, anschließend leichter wieder zusammensetzen.
Während der nächsten Tage arbeitete ich am Zusammenbau des lebensgroßen Puzzles. Es war eine anstrengende, langwierige und verblüffende Arbeit - genau die Art wissenschaftlicher Herausforderungen, die mir immer am besten gefallen hatte. Manche Stücke machten es mir recht einfach. Ich besaß vier große Fragmente des rechten Oberschenkelknochens, Reste beider Kniescheiben, Dutzende von Rippenstücken und drei teilweise erhaltene Wirbel. Aber nur allzu schnell hatte ich alle großen, einfachen Stücke an ihren Platz gelegt; nun blieben die winzigen Bruchstücke, die schwieriger einzuordnen waren, und das waren Hunderte. Es ist eine Herausforderung, redete ich mir zu. Du hast immer gesagt, dass du Herausforderungen liebst. Sei vorsichtig mit deinen Wünschen.
Offensichtlich stammten die Stücke von allen großen Körperregionen - oder vielmehr, wie mir bald klar wurde, von allen außer einem: Unter den 475 Bruchstücken fand ich kein einziges Stück vom Schädel. Das heißt nicht, dass es solche Stücke nicht gab; mehr als die Hälfte der Brocken war so klein und derart ohne jedes charakteristische Merkmal, dass ich nicht feststellen konnte, zu welchem Knochen sie gehörten. Dennoch schien der leere Fleck am oberen Ende meiner Zeichnung auf dem braunen Papier kein reiner Zufall zu sein. Und was noch schlimmer war: Es bedeutete, dass ich kaum etwas darüber herausfinden konnte, um wen es sich hier handelte und wie er oder sie gestorben war.
Nachdem ich zehn Tage gegrübelt hatte, brachte FedEx ein zweites Paket von Jim Kelleher. Es war kleiner als das erste, aber ebenso gut verpackt und enthielt ein großes, relativ wenig verkohltes Knochenstück, in dem ich sofort den mittleren Abschnitt eines menschlichen Oberschenkelknochens erkannte; außerdem fand ich in dem Päckchen ein Glasgefäß mit mehr als 60 kleinen Knochenfragmenten und einen weiteren, nicht verbrannten Knochen, der aber zahlreiche Bissspuren trug. Das obere Ende war vermutlich von Hunden abgenagt worden; das untere war abgebrochen. Im Gegensatz zu allen anderen Bruchstücken stammte dieses eindeutig nicht von einem Menschen. Ich ging ein paar Zimmer weiter und befragte einen Kollegen, den Zoologen und Archäologen Walter Klippel. Er erkannte sofort, dass es sich um das Schienbein vom Hinterlauf eines Weißwedelhirsches handelte.
Nach Kellehers Angaben hatte man die erste Sammlung verbrannter Knochenstücke am 2. Juli bei einem Privathaus in einer Grube gefunden, in der normalerweise Abfälle und Buschwerk verbrannt wurden; die zweite war am 22. Juli entdeckt worden; diese Knochen waren entlang eines Fußweges verteilt, der hinter dem Haus in den Wald führte.
Leider verfügte ich immer noch weder über einen Schädel noch über Zähne; anhand des vorhandenen Materials würde mir also wahrscheinlich keine eindeutige Identifizierung gelingen. Wenn ich Glück hatte, konnte ich an den Knochen vielleicht einen verheilten Bruch oder ein anderes charakteristisches Merkmal finden, das man mit den Röntgenaufnahmen einer Person in Verbindung bringen konnte. Aber in diesem Fall war das Glück mir offensichtlich nicht hold.
Immerhin konnte ich an den Knochen, so verbrannt und zerstückelt sie auch waren, noch eine ganze Reihe von Details erkennen, sodass ich das Spektrum für Kelleher ein wenig einengen konnte. Relativ intakt und nicht verbrannt war beispielsweise der Gelenkkopf des Oberarmknochens, der in der Gelenkpfanne der Schulter liegt. Seinen Durchmesser vermaß ich sehr genau mit einem Greifzirkel. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte der Anthropologe T. Dale Stewart von der Smithsonian Institution, der in den fünfziger und sechziger Jahren in enger Zusammenarbeit mit dem FBI Bahnbrechendes für das Fachgebiet der forensischen Anthropologie geleistet hatte, eine genaue Untersuchung der Größe von Oberarm-Gelenkköpfen bei Männern und Frauen angestellt. Wenn der Kopf einen Durchmesser von mehr als 47 Millimetern hat, muss er Stewarts Befunden zufolge von einem erwachsenen Mann stammen. Werte zwischen 44 und 46 Millimetern können sowohl auf einen Mann als auch auf eine Frau hindeuten, und bei einem Durchmesser von 43 Millimetern oder weniger muss es sich um eine Frau handeln. Das Stück vor mir auf dem Labortisch hatte einen Durchmesser von 42 Millimetern. Unser geheimnisvolles Opfer war also eine Frau; für diese Annahme sprach auch eine typisch weibliche Kante am Hüftbein.
Wie alt war sie, als sie starb? Steht die Schamfuge zur Verfügung, ist eine Altersabschätzung einfach. Aber wieder einmal hatte ich Pech: Auch dieses Knochenstück fehlte. Deshalb musste ich mich auf einige weniger exakte Indizien stützen. Bei allen Knochen waren die Enden (die Epiphysen) mit dem Schaft verschmolzen, das heißt, ihr Wachstum war abgeschlossen. Nun wusste ich also, dass es eine erwachsene Frau war. Sehr alt war sie aber nicht: Die Wirbelsäule zeigte nur geringfügige arthritische Wucherungen, jene unregelmäßigen Kanten, die sich ungefähr ab dem 40. Lebensjahr an den Wirbeln bilden. Die Oberflächenbeschaffenheit eines anderen Knochens, des Steißbeins, war mit einem Alter von 35 bis 45 Jahren zu vereinbaren.
Das war alles, was ich Kelleher mit Sicherheit sagen konnte. Ich wusste nicht einmal, ob es eine Weiße, eine Farbige oder eine Asiatin war.
»Am besten wäre es, wenn wir den Schädel hätten«, sagte ich.
 
 
15 Monate später ging mein Wunsch in Erfüllung. An einem kalten Abend im Oktober 1994 trat ich aus einer Maschine der Delta Airlines auf die windige Rollbahn des Flughafens von Manchester in New Hampshire. Kelleher holte mich im Flughafengebäude ab, half mir, meinen Koffer in Empfang zu nehmen, und setzte mich dann in Concord, der Hauptstadt des Bundesstaates, in einem Hotel ab. Am nächsten Morgen war er wieder da und brachte mich ins kriminaltechnische Labor; es lag im Keller des Polizeihauptquartiers von New Hampshire.
Apropos Keller: Warum liegen kriminaltechnische Labors und Leichenhallen grundsätzlich im Keller? Warum nicht in der obersten Etage, wo man aus großen Eckfenstern den Blick auf die Stadt oder eine ländliche Umgebung hat? Nur weil wir manchmal gern Leichen und Knochen betrachten, heißt das doch nicht, dass wir hier und da einen schönen Blick aus dem Fenster nicht zu schätzen wüssten. Aber ich schweife ab.
Am Ende hatten wir doch noch ein wenig Glück. Wenige Tage zuvor hatten Straßenarbeiter in Alexandria das Gebüsch an einer Sackgasse gerodet, und dabei waren sie über einen Plastikmüllsack gestolpert, den jemand ins Unterholz geworfen hatte. In dem Sack befanden sich ein Schädel und mehrere andere Knochen. Manche davon, unter anderem der Schädel, trugen geringe Brandspuren; andere waren anscheinend überhaupt nicht mit Feuer in Berührung gekommen.
Ein Vergleich der Zähne mit zahnärztlichen Röntgenaufnahmen bestätigte, was Jim Kelleher schon seit einiger Zeit vermutet hatte: Die Tote war Sheilah Anderson, Weiße, 47 Jahre alt, 16 Monate zuvor als vermisst gemeldet. Als Mrs. Andersons erwachsene Tochter ihre Mutter nicht mehr erreichen konnte, hatte sie im Juli 1993 die Polizei verständigt; etwa zwei Wochen später wurden die ersten verbrannten Knochen gefunden. Deshalb hatte Kelleher mich um die Untersuchung gebeten, obwohl der medizinische Sachverständige den Eindruck hatte, es müsse sich um Hundeknochen handeln. Sheilahs Mann, Jim Anderson, war früher Beamter der städtischen Polizei von New York gewesen und hatte den Dienst aus undurchsichtigen Gründen quittiert; er berichtete den Ermittlern, seine Frau sei eines Tages einfach abgehauen. Sie war nach Andersons Angaben mit unbekanntem Ziel verreist.
Sheilahs Tochter hatte Zweifel an der Geschichte ihres Stiefvaters, und so ging es auch der Polizei, vor allem nachdem Anderson zwei Tage nach dem Verschwinden seiner Frau einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Er wurde zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingewiesen. Am 2. Juli, dem Tag, an dem er entlassen werden sollte, war ein Polizist mit Sheilahs Tochter zu dem Haus gefahren, damit sie für Jim ein paar saubere Kleidungsstücke für den Heimweg holen konnte. Im Haus sah sie sich ein wenig um, und draußen am Waldrand fand sie schließlich einen verkohlten Tennisschuh, den sie als Eigentum ihrer Mutter erkannte.
Nun begann auch der Beamte, ernsthaft zu suchen. Im Vorgarten lag Asche: Jim Anderson hatte ein paar Wochen zuvor einen Haufen Gestrüpp verbrannt. Als der Polizist die Asche durchsiebte, fand er Knochenstücke - die 475 verkohlten Fragmente, mit denen mein Skelettpuzzle begonnen hatte. Genau in diesem Augenblick kam Jim Anderson aus der Psychiatrie nach Hause. Als er sah, wie der Polizist ein Knochenstück nach dem anderen aus der Asche holte, fing er an, sich zu betrinken. Wodka pur.
Zehn Tage später fand die Polizei die zweite Knochenansammlung: Der Schaft des Oberschenkelknochens, das Schienbein des Hirsches und die Fragmente aus dem zweiten Glasgefäß lagen verstreut im Wald, nicht weit vom Fundort des verbrannten Turnschuhs. Aber dann dauerte es noch volle 15 Monate, bevor der Schädel auftauchte. Nachdem wir ihn hatten, brauchte Kelleher mich nicht mehr, um ihn eindeutig zu identifizieren: Das gelang mit Hilfe der zahnärztlichen Röntgenaufnahmen innerhalb weniger Stunden, nachdem der Straßenbautrupp den Müllsack gefunden hatte. (Als sollte jeder Zweifel ausgeräumt werden, hing noch eine Halskette von Sheilah um die Wirbel.)
Dass ich jetzt nach einer Fahrt von 1600 Kilometern im Keller des Polizeihauptquartiers von New Hampshire stand, hatte einen anderen Grund: Ich sollte so viel wie möglich darüber herausfinden, wie Sheilah Anderson gestorben war. Schon beim ersten Blick auf den Schädel wusste ich, dass ich den Weg nicht umsonst auf mich genommen hatte. Die Rückseite war versengt, allerdings nicht besonders stark. Auf halber Höhe, ein wenig rechts von der Mitte, befand sich ein Loch von der Größe einer großen Münze. Solche Löcher hatte ich schon oft gesehen: Sie bleiben zurück, wenn ein Hammer mit großer Kraft auf den Schädel geschlagen wird. Der Schlag hatte nicht nur ein rundes Stück Knochen herausgebrochen, sondern von der Stelle aus verliefen auch Bruchlinien zickzackförmig in alle Richtungen.
Auf der Innenseite war der Knochen rund um das Loch unregelmäßig verfärbt: Aus der Wunde war Blut geflossen und dann im Feuer verschmort. Die Blutflecken sprachen eindeutig gegen die Vorstellung, die Schädelverletzung könne entstanden sein, als der Müllsack ins Gebüsch geworfen wurde. Wenn das Blut abgekühlt ist und die Totenstarre eingesetzt hat, bluten später zugefügte Wunden nicht mehr. Sheilah Anderson war zuerst getötet und dann verbrannt worden.
Der Gesichtsschädel war nicht verkohlt, aber ebenfalls verletzt: Im Oberkiefer waren drei Zähne herausgeschlagen, die Spitzen beider Nasenknochen waren gebrochen, und auch der Unterkiefer trug drei Brüche. Genau mit solchen Verletzungen rechnet man, wenn eine Frau von hinten mit einem Hammer erschlagen wird und dann vornüber mit dem Gesicht auf den Kellerboden oder das Straßenpflaster stürzt.
Mit etwas anderem hatte ich nicht gerechnet: Auch die anderen Knochen aus dem Müllsack vom Straßenrand trugen Verletzungen. Am fünften, sechsten und siebten Halswirbel waren Spuren von der Einwirkung eines großen, scharfen Gegenstandes zu erkennen. Als ich die Hals- und Brustwirbel in ihrer natürlichen Anordnung nebeneinander legte, erkannte ich eine verblüffende Schädigung: Ein ganzer Abschnitt der Wirbelsäule war von den Rippen abgetrennt worden. Rechts waren die Rippen dicht an den Wirbeln durchgeschnitten, links lag der Schnitt etwas weiter vom Rückgrat entfernt, sodass Stümpfe von rund fünf Zentimetern Länge zurückgeblieben waren. Auch die Oberarmknochen waren mit großer Gewalt durchgebrochen worden, und die Beine hatte man im Hüftgelenk vom Becken geschnitten.
Das Skelettpuzzle setzte sich fort. Aber ich kam voran: Als ich die neuen Stücke in das alte Puzzle einfügte, passte eines der nicht verbrannten Bruchstücke - das zum Ellenbogen weisende Ende einer Speiche aus dem Unterarm - genau zu einem verbrannten Speichenstück, das sich in Corporal Kellehers erstem Paket befunden hatte. Ein neues Stück Oberschenkelknochen passte genau zu dem Schaft aus der zweiten Lieferung, der Sammlung aus dem Wald hinter dem Haus. (Aus dem Oberschenkelschaft wurde außerdem auch DNA gewonnen, mit der die zahntechnische Identifizierung nochmals bestätigt werden konnte.) Obwohl also manche Details nach wie vor rätselhaft - sogar sehr rätselhaft - blieben, war eines jetzt völlig klar: Alle drei Sammlungen von Knochenstücken, die man im Laufe von 15 Monaten an drei verschiedenen Stellen gefunden hatte, stammten von Sheilah Anderson, deren Mann behauptet hatte, sie sei mit unbekanntem Ziel verreist.
Unbekannt, in der Tat. Nicht wo, sondern wie ihr Leben geendet hatte, war unbekannt - oder wäre es jedenfalls geblieben, wenn Kelleher nicht ein so hartnäckiger Ermittler gewesen wäre. Es war einer der seltsamsten Fälle meiner Laufbahn, und ein besonders bizarrer Aspekt kam noch hinzu. Allem Anschein nach war Jim Anderson durchaus bereit gewesen, seine Frau zu ermorden und die Leiche zu zerlegen - aber um nichts in der Welt hätte er eine behördliche Anweisung missachtet, die offenes Feuer nur mit besonderer Genehmigung gestattete. Also beschaffte er sich die offizielle Erlaubnis, am 12. Juni Abfälle zu verbrennen, und dass er genau an diesem Tag in seinem Garten ein Feuer entzündete, wissen wir mit Sicherheit: Der Leiter der Feuerwehr von Alexandria kam vorbei und vergewisserte sich, dass der Brand unter Kontrolle war.
Man stelle sich das Bild vor: Ein Mörder verbrennt im Vorgarten die Leiche seiner Frau, lächelt dabei und winkt dem vorüberfahrenden Feuerwehrchef zu. Einen Drehbuchautor, der eine solche Geschichte einem Filmstudio in Hollywood anbietet, würde man wahrscheinlich auslachen. Aber Corporal Kelleher und der stellvertretenden Generalstaatsanwältin Janice Rundles war durchaus nicht zum Lachen zumute. Würde ein Geschworenengericht in New Hampshire ihnen das bizarre Szenario abnehmen?
Auf dem Rückflug nach Knoxville zermarterte ich mir das Gehirn mit der Frage, welche zusätzlichen Indizien man vielleicht aus den verstümmelten Knochen noch gewinnen könnte. Ich hatte Kelleher und Rundles bereits alles gesagt, was ich wusste. Wenn jemand an den beschädigten, verkohlten Bruchstücken weitere Anhaltspunkte erkennen konnte, dann Steve Symes, früher mein Student und jetzt ein höchst angesehener Kollege. Zurück in Knoxville, rief ich Steve an und schlug ihm eine ungewöhnliche Ménage à trois vor: Ob er sich wohl mit mir und Sheilah Anderson für ein Wochenende in eine abgeschiedene Hütte zurückziehen wolle? Er sagte sofort zu, und wir verabredeten uns im Montgomery Bell State Park.
Der Park liegt auf halbem Weg zwischen meinem Institut in Knoxville und Steves Leichenhaus im 700 Kilometer entfernten Memphis. Sanfte, von Eichen und Hickorybäumen bewachsene Hügel gruppieren sich um einen hübschen kleinen See, in dem es anscheinend von Fischen wimmelt (auf einem Schild am Wasser steht: 15-Inch Size Limit for Bass - Größenbeschränkung für Barsche: 38 Zentimeter). Auf einer Halbinsel erhebt sich ein sechsstöckiges Hotel; an einen Hügel schmiegen sich ein halbes Dutzend Hütten, und unsere war einfach großartig. Die Fenster ließen viel Licht auf den Esstisch fallen, und dort legten wir nun die verbrannten Knochenbruchstücke von Sheilah Anderson aus. Mordermittlungen mit guter Aussicht.
Sheilah war auf eine so komplizierte, rätselhafte Weise zerlegt worden, wie Steve und ich es noch nie erlebt hatten. Nach den Brüchen der Arm- und Beinknochen zu urteilen, waren die Gliedmaßen mit roher Gewalt abgetrennt worden. Becken, Rippen und Wirbelsäule dagegen hatte man anscheinend mit irgendeinem ungeheuer scharfen Instrument zerschnitten.
Steve wunderte sich wie ich sofort über das unterschiedliche Ausmaß der Verbrennung. Die Knochen, die man 1993 in dem Vorgarten geborgen hatte, waren viel stärker verbrannt als jene, die kurz danach hinter dem Haus aufgetaucht waren, und als die dritte Gruppe, welche die Straßenarbeiter 1994 entdeckt hatten. Steve kam auf die Idee, die Verbrennung könne in zwei Stufen stattgefunden haben: In den Flammen, die der Feuerwehrmann im Juni 1993 gesehen hatte, war nach seiner Hypothese die vollständige Leiche verbrannt worden. Als dieses Feuer seinen Zweck nicht erfüllte, wurden der Schädel und andere Teile abgetrennt und weggeworfen - manche hinter dem Haus, andere am Straßenrand -, und die übrigen wurden, dieses Mal gründlicher, noch einmal im Vorgarten angezündet.
An den Knochen der zuerst gefundenen Gruppe hatte das Feuer sämtliche Schnittspuren vernichtet; an den leicht oder gar nicht verbrannten Skelettteilen dagegen waren noch unversehrte Spuren zu erkennen, die Steve untersuchen konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen mit zerlegten Leichen trugen die Knochen hier praktisch keine Anzeichen für fehlgeschlagene Versuche, zögerndes Vorgehen oder abgebrochene Schnitte. Die Werkzeugspuren wiesen vielmehr darauf hin, dass jemand die Knochen beherzt und kräftig in einem Zug durchtrennt hatte. Die Schnitte waren nicht durch Sägen, sondern durch Hackbewegungen entstanden und mit so viel Kraft geführt worden, dass die Knochen nach dem ersten Schlag durchtrennt waren. Die Klinge war so scharf gewesen, dass sie an manchen Stellen dünne Knochenstücke abgeschält hatte - beispielsweise eine Scheibe von einem Wirbelkörper -, aber gleichzeitig war sie auch so schwer, dass sie selbst große Strukturen wie Hüft- und Oberschenkelknochen sofort zertrümmerte.
Steve und ich standen vor einem Rätsel. Auch die Schnittflächen der Knochen trugen seltsame Spuren. Sie zeigten, dass es eine gebogene Klinge gewesen war, aber das allein war nichts Seltsames - viele weit verbreitete Gartengeräte haben gebogene Klingen. Aber um was für ein Instrument es sich auch handeln mochte, seine Klinge hatte eine engere Biegung als jede Axt oder Schaufel, die wir kannten. Wäre die Biegung der Schneide ein Teil eines vollständigen Kreises gewesen, hätte dieser einen Durchmesser von noch nicht einmal acht Zentimetern gehabt. Da zum Durchtrennen der Knochen große Kraft erforderlich ist, fragten wir uns, ob wohl ein Gerät zum Graben von Pfahllöchern mit dem ganzen Gewicht eines Menschen darauf niedergesaust war, aber auch solche Grabgeräte sind nicht derart stark gebogen.
Den ganzen Samstagmorgen und noch den halben Nachmittag untersuchten wir wieder und wieder die Schnittspuren, wobei wir immer neue Gerätschaften als Zerlegewerkzeug in Erwägung zogen und wieder verwarfen. Am späten Nachmittag schließlich klopfte es an der Hüttentür. Als ich sie öffnete, sah ich einem Parkranger ins Gesicht. Au wei, dachte ich, jetzt gibt es Ärger. Ich versuchte, dem Ranger mit meinem Körper den Blick auf den Esstisch mit den ausgebreiteten Knochen zu verstellen.
Der Besuch des Rangers bedeutete tatsächlich Ärger, aber nicht weil wir die Hütte als forensisches Labor benutzten. Er erklärte, für mich sei ein Anruf aus Knoxville gekommen, und es habe sich dringend angehört. Ich ließ Steve mit den Knochen allein und eilte zu dem Hotel. Die Anruferin war Dot Weaver, eine Bekannte, die meine 95-jährige Mutter pflegte. Ich rief zurück, und sie berichtete, meine Mutter habe gerade mehrere kleine Schlaganfälle erlitten und sei ins Krankenhaus gebracht worden.
Ich ging wieder zu Steve und sagte, wir müssten unsere Arbeiten abkürzen. Er erwiderte, er könne mir ohnehin nicht mehr viel Neues erzählen. Wir warfen einen letzten Blick auf die zerstörten Überreste von Sheilah Anderson und hofften, dass die Staatsanwältin Janice Rundles sich nicht allein auf unsere mageren Befunde stützen musste, um Anklage gegen Jim Anderson zu erheben. Glücklicherweise war das tatsächlich nicht nötig: Kurz bevor der Fall vor Gericht gebracht werden sollte, bekannte sich Anderson - einst einer der besten Polizisten von New York - des Mordes an seiner Frau für schuldig. Kurz darauf kam er ins Gefängnis. Dort nahm er einen Wärter als Geisel, hielt ihn mehrere Stunden lang fest und verprügelte ihn heftig. Vielleicht erzählt er uns eines Tages, womit er die Leiche seiner Frau zerhackt hat.
Mein Wochenendausflug mit Steve brachte nicht das zufrieden stellende Ergebnis, auf das wir gehofft hatten. Aber das ist nun einmal der Lauf der Dinge: Man kann sich nur die Indizien ansehen und zuhören, was die Knochen zu sagen haben. Sie erzählen uns nicht immer die ganze Geschichte, aber wenn sie es tun, ist diese Geschichte vielfach entsetzlich und faszinierend zugleich.
Das erlebte Steve hautnah mit einem Mordopfer namens Leslie Mahaffey …
 
 
Ich lernte Steve vor einem Vierteljahrhundert in der Wildnis des westlichen South Dakota kennen. Damals war er ein magerer 24-jähriger mit einem frischen Examen in Anthropologie; nach dem Studium hatte er eine Stelle bei Bob Alex angenommen, dem amtlichen Archäologen von South Dakota, in dessen Auftrag er Knochen katalogisierte. Steves Hauptaufgabe war das Sortieren und eine Bestandsaufnahme vieler tausend Knochen von Sioux- und Arikara-Indianern, die der autodidaktisch gebildete Archäologe W. H. Over Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer riesigen Sammlung zusammengetragen hatte.
Bei einer der ersten großen Heimführungsaktionen der Überreste amerikanischer Ureinwohner veranlasste Bob Alex die Behörden von South Dakota, die Over-Sammlung zur Bestattung an die Sioux und Arikara zurückzugeben. Aber bevor er die Knochen aus der Hand gab, fragte er mich, ob ich sie für einige Zeit untersuchen wolle.
Die Sammlung war in einem alten Militärkrankenhaus nordwestlich von Rapid City untergebracht. Im Spätfrühling 1978 traf ich mit einem Ford-Kombiwagen aus Knoxville ein, im Schlepptau einen gemieteten Anhänger, mit dem ich die Sammlung nach Tennessee bringen wollte. Vor meiner Ankunft hatte Steve unter hohem Zeitdruck sein Verzeichnis fertig gestellt und die Knochen in Kisten verpackt. Auf seinem Schreibtisch sah ich ein aufgeschlagenes, zerlesenes Exemplar meines Knochenhandbuches Human Osteology: A Laboratory and Field Manual. (Seit 1971, als das Buch zum ersten Mal erschien, hat es 23 Auflagen erlebt und wurde ungefähr 75 000 Mal verkauft; damit, das muss ich voller Stolz sagen, wurde es zu einem Lehrbuch-Bestseller.)
Wir schüttelten uns die Hände. »Ich sehe, Sie lesen mein Buch«, sagte ich.
»Nun ja, ich habe es auch mit anderen versucht«, erwiderte er, »aber Ihres ist das Einzige, das einem auch in schwierigen Fällen bei der Identifizierung von Knochen hilft.<
Er war ganz offensichtlich ein besonders intelligenter junger Mann. Vielleicht sogar ein Genie.
Zehn Minuten nachdem ich Steve kennen gelernt hatte, war mir klar - und zwar nicht nur weil mir sein Kommentar schmeichelte -, dass er das Zeug zu einem hervorragenden Anthropologen hatte. Er wusste viel und war neugierig, aber auch reif, diszipliniert und beharrlich, eine Kombination, die bei angehenden Professoren nicht so häufig ist, wie man annehmen könnte. Im Gegensatz zu vielen heutigen Studenten hatte er nicht das romantische Bild der Anthropologie aus Fernsehserien und Hollywoodfilmen im Kopf. Er wusste, dass das Fach eine Menge harte Arbeit erforderte, und schien bereit zu sein, sich die Finger schmutzig zu machen. Bis wir den Anhänger beladen hatten, hatte ich Steve zur Promotion überredet und ihm ziemlich eindringlich nahe gelegt, dass Tennessee dafür der richtige Ort wäre. Allerdings warf der Plan ein kleines Problem auf: Unsere Doktorandenstellen für den kommenden Herbst waren bereits besetzt.
Vier Monate später kam Steve dennoch nach Knoxville wie ein Fußballersatzspieler, der eine Woche vor dem Eröffnungsspiel doch noch einen Platz in der Stammmannschaft ergattern will. Ich brachte ihn in Kursen für Archäologie und Knochenkunde unter, immer in der Hoffnung, dass sich im forensischen Studiengang bald eine freie Stelle auftun würde - und dass Steve das Interesse bis dahin noch nicht verloren hatte.
Die Stelle kam, und er war noch interessiert. Schnell eignete er sich den Rest meines knochenkundlichen Lehrbuches an, und damit sicherte er sich einen Platz in unseren forensischen Einsatztrupps. Der Ersatzspieler hatte es geschafft: Er war in die erste anthropologische Mannschaft aufgerückt. Bei der Tatortaufklärung bewies Steve eine gute Auffassungsgabe, und außerdem - ebenso wichtig - war er ein hervorragender Fotograf. Man kann nie genug Tatortfotos haben, und am besten ist es, wenn sie auch noch gut sind. Steves Aufnahmen von Verbrechensschauplätzen waren - und sind bis heute - die besten, die ich kenne.
Nach acht langen Jahren der Promotionsstudien und Tatortarbeit legte Steve die Doktorprüfung ab; anschließend nahm er in der Behörde des medizinischen Sachverständigen von Nashville eine Vollzeitstelle als forensischer Anthropologe an, und nebenher wollte er hier in Nashville seine Doktorarbeit schreiben. Das Thema: Altersabschätzung durch Untersuchung der Verbindung von Schlüsselbein und Brustbein.
Dann folgte ein weiterer Wendepunkt in Steves Leben. Während einiger besonders gewalttätiger Wochen musste er in Nashville gleich drei Fälle mit zerstückelten Leichen bearbeiten. In einem davon zeigte der ermittelnde Beamte auf eine Kerbe im Knochen und fragte Steve, was er davon hielte. Froh über die Gelegenheit, seine Fachkenntnis unter Beweis zu stellen, richtete Steve sich auf und sagte in professoralem Ton: »Nun ja, das ist die Kerbe einer Säge in einem Armknochen.«
Der Polizist blickte Steve erbost an. »Dass es die Kerbe einer Säge in einem Armknochen ist, sehe ich selbst«, schnaubte er. »Sie sind doch hier der Knochendoktor. Was für eine Säge war es?«
Das wusste Steve nicht, aber nachdem sein errötetes Gesicht wieder erblasst war, entschloss er sich, es herauszufinden - und zwar nicht nur bei diesem speziellen Knochen, sondern für alle Typen von Sägen.
An dieser Stelle muss ich einflechten, dass ich damals schon seit Jahren vergeblich versuchte, einen Doktoranden für die Erforschung von Sägespuren zu interessieren. Mitte der achtziger Jahre hatten wir in Knoxville einen Sensationsfall mit einer zerstückelten Leiche. In einer Dreierbeziehung war der Hass ausgebrochen, und am Ende hatte die Frau zusammen mit einem ihrer Männer den anderen umgebracht; anschließend hatten sie ihn zerstückelt und die Einzelteile in der ganzen Stadt verteilt. Der Fall führte mir vor Augen, wie wenig wir eigentlich darüber wussten, welche Beweise eine Säge beim Zerlegen einer Leiche hinterlässt. Aber offensichtlich hatte niemand Lust, das Thema weiter zu verfolgen; auch Steve interessierte sich erst nach jenem blutigen Sommer in Nashville dafür, als er sich nicht nur einmal, sondern gleich in drei Fällen an dem Problem die Zähne ausgebissen hatte.
Ballistische Befunde gelten bei Polizeibehörden und Gerichten auf der ganzen Welt schon seit vielen Jahren als wissenschaftlich glaubwürdig. Nicht nur Menschen, auch Schusswaffen hinterlassen Fingerabdrücke: Der Schlagbolzen einer Pistole hinterlässt auf jeder Patrone, auf die er trifft, einen charakteristischen Abdruck; die Rillen im Lauf erzeugen auf jeder Kugel, die sie in Richtung des Opfers in Drehung versetzen, einzigartige Vertiefungen; der Auswurfmechanismus zerkratzt oder zerbeult die leere Patronenhülse jedes Mal, wenn er sie aus dem Verschluss wirft, auf die gleiche Art und Weise.
Wenn Schusswaffen charakteristische Merkmale haben, warum dann nicht auch Sägen? Steve und ich waren sicher, dass es so ist. Aber damals waren wir offensichtlich in der Minderheit. Nach der Lehrbuchmeinung sollte jeder Zug, jede Bewegung der Säge die Spuren der vorherigen zerstören; mit anderen Worten: Eine Säge verwischt ihre Spuren selbst. Steve wollte beweisen, dass es nicht so ist - dass man unendlich viel mehr Einzelheiten beobachten, unendlich viel mehr Indizien gewinnen kann.
In den nächsten beiden Jahren kaufte oder lieh sich Steve Sägen aller Typen, deren er habhaft werden konnte: Brettsägen, Schrotsägen, Bügelsägen, Laubsägen, Metallsägen, Kreissägen, Kappsägen, japanische Zugsägen und viele andere. An mehreren Wochenenden war er bei Dr. Cleland Blake zu Besuch, einem medizinischen Sachverständigen im Osten von Tennessee, der auch ein meisterhafter Schreiner war; die beiden studierten Hunderte von Sägeblättern aus Clelands Sammlung, von Goldschmiedesägen bis zu den Kettensägen der Holzfäller.
Dann befestigte Steve gespendete Arm- und Beinknochen mit Schraubstöcken auf seinem Arbeitstisch, machte Tausende von Versuchsschnitten und studierte sie im Mikroskop. Anfangs sah er kaum etwas, das ihm bedeutsam erschien. Aber am Ende fand er den Schlüssel zum Erfolg. Als er die Schnitte mit einem chirurgischen Operationsmikroskop betrachtete und das Licht schräg auf die Schnittflächen fallen ließ, entfaltete sich vor seinen Augen eine ganze Welt der dreidimensionalen Details: riesige Schluchten und zerklüftete Klippen, in Knochen geschnitzt. Er machte unzählige Mikrofotos, Gipsabgüsse und Messungen, katalogisierte gezogene und geschobene Schnitte, misslungene Versuche, Spuren abgerutschter Sägen und zögernder Vorgehensweise sowie viele andere charakteristische Spuren, die eine Säge zurücklassen kann, wenn sie durch einen Knochen schneidet.
Ich werde nie vergessen, wie Steve mich zum ersten Mal in sein Labor zerrte, mich zu einem Stereomikroskop führte und mir Zug um Zug die Entstehung der Sägespuren vorführte, die ein festgeschraubter und bereits zersägter Oberschenkelknochen aufwies. In den Querschnitt des Knochens - und jetzt auch in meiner Erinnerung - waren unauslöschlich die zickzackförmigen Schnittspuren eingeprägt, zurückgelassen von den einzelnen Zähnen der Säge, als sie sich unbarmherzig als Reihe flacher, Z-förmiger Spuren durch den Knochen arbeiteten. In diesem Augenblick war ich stolz und gleichzeitig auch demütig: Der Student - mein Student - hatte seinen Lehrer übertroffen, zumindest auf diesem makabren Spezialgebiet.
Wenn Steve am Ende ein Knochenbruchstück aus einem Mordfall vor sich hatte, sah er daran viel mehr als nur »die Kerbe einer Säge in einem Armknochen«. Er konnte beispielsweise die Spuren einer Schrotsäge mit zehn Zähnen pro Zoll und einer Schnitttiefe von zwei Millimetern erkennen, die von abwechselnd angeschrägten Sägezähnen herrührte und durch den Knochen geschoben worden war - wobei der Schnitt von drei Abrutschern, zwei Fehlversuchen und einer kurzen Pause unterbrochen war. Ein Ehemann, der seine Frau zersägt, will solche aufschlussreichen Spuren ebenso wenig hinterlassen wie ein Berufskiller, dessen Kugeln ballistische Anhaltspunkte bieten. Es ist einfach eine unvermeidliche Folge.
Steve konnte sich nie überwinden, seine nützliche, langweilige Doktorarbeit über die Verbindung von Schlüsselbein und Brustbein zu vollenden. Stattdessen verfasste er den Aufsatz Morphology of Saw Marks in Human Bone: Identification of Class Characteristics (»Struktur von Sägespuren in menschlichen Knochen: Identifizierung von Gruppenmerkmalen«), der trotz des trockenen Titels zu einem einzigartigen, wegweisenden Beitrag zur forensischen Anthropologie und der Untersuchung von Mordfällen wurde.
Nicht lange nachdem Steve mit den Forschungsarbeiten an den Sägespuren begonnen hatte, zog er wieder nach Westen, dieses Mal nach Memphis. Es sprach sich herum, welch grausiges Spezialgebiet er sich ausgesucht hatte; immer häufiger trafen aus anderen Städten und Bundesstaaten, ja sogar aus dem Ausland Pakete mit zerstückelten Leichenteilen ein. Polizeibehörden oder Staatsanwälte schickten sie an Steve, wenn sie keine andere Möglichkeit sahen, mit ihrer Suche nach einem Mörder oder einer Mordwaffe voranzukommen. Sein sensationellster Fall begann am 6. April 1992; an diesem Tag fragte der kanadische Polizeibeamte Mike Kershaw bei Steve an, ob er ihm bei der Aufklärung eines grausigen Mordes helfen könne. Das Verbrechen hatte sich im Juli des vorangegangenen Jahres in Saint Catherines ereignet, einer mittelgroßen Stadt, die gegenüber von Toronto auf der anderen Seite des Ontario-Sees liegt.
Leslie Mahaffey, ein 14-jähriges Mädchen aus Saint Catherines, war eines Abends lange mit Freundinnen unterwegs gewesen und hatte ihren Zapfenstreich - 23 Uhr - um mehrere Stunden überschritten. Als sie schließlich gegen zwei Uhr morgens von einer Telefonzelle nach Hause ging, wurde sie entführt. Zwei Wochen später entdeckten Fischer ihre Leiche. Sie war in zehn Teile zerstückelt, in Betonblöcke von insgesamt 305 Kilo eingegossen und dann in zwei Flüssen in der Nähe versenkt worden. Als der Wasserspiegel dann um mehr als einen Meter sank, lagen die Blöcke plötzlich frei. Der brutale Mord an Leslie war für die Öffentlichkeit schockierend und für die Polizei ein Rätsel; Constable Kershaw hatte die Hoffnung, dass Steve neue Hinweise - irgendwelche Hinweise, und seien sie auch noch so vage - auf die Tat und den Mörder liefern konnte.
Am 30. April kam Kershaw nach Memphis, im Gepäck die zerstückelten Knochen von Leslie Mahaffey: Abschnitte von beiden Oberschenkelknochen, beide Oberarme, zwei Unterarmknochen und zwei Halswirbel. Die Stücke waren zur Konservierung in Formalin eingelegt. Obwohl fast ein Jahr vergangen war, haftete noch weiches Gewebe an den Knochen.
Gerade an dem Tag, als Kershaw in Memphis eintraf, wurde Kristen French, ein anderes Mädchen aus Saint Catherines, ermordet aufgefunden; offensichtlich war sie vergewaltigt, sexuell gefoltert und dann getötet worden. Nun wusste die kanadische Polizei ganz genau: Wenn der Täter nicht bald gefasst wurde, würden noch mehr Mädchen eines entsetzlichen Todes sterben.
Steve fotografierte zunächst die einzelnen Knochen, kochte sie dann mehrere Stunden und entfernte vorsichtig die weichen Gewebereste. Schon auf den ersten Blick konnte er sagen, dass alle Schnitte von einer Säge des gleichen Typs stammten. Sie waren sehr einheitlich: glatte Schnittflächen, die fast poliert aussahen, und kaum Brüche oder Abplatzungen an den Stellen, wo das Sägeblatt in die Knochen eingedrungen war und sie verlassen hatte.
Dafür waren aber viele fehlgeschlagene Ansätze zu erkennen: An solchen Stellen war die Säge ein Stück weit in den Knochen eingedrungen und dann aus der Furche gesprungen - vielleicht weil es ein ungeschickter Winkel war, vielleicht weil die blutverschmierte Säge dem Mörder aus der Hand rutschte - und anschließend neu angesetzt worden. Einige dieser unvollständigen Schnitte waren recht tief und hatten den Knochen nahezu durchtrennt. Daraus konnte Steve schließen, dass die Schneide leicht durch den Knochen gegangen war - ein Zeichen für eine motorgetriebene Säge, denn wenn eine Handsäge aus einer tiefen Rille springt, setzt man sie nicht ganz neu an, sondern man sägt in dem bereits vorhandenen Schnitt weiter. Die tiefen, unvollständigen Schnitte, die einheitliche Breite der Rillen, die wie poliert aussehenden Schnittflächen und die konvexe Krümmung der Schnitte, all das deutete nach Steves Ansicht darauf hin, dass man Leslies Leiche mit einer Kreissäge zerstückelt hatte, deren Sägeblatt einen Durchmesser von mindestens 18 Zentimetern hatte.
Natürlich besitzen viele Kanadier eine Kreissäge; Steve konnte der Polizei sagen, mit was für einer Art von Säge man den Körper zerschnitten hatte, aber er konnte ihnen nicht sagen, in welcher Garage oder welchem Keller sie danach suchen mussten. Der Fall blieb weitere zehn Monate ungelöst. Im Winter 1993 gelang der Polizei schließlich ein Durchbruch. Eine 23-jährige Frau namens Karla Homolka meldete sich und erzählte eine schmutzige, erschreckende Geschichte. Angeblich hatte ihr Mann, der Buchhalter Paul Bernardo, Leslie Mahaffey und Kristen French entführt, um sie als Sexsklavinnen zu missbrauchen. Weiter berichtete sie, Paul habe Karla zu sexuellen Handlungen gezwungen, und andere habe sie auf Video aufnehmen müssen. Nach einer ganzen Reihe immer niederträchtigerer Gewalttaten habe er die Mädchen schließlich erdrosselt. Neben Leslie Mahaffey und Kristen French habe es noch ein drittes Opfer gegeben: Tammy, Karlas eigene kleine Schwester, sei schon 1990 von Paul unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden. Die immer noch bewusstlose Tammy habe sich übergeben müssen und sei dann an dem Erbrochenen erstickt; bis Karla zur Polizei gegangen war, hatte der Tod ihrer Schwester stets als tragischer Unfall gegolten.
Am Montagmorgen, dem 12. Juni 1995, stieg Steve die Stufen des Justizgebäudes von Toronto hinauf, um in dem Mordprozess gegen Paul Bernardo auszusagen. Das Verfahren hatte vier Wochen zuvor begonnen. Die kanadischen Reporter waren fasziniert von Steve und seinem makabren Spezialgebiet. »Einen solchen Menschen haben Sie noch nie gesehen«, begann ein Zeitungsbericht, »und vermutlich ist Ihnen das auch ganz recht so.« Weiter hieß es in dem Artikel: »Soweit er selbst weiß, hat er auf der ganzen Welt als Einziger seinen Doktor damit gemacht, dass er anhand der Knochen unterscheiden kann, mit welchem Werkzeug eine Leiche zerstückelt wurde.<
Als Steve von dem befrackten Kronanwalt in den Zeugenstand gerufen wurde, zeichnete er ein genaues, erschreckendes Bild davon, wie man Leslie Mahaffey zerstückelt hatte. Die Schnittbreite - die Breite der Rillen, die das Sägeblatt verursacht hatte - war bei Leslies Knochen ungewöhnlich gering und wies auf ein dünnes Sägeblatt hin. Die meisten karbidbeschichteten Kreissägeblätter hinterlassen eine Kerbe von 3,1 Millimetern; die Schneide, mit der man Leslies Leiche zerlegt hatte, war mit 2,0 bis 2,3 Millimetern deutlich dünner. In seinen eigenen Versuchen hatte Steve Kreissägeblätter von 18 bis 30 Zentimetern Durchmesser verwendet und dabei festgestellt, dass die Schnitte einheitlicher waren und weniger schwankten als die an Leslies Knochen. Allerdings hatte Steve dabei gegenüber dem Mörder auch einen Vorteil gehabt: Er arbeitete mit sauberen, trockenen Knochen ohne anhaftendes Fleisch, die stramm in einem Schraubstock verankert waren.
Im Kreuzverhör stellte Paul Bernardos Anwalt nur eine Frage: Ob das Zerstückeln einer Leiche mit einer Kreissäge eine blutige Angelegenheit sei? Eine sehr blutige, erwiderte Steve. Die Zuhörer im Gerichtssaal waren über Steves Aussage entsetzt, aber der Schrecken wurde durch seine Redeweise ein wenig gemildert - ein Reporter berichtete über seine »unbefangene amerikanische Art und eine bescheidene Traurigkeit«. Bescheiden, das stimmt: Steve ist einer der fünf weltweit führenden Experten für Werkzeugspuren an menschlichen Knochen, aber gleichzeitig ist er bemerkenswert zurückhaltend und uneitel.
Als Paul Bernardo in den Zeugenstand gerufen wurde, leugnete er den Mord an Leslie Mahaffey; er behauptete, sie und Kristen French seien durch einen Unfall gestorben, und er sei zu diesem Zeitpunkt nicht im Zimmer gewesen. Dass er Leslie zerstückelt hatte, gestand er aber. Er sagte, er habe die Leiche mit einer alten McGraw-Edison-Säge zerlegt - mit der Kreissäge, die Steve beschrieben hatte. Bernardo hatte die Maschine von seinem Großvater geschenkt bekommen, und man hatte sie sogar im Keller seines reinlichen Bungalows in einer Vorstadt von Saint Catherines gefunden. Pech für die Anklage: Das Sägeblatt und Teile des Gehäuses fehlten.
Steve reiste am Tag nach seiner Aussage aus Toronto ab; er hoffte, dass er etwas Nützliches beigetragen hatte, aber Geschworene sind unberechenbar. Man weiß nie genau, was bei ihnen den größten Eindruck hinterlässt. Der Prozess gegen Bernardo zog sich den ganzen Juni, den Juli und bis in den August hin. Als er sich dem Ende näherte, machte er durch eine dramatische Wendung neue Schlagzeilen: Der Kronanwalt präsentierte am Ende seines Plädoyers ein verrostetes Sägeblatt, das die Polizei erst wenige Tage zuvor aus dem See gefischt hatte. Außer der Schneide hatte der Taucher auch Teile eines Maschinengehäuses gefunden. Sägeblatt und Gehäuse passten genau zu Bernardos alter McGraw-Edison-Säge. Außerdem entsprach die Schneide bis aufs i-Tüpfelchen Steves Analyse der Schnittspuren: Kreissägeblatt, Durchmesser 18 Zentimeter, dünner und mit feineren Zähnen als die meisten heutigen karbidbeschichteten Blätter und genau mit der richtigen Dicke für Schnitte von 2,0 Millimetern.
Paul Bernardo wurde des Mordes in zwei Fällen für schuldig befunden und zu 25 Jahren Gefängnis ohne die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung verurteilt. Wie man mir erzählt hat, erhält er regelmäßig Fanpost und Anrufe von jungen Mädchen. Über die Knochen des Menschen weiß ich eine Menge, und Steve Symes auch. Aber vieles andere, was in den dunklen Tiefen des menschlichen Herzens verborgen ist, werden wir nie begreifen.