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Der böse Onkel
An einem Dezembertag des Jahres 1970 stand
plötzlich ein Polizeibeamter in der Tür meines Büros am Museum of
Natural History der University of Kansas in Lawrence. Ein halbes
Jahr später hätte er mich dort nicht mehr angetroffen. Ich hatte
bereits eine neue Stelle an der University of Tennessee in
Knoxville angenommen, und im kommenden Mai wollten wir
umziehen.
Der Polizist fand mich an dem Schreibtisch, an dem
ich während der letzten zehn Jahre den Herbst, den Winter und das
Frühjahr verbracht hatte. In dieser Zeit hatte die University of
Kansas einen der besten Studiengänge für physische Anthropologie im
ganzen Land aufgebaut. Zum Lehrkörper gehörten drei junge, kreative
Wissenschaftler, und unsere gerichtsmedizinischen Fachkenntnisse
waren mittlerweile allgemein bekannt. Ich hatte im Auftrag
verschiedener Polizeibehörden bereits an Dutzenden von forensischen
Fällen mitgearbeitet; das Spektrum der Auftraggeber reichte von
kleinen lokalen Polizeistationen bis zur Kriminalpolizei des
Staates Kansas, mit deren stellvertretendem Direktor Harold Nye
mich inzwischen eine enge Freundschaft verband.
Harold war damals in Polizeikreisen zu einer Art
Berühmtheit geworden. Er spielte die Schlüsselrolle bei der
Fahndung nach zwei Verurteilten, die 1959 im Westen von Kansas eine
ganze Familie ermordet hatten. Der Fall - die Ermordung der Familie
Clutter und die Verfolgung der Mörder durch die Staatspolizei von
Kansas - wurde zur Vorlage für den Krimiklassiker Kaltblütig
von Truman Capote, der 1965 erstmals erschien.
Capote berichtet, wie Nye mit einer hartnäckigen
Grippeinfektion zu kämpfen hatte, während er sechs Wochen lang die
Mörder und ehemaligen Häftlinge Dick Hickock und Perry Smith
verfolgte. Trotz hohen Fiebers arbeitete Harold unermüdlich in dem
Team der vier Polizisten mit, die mit der Aufklärung des Falls
befasst waren. Er verfolgte die Spur von Perry Smith bis zu einer
billigen Pension in Las Vegas, wo dieser kurz vor den Morden
übernachtet hatte; und was noch wichtiger war: Von der Wirtin
erfuhr er, dass Smith zurückkommen wollte, um eine dort abgestellte
Kiste mit seinen Habseligkeiten abzuholen. In Mexico City - einem
der vielen Orte, an denen sich die Mörder nach der Tat aufgehalten
hatten - fand Harold ein Fernglas und ein Kofferradio, die sie aus
dem Haus der Familie Clutter gestohlen und für ein paar Dollar bei
einem Pfandleiher versetzt hatten. Die Gegenstände wurden in dem
Prozess zu wichtigen Beweisstücken, denn sie belegten, dass die
Männer in dem Haus gewesen waren.
Am Tatort selbst konnte Harold ein weiteres
wichtiges Indiz sichern: Seine Fotos zeigten auf dem Kellerboden
des Hauses zwei charakteristische Reihen von Schuhabdrücken, die so
schwach waren, dass sie dem bloßen Auge nicht auffielen. Als die
Mörder festgenommen wurden, passten ihre Schuhe genau zu den
Spuren. Mit ihrer peniblen Aufklärungsarbeit trugen Harold und die
anderen Polizisten dazu bei, dass die beiden Männer schließlich des
Mordes für schuldig befunden und gehängt wurden.
Von der Beschreibung des Falles durch Capote hielt
Harold nicht besonders viel; nach seiner Ansicht war der Autor mit
den Tatsachen viel zu leichtfertig umgegangen. Auch persönlich
mochte er Capote nicht: Als Harold zu einem Interview in das
Hotelzimmer des Schriftstellers ging, öffnete ihm dieser in einem
spitzenbesetzten Nachthemd die Tür. Das muss dem geradlinigen
Harold einen ziemlichen Schock versetzt haben, aber er behielt es
für sich; erst Jahre später erzählte er die Geschichte dem
Schriftsteller George Plimpton, der eine Biografie über Capote
verfasste.
Was wir beide damals noch nicht wussten: Harold
sollte später wichtige Anregungen für die Einrichtung der Body Farm
liefern. Schon im Frühjahr 1964 hatte er mir in einem
Telefongespräch eine ungewöhnliche Frage gestellt: Ob ich ein
Skelett untersuchen und dann die Zeit seit dem Tod abschätzen
könne? Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Skelett um
eine Kuh; Rinderdiebe oder Vandalen lassen manchmal tote,
verstümmelte Tiere in der Prärie zurück. Und da es in Kansas mehr
Kühe als Menschen gibt, muss die Kriminalpolizei viel Arbeit in die
Aufklärung von Viehdiebstählen investieren. In diesem Fall hatten
die Diebe die Kühe nicht mitgenommen, sondern sofort getötet und an
Ort und Stelle zerlegt; dann hatten sie sich mit dem Fleisch
davongemacht und die Knochen zurückgelassen.
Wenige Tage nach unserem Gespräch und einer
Rückfrage beim Paläontologen der Universität schrieb ich Harold in
einem Brief: »Wir kennen keine Methode, mit der man den
Todeszeitpunkt der Kuh ermitteln könnte. Über das Alter des Tieres
bei seinem Tod kann ich eine Aussage machen, aber ich kann nichts
darüber sagen, wie viel Zeit seit seinem Tod verstrichen
ist.«
Aber seine Anfrage hatte mich nachdenklich gemacht.
Ich hatte eine Idee. In dem Brief fuhr ich fort:
Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, gibt es
nach unserer Kenntnis in dieser Frage bisher keinerlei
Forschungsarbeiten. Wenn Sie einen Bauern kennen, der sich dafür
interessiert und bereit wäre, eine Kuh zu töten und liegen zu
lassen, könnten wir ein Experiment machen und feststellen, nach
welcher Zeit das Fleisch zu verwesen beginnt. Damit könnten wir auf
diesem Gebiet gewisse Erkenntnisse gewinnen. Die
Verwesungsgeschwindigkeit < ist aber im Sommer nicht die gleiche
wie im Winter, und ich fürchte, wir müssten mindestens zwei Kühe
opfern, um vollständige Daten zusammenzutragen …
Harold griff meinen Vorschlag nie auf; für ihn war
es vermutlich die wissenschaftliche Entsprechung zu einem Truman
Capote, der im Damennachthemd die Tür öffnet - vielleicht war die
Idee für seinen Geschmack einfach zu ungewöhnlich. Aber auch mich
drängte es nicht, die Sache weiter zu verfolgen. Ich hatte sie
sogar fast 40 Jahre lang völlig vergessen; erst vor kurzem fiel mir
der Brief in einem staubigen Aktenschrank wieder in die Hände, wo
er sich hinter einer brüchigen alten Röntgenaufnahme versteckt
hatte.
Aber auch wenn ich diese kleine wissenschaftliche
Idee abgelegt und vergessen hatte, war damit ein Keim gelegt worden
- ein Keim, der 15 Jahre später aufgehen und Früchte tragen sollte.
Und diese Früchte erwuchsen nicht aus Kühen, sondern aus
menschlichen Leichen: aus den Leichen der Body Farm.
Aber ich greife vor. Die Body Farm lag noch weit in
der Zukunft; wir schrieben den Dezember 1970, und ein Polizist aus
der nahe gelegenen Kleinstadt Olathe, 40 Kilometer südöstlich von
Lawrence, kam in mein Büro. Er hatte eine Asservatenkiste aus Pappe
bei sich. Darin lag eine kleine, traurige Ansammlung von
Skelettresten. Ich konnte auf den ersten Blick sagen, dass es sich
um die Knochen eines Kleinkindes handelte, das vermutlich nicht
älter als zwei oder drei Jahre war. Wie der Beamte Jerry Foote mir
berichtete, hatten Wachteljäger sie eine Woche zuvor draußen in der
Prärie gefunden. Die meisten Knochen fehlten - nach meiner
Vermutung hatten Tiere sie verstreut oder aufgefressen; zum Glück
war der Schädel noch relativ vollständig, nur die meisten Zähne
waren nicht mehr vorhanden.
Ich nahm in meinem Büro sofort eine erste
Untersuchung vor und erklärte dem Detective Foote, was ich dabei
beobachtete. Ich hatte schon frühzeitig gemerkt, dass die meisten
Polizisten sehr eifrig darauf aus sind, möglichst viel über
Ermittlungsmethoden zu lernen; sie hören sich gern an, was ich bei
der Untersuchung einer Leiche oder eines Skeletts zu sagen habe,
selbst wenn sich diese Untersuchung noch im Anfangsstadium
befindet.
In diesem Fall fiel mir auf, wie verwittert der
kleine Schädel war: Er musste schon seit Monaten im Freien gelegen
haben. Außerdem sah ich, dass die linke Seite ausgebleicht und fast
weiß war; vermutlich hatte er also auf der rechten Seite gelegen,
sodass die linke ungeschützt der Sonne und dem Regen ausgesetzt
war. Auf der rechten Seite klebten ein paar feine blonde Haare an
der Stirn, einige weitere fand ich an der Schädelbasis und an den
Halswirbeln. Das Haar bestätigte, was ich schon auf Grund der
Schädelform vermutet hatte: Es handelte sich wahrscheinlich um ein
weißes Kind.
Die Zähne waren zum größten Teil ausgefallen, aber
wie man deutlich erkannte, war das Gebiss fast vollständig gewesen,
einschließlich der ersten Molaren, die sich sogar noch an ihrem
Platz befanden; demnach war das Kind wahrscheinlich mindestens 24
Monate alt gewesen. Die Wurzeln der Eckzähne waren jedoch noch
nicht vollständig ausgebildet, das heißt, sein Alter lag unter 36
Monaten. Drei Jahre: Für die meisten Kinder ist das eine Zeit mit
Schlafliedern, Plüschtieren, Versteckspielen und Buntstiften. Für
dieses Kind war es die Zeit des Todes gewesen, möglicherweise durch
einen Mord.
War es ein Junge oder ein Mädchen? Von der Pubertät
an lässt sich das Geschlecht eines Skeletts vor allem anhand der
Beckenknochen recht einfach feststellen: Wie es den Erfordernissen
einer Entbindung entspricht, haben Frauen ein deutlich breiteres
Becken mit längerem Schambein. In der frühen Kindheit jedoch gibt
es in der Form des Beckens von Jungen und Mädchen so gut wie keine
Unterschiede. In einem bestimmten Alter sind Mädchen in der Regel
ein wenig kleiner, aber wenn man das Alter nicht genau kennt - und
alles andere würde bedeuten, dass man wahrscheinlich auch über die
Identität bereits Bescheid weiß -, gibt es keine Anhaltspunkte für
das Geschlecht.
Was die Identität dieses Kindes anging, war die
Polizei sich nach Aussage von Detective Foote relativ sicher: Die
zweieinhalbjährige Lisa Elaine Silvers war acht Monate zuvor als
vermisst gemeldet worden. Gerald Silvers, ihr 21-jähriger Onkel,
war am 22. April 1970 als Babysitter bei Lisa und ihrer Schwester -
einem Säugling - gewesen, während die Eltern ins Kino gingen.
Gerald hatte bei der Polizei angegeben, er sei eingeschlafen, und
als er wieder aufwachte, sei Lisa weg gewesen. Polizei und Nachbarn
gingen sofort auf die Suche, fanden aber keine Spur von dem
Kind.
Nach dem Verhör reiste Gerald von Kansas nach
Kalifornien - ganz kurzfristig und in einem Polizeiauto. Nach Lisas
Verschwinden hatte Detective Foote bei einer Routineüberprüfung
festgestellt, dass Gerald im Golden-Gate-Staat wegen Raub und
Fahrerflucht gesucht wurde - er war also nicht der Typ von Onkel,
den ich als Babysitter bei meinen Kindern lassen würde. Das
bedeutete aber nicht zwangsläufig, dass er der Mörder war. Aus dem
Inhalt der Schachtel auf meinem Schreibtisch ging nicht einmal
eindeutig hervor, dass es sich um die Knochen von Lisa handelte.
Nicht nur das Geschlecht ließ sich unmöglich feststellen, es gab
auch keine verheilten Verletzungen, die man mit Röntgenaufnahmen
aus ärztlichen Unterlagen über Lisa hätte abgleichen können. Auch
zahnärztliche Aufzeichnungen existierten nicht; ihr Leben war vor
dem ersten Zahnarztbesuch zu Ende gewesen. Vor mir lagen 50
Knochen, und doch hatte ich nichts Definitives in der Hand. Ich
schrieb sofort meinen kurzen Befund nieder, gab Detective Foote das
Papier und wünschte ihm viel Glück für die weitere
Aufklärungsarbeit.
Dieses Glück hatte er einige Monate später
anscheinend tatsächlich: Zwei Mithäftlinge von Gerald Silvers aus
Kalifornien verpfiffen ihn und sagten aus, er habe damit geprahlt,
dass er seine Nichte vergewaltigt und umgebracht hätte. Gerald
wurde vor einem Geschworenengericht in Kansas angeklagt und zum
Prozess wieder nach Olathe gebracht. Als aber die Beweisaufnahme
bevorstand, rief Detective Foote mich in heller Aufregung an. Da
wir das Skelett nicht eindeutig als Lisa identifiziert hatten,
würde es für Geralds Anwalt ein Leichtes sein, die Anklage zu
entkräften. Es gab zwar eine Leiche, aber keine Jury hatte auch nur
den geringsten Grund zu der Annahme, dies sei Lisa oder sie sei von
ihrem Onkel vergewaltigt und umgebracht worden.
Foote bettelte geradezu: ob wir nicht doch
irgendetwas tun könnten, um zu einer eindeutigen Identifizierung zu
gelangen? »Haben Sie ein Foto von Lisa?«, fragte ich in der
Hoffnung, es könne in ihrem Gesicht irgendein charakteristisches
Merkmal geben, das sich mit der Form des Schädels in Verbindung
bringen ließ. Ja, er hatte eines und versprach, es mir zu
schicken.
Als der Umschlag ankam, riss ich ihn sofort auf.
Das Bild zeigte ein hübsches, blondes, fröhliches kleines Mädchen,
das stolz in die Kamera lächelte. Mein Blick blieb an den Zähnen
hängen: Ohne dass ich genau wusste warum, sah ich in dem Lächeln
des Kindes einen Hoffnungsschimmer. Ich rief Detective Foote
an.
»Erzählen sie mir noch mehr über den Fundort der
Leiche«, sagte ich. Wie Foote mir daraufhin berichtete, waren die
Wachteljäger rund 15 Kilometer von Olathe entfernt in einem
schmalen, seichten Bachlauf gewatet, der sich über eine Wiese zog.
»Wir brauchen die übrigen Zähne, nicht nur die Molaren«, erwiderte
ich.
Detective Foote meldete Zweifel an. Er erklärte,
sie hätten schon stundenlang gesucht, nur um diese wenigen Knochen
zu finden. Dass sie etwas übersehen hatten, hielt er für
unwahrscheinlich. Ich selbst hatte in meiner Berufslaufbahn bereits
mehrere tausend Skelette ausgegraben und war recht geübt darin,
Knochen und Zähne einzusammeln. Die Knochen hatten zwar meist aus
unberührten Indianergräbern gestammt, in einer nicht
unbeträchtlichen Minderheit der Fälle jedoch - insgesamt mindestens
700-mal - waren sie weit verstreut, weil Tiere, Unwetter, Erosion
oder Menschen sie über ein großes Gebiet verteilt hatten. Meist
folgte ihre Verteilung dabei einem bestimmten Muster, und ich
hoffte, dies könne auch hier der Fall sein. »Die Zähne werden da
sein, wo auch die Leiche gefunden wurde«, sagte ich. »Gehen wir
also hin, dann finden wir sie auch.«
Mittlerweile war es Mitte April. Fünf Monate waren
vergangen, seit die Wachteljäger in dem Bachlauf über den kleinen
Schädel gestolpert waren. Als wir mit dem Auto über die Prärie
holperten und am Bachufer anhielten, hoffte ich nur, dass hier seit
dem Herbst niemand mehr das Bachbett aufgewühlt hatte. Wäre eine
Kuhherde in dem Schlamm herumgestampft, hätte praktisch keine
Aussicht mehr bestanden, irgendetwas zu finden. Glücklicherweise
gab es keinerlei Spuren von Rindern. Außerdem war es ein recht
warmer, trockener Frühling, sodass der Bach nur ein paar Zentimeter
tief war. Allmählich kehrte mein Optimismus wieder.
Man braucht kein wissenschaftliches Genie zu sein,
um sich klar zu machen, dass Knochen in einem Bach normalerweise
stromabwärts gespült werden. Die Frage ist nur, wie weit
stromabwärts. Kleinere, leichtere Knochen legen in der Regel eine
größere Strecke zurück als der Schädel oder die langen Knochen von
Armen und Beinen. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht: Je
weiter das Wasser einen Knochen trägt, desto größer ist auch die
Wahrscheinlichkeit, dass er rechts oder links am Ufer angespült
wird. Schematisch wiedergegeben, sieht das Verteilungsmuster aus
wie ein lang gezogener Tropfen, dessen Spitze am weitesten
stromaufwärts liegt. Je größer der Wasserlauf ist und je schneller
er fließt, desto länger ist der tropfenförmige Bereich.
Von der Stelle, wo man den Schädel und die meisten
Knochen gefunden hatte, ging ich ungefähr 15 Meter bachabwärts, um
mich dann gegen die Strömung wieder langsam vorzuarbeiten. Da ich
auf diese Weise außerhalb des voraussichtlichen Streubereiches
anfing, bestand eine geringere Gefahr, dass ich auf einen Knochen
trat und ihn zerbrach oder noch tiefer in den Schlamm drückte.
Außerdem wurde der Schlamm, den ich im Bachbett beim Gehen und
Wühlen aufwirbelte, entgegen meiner Gehrichtung weggespült. Wenn
man so darüber nachdenkt, ist es ganz einfach, aber ungeübte
Fahnder suchen erstaunlich oft nach dem Zufallsprinzip und wirbeln
in einem mehrfachen Sinn eine Menge Schlamm auf.
Etwa zehn Meter stromabwärts vom Fundort des
Schädels spürte ich im Schlick kleine Kieselsteine. Nur waren es
keine Kieselsteine, sondern winzige Knochen - Handknochen,
Fußknochen und Wirbel. Außerdem fanden wir insgesamt 14 Zähne; nur
zwei untere Schneidezähne blieben verschwunden. Es war ein Gefühl,
als wäre ich auf eine Goldader gestoßen. Auf dem Rückweg zu meinem
Büro in Lawrence war ich voller Hoffnung, dass ich an diesen
Knochen und Zähnen irgendetwas finden würde, das eindeutig sagte:
»Ich bin - ich war - Lisa Silvers.«
In einem war ich mir sicher: Zumindest würde ich
das Alter des Kindes anhand der Zähne genauer abschätzen können.
Eine Gruppe von Zahnmedizinern hatte an der Harvard University ein
sehr exaktes Schema für die Entwicklungsstadien der verschiedenen
Milchzähne erstellt. Ich röntgte einen unteren Eckzahn, einen
unteren ersten Molaren und einen unteren zweiten Molaren und
verglich die Aufnahmen mit denen aus der Harvard-Studie. Damit
gelangte ich zu einer Schätzung von 2,1 Jahren. Einer anderen
Untersuchung zufolge ließ der erste untere Molare auf ein Alter von
2,9 bis 3,9 Jahren schließen, und nach einem dritten Schema lag das
Alter zwischen 2,5 und drei Jahren.
Letztlich geht es in der forensischen Zahnkunde
natürlich immer um die Frage, ob man zahnmedizinische Arbeiten
findet, die mit vorhandenen Patientenunterlagen übereinstimmen.
Leider war Lisa noch nie beim Zahnarzt gewesen, und deshalb gab es
solche Daten in diesem Fall nicht. Aber da kein einziger Zahn eine
Füllung hatte, konnten wir auch nicht ausschließen, dass es sich um
Lisa handelte.
Als es so weit war, starrte ich stundenlang die
Zähne an. Selbst wenn ich die Augen schloss, sah ich immer noch
ihre Umrisse. Und obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ich aus
wissenschaftlicher Sicht wirklich jeden Stein umgedreht hatte,
starrte ich sie immer noch an, drehte und wendete sie zwischen
meinen Fingern und im Geist. Sie hatten irgendetwas an sich, aber
ich kam einfach nicht darauf. Vielleicht betrachtete ich sie zu
sehr aus der Nähe. Wer schon einmal Astronomie betrieben hat, der
weiß, dass man am Rand des Gesichtsfelds oft schwächeres Licht
wahrnimmt als in der Mitte. Wenn man einen schwach leuchtenden
Stern ausfindig machen will, muss man deshalb immer ein wenig neben
die Stelle blicken, an der man ihn vermutet.
In diesem Fall musste ich keine Blicke irgendwie
anders einstellen, um das zu sehen, was ich auf geradem Wege nicht
wahrnehmen konnte. Also trat ich einen Schritt zurück; statt die
Zähne einzeln zu untersuchen, steckte ich sie in ihre Höhlen im
Kieferknochen und ließ den Blick zwischen dem Schädel und dem Foto
der lebenden, lächelnden Lisa Silvers hin und her wandern. Erstens
befand sich zwischen den beiden mittleren oberen Schneidezähnen -
den »Vorderzähnen«, wie sie im Volksmund genant werden - eine
kleine Lücke. Ich bemerkte sie sowohl als ich die Zähne in ihre
Höhlen steckte, als auch beim Betrachten des Fotos.
Zweitens - und das war jetzt, wo die Zähne sich an
ihrem Platz befanden, noch viel auffälliger - hatte jeder der vier
oberen Schneidezähne an einer Ecke eine kleine Kerbe. Die Zähne
waren nicht abgebrochen, sondern hatten sich so entwickelt. Es war
eine genetische Besonderheit, und die bildete möglicherweise den
Schlüssel zur Identifizierung der Leiche. Als ich den Blick wieder
auf das Foto richtete, spürte ich ein erregtes Kribbeln. Ich rief
Detective Foote an und sagte: »Wir haben Lisa Silvers eindeutig
identifiziert.«
Das war im April. In den beiden folgenden Monaten
floss eine Menge Wasser die verschiedensten Flüsse hinunter.
Für mich bestand die größte Veränderung in unserem
Umzug nach Tennessee, der Ende Mai stattfand. Meine Jahre in Kansas
waren eine Zeit ungeheurer Weiterentwicklung gewesen. Die
sommerliche Freilandarbeit war anstrengend, aber auch spannend; die
Zeit an der Universität brachte doppelte Freude durch die
forensischen Untersuchungen für verschiedene Polizeibehörden und
den täglichen Reiz der akademischen Lehre. Sobald ich vor einer
Menschengruppe stehe - ob Erstsemester, ein Seminar für Doktoranden
der Anthropologie, eine Ausbildungsklasse des FBI oder eine
Versammlung älterer Mitbürger -, kommt es mir vor, als würde in
meinem Inneren ein Schalter umgelegt, der einen gewaltigen
Adrenalinschub auslöst. Ich mache alberne Verrenkungen, um zu
demonstrieren, wie unser Skelett funktioniert; oder ich erzähle
Witze, meist ein wenig zweideutige, die mir mindestens einmal pro
Semester wieder um die Ohren gehauen werden. Aber die große
Mehrheit meiner Studenten kannte und schätzte offenbar meinen
Unterrichtsstil; meine Vorlesung »Einführung in die Anthropologie«
zog in Kansas jeden Herbst über 1000 Studenten an - es waren so
viele, dass der Dekan die Veranstaltung von einem Hörsaal in das
Auditorium maximum der Universität verlegen musste.
Aber unter der Oberfläche herrschten im Institut
für Anthropologie tief greifende Meinungsverschiedenheiten. Als ich
1960 nach Kansas gekommen war, war die Anthropologie ausschließlich
durch Archäologen und Kulturanthropologen vertreten. Dann wurden in
rascher Folge drei physische Anthropologen eingestellt. Wir drei
erwarben uns mit unseren forensischen Arbeiten schon bald im ganzen
Land einen guten Ruf - und wir unterrichteten auch die Mehrzahl der
Studenten, die anthropologische Lehrveranstaltungen belegten.
Gleichzeitig wuchs bei den Kulturanthropologen die
Abneigung gegen uns. Die Spannungen nahmen so stark zu, dass alle
drei physischen Anthropologen sich nach anderen Stellen
umsahen.
Ich wechselte als Erster die Pferde. Die University
of Tennessee wollte einen landesweit anerkannten Studiengang für
Anthropologie aufbauen, genau das, womit wir in Kansas gerade
begonnen hatten. Als man mir die Gelegenheit bot, das Programm zu
leiten - wobei ich gleichzeitig die Chance hatte, zwei Kollegen
meiner Wahl einzustellen -, konnte ich unmöglich ablehnen.
Innerhalb eines Jahres hatten auch die beiden
anderen physischen Anthropologen sich in bessere Weidegründe oder
doch zumindest in ein kollegialeres Umfeld begeben, und Kansas
hatte ein Potenzial an Fachkenntnissen verloren, dessen Aufbau zehn
Jahre in Anspruch genommen hatte.
Als ich am 1. Juni 1971 nach Knoxville kam, wirkte
die neue Tätigkeit auf mich durchaus nicht wie ein Traumjob. Die
wenigen Anthropologen waren dort bisher im kleinen archäologischen
Museum der Universität untergebracht. Wenn wir das Institut
ausbauen und einen Promotionsstudiengang einrichten wollten,
brauchten wir mehr Platz, und zwar viel mehr. Dazu bot sich nur
eine einzige Möglichkeit: gespenstische Räumlichkeiten unter den
Tribünen des Neyland Stadium, jenes riesigen Tempels, den die
University of Tennessee dem College-Football der Southeastern
Conference geweiht hatte. Es ist das drittgrößte Stadion der
Vereinigten Staaten.
In dem düsteren Gebäude, das man 1940 angebaut
hatte, waren ursprünglich die Footballspieler der Hochschule und
andere Sportler untergebracht gewesen. Als es für diesen Zweck zu
alt und heruntergekommen war, hatte die Universität neue
Sportlerunterkünfte gebaut und Studenten, die keinen Sport
betrieben, in den Räumen unter den Tribünen einquartiert. Und
jetzt, da sie auch für unsportliche Studenten zu alt und
heruntergekommen waren, überließ die Hochschule sie großzügig dem
Lehrkörper. Den Dozenten meines Fachgebietes.
Aber entscheidend ist nicht, in was für
Räumlichkeiten man zum Arbeiten untergebracht wird, sondern welche
Arbeit man darin leistet. Das Manhattan Project zur Entwicklung der
Atombombe im Zweiten Weltkrieg begann ebenfalls unter einem
Footballstadion. Unter den Tribünen des Stagg Field der University
of Chicago baute ein Physikerteam unter Leitung von Enrico Fermi
einen einfachen Kernspaltungsreaktor, brachte die kritische Masse
an Uran hinein und setzte eine Kettenreaktion in Gang, durch die
sich die Welt ein für allemal veränderte.
Wir fingen in Knoxville mit acht Büroräumen an. Sie
waren völlig leer, mit Ausnahme eines einzigen Telefons, das in
einem der Räume auf dem Fußboden stand. Keine Schreibtische, keine
Stühle, keine Bücherregale, keine Aktenschränke. Sobald ich
angekommen war, gingen wir hektisch daran, Möbel, Ausrüstung und
Material zu organisieren, zu erbetteln und zu leihen. Damit hörten
wir nie mehr auf. Unser Wachstum überstieg immer unseren Etat; seit
damals ist das anthropologische Institut von den ersten acht Räumen
auf etwa 150 angewachsen. Sie sind heute sogar noch älter und
baufälliger als im Juni 1971, aber unter den Tribünen wirkt nach
wie vor eine kritische Masse an anthropologischer Fachkenntnis. Die
Kettenreaktion läuft weiter.
Nicht lange nachdem Lisa Silvers verschwunden war,
brachte man ihren Onkel Gerald wieder nach Tracy in Kalifornien.
Dort wurde er wegen der Delikte von Raub und Fahrerflucht, die er
mehrere Jahre zuvor begangen hatte, zu einem Aufenthalt von
»unbestimmter« Länge am Deuel Vocational Institute
verurteilt.
Die Polizei in Kansas hatte von Anfang an Zweifel
an Geralds Geschichte. Lisa war nie zuvor allein weggelaufen, und
dass sie es im Dunkeln getan haben sollte, während ihre Eltern
nicht zu Hause waren, erschien unwahrscheinlich. Außerdem wusste
man, dass die meisten Kindesentführungen von Verwandten oder
Bekannten des Opfers begangen werden. Je länger die Ermittlungen
andauerten, desto stärker waren die Beamten von Geralds Schuld
überzeugt. Als dann noch zwei Mithäftlinge den Polizisten
erzählten, dass er die Vergewaltigung und den Mord an dem Kleinkind
zugegeben hatte, wussten sie ganz genau, dass sie Recht
hatten.
Der Prozessbeginn war für den 16. Juni in Olathe in
Kansas angesetzt. Mark Bennett, der Staatsanwalt, hatte meine
Zeugenaussage für Freitag, den 18. Juni vorgesehen. »Wenn Sie mit
dem Flugzeug kommen, werde ich dafür sorgen, dass Sie abgeholt
werden; Sie müssen mir nur Flugnummer und Ankunftszeit mitteilen«,
schrieb er mir. Ich schrieb zurück, ich müsse mit dem Auto fahren
und noch ein paar Kisten mit Habseligkeiten abholen, die beim Umzug
nach Knoxville nicht mehr in den Lastwagen gepasst hatten.
Ich hatte kaum Zeit, meinen Koffer auszupacken und
mich in meinem neuen Quartier in Tennessee einzurichten, da musste
ich mich schon wieder ins Auto setzen und die lange Strecke nach
Kansas fahren. Während ich mit meinem neuen leuchtend blauen
Mustang Kombi - mit dem Auto hatte ich mich selbst für die neue
Stelle und den großen beruflichen Aufstieg belohnt - auf der
Interstate 40 nach Westen unterwegs war, hatte ich viel Zeit, über
den traurigen Fall nachzudenken.
Am Nachmittag des 17. Juni kam ich an, müde von der
zwölfstündigen Fahrt und nervös wegen meiner bevorstehenden
Aussage. Ich sah meine Berichte noch einmal durch und übte im
Geist, die wissenschaftlichen Befunde in einer Sprache zu erklären,
mit der ich eine Jury von Laien aus Kansas nicht verschrecken
würde.
Am nächsten Morgen wurde ich genau nach Zeitplan
vereidigt. Mark Bennett führte mich mit seinen Fragen durch meine
Befunde, streifte kurz die verschiedenen Methoden zur
Altersbestimmung und konzentrierte sich dann auf den Spalt zwischen
den Vorderzähnen sowie auf die Kerben in den Schneidezähnen, die
genau mit dem Foto von Lisa übereinstimmten.
Zu meiner großen Erleichterung stellte der
Verteidiger meine Identifizierung von Lisas Leiche nicht in Frage.
Wie ich es erwartet hatte, ging er auf mehrere offenkundige
Schwachpunkte in der Argumentation der Anklage ein. Ob ich die
Todesursache feststellen könne? Nein, das konnte ich nicht. Ob es
Anzeichen für Gewalteinwirkung oder Verletzungen gebe? Nein, die
gab es nicht. Ob ich behaupten könne, Lisa sei vergewaltigt worden?
Nein, das konnte ich nicht. Ich wusste, wer sie war, ich wusste,
dass sie lange in dem Bach gelegen hatte, ich wusste, dass es eine
menschliche Tragödie und eine große Schande war, aber das war auch
alles.
Der Prozess dauerte eine Woche. Als er zu Ende
ging, war ich bereits wieder in Knoxville, packte Umzugskartons aus
und bemühte mich verzweifelt, Büromöbel aufzutreiben. Mark Bennett
schickte mir den Artikel von der Titelseite des Kansas City
Star: SILVERS UND DER MORD AN DER NICHTE: FREISPRUCH. Die
Verteidigung hatte die Glaubwürdigkeit der beiden Häftlinge ins
Wanken gebracht, nach deren Aussage Gerald die Vergewaltigung und
den Mord an Lisa zugegeben hatte. Wie Zeugen der Verteidigung
bestätigten, waren beide Männer homosexuell.
Earl Silvers, Lisas Vater, lobte Geralds Anwalt
nach dem Prozess in den höchsten Tönen. »Er war sehr gut«, sagte
Earl dem Reporter einer Lokalzeitung. »Er hat ununterbrochen
gearbeitet, sieben Tage in der Woche, und immer bis neun oder zehn
Uhr abends.« Charles Silvers, der Großvater des Mädchens, gab
seiner Hoffnung Ausdruck, dass Gerald nach Hause kommen werde, wenn
er seine Gefängnisstrafe abgesessen hatte. »Kalifornien ist nicht
die richtige Gegend, wenn man ein neues Leben anfangen will«, sagte
er.
Kurz nach dem Prozess wurden Lisas sterbliche
Überreste beigesetzt. Hätte sie weitergelebt, wäre sie heute Mitte
30 und hätte vielleicht selbst ein Kind. Vielleicht ein Mädchen mit
dünnen blonden Haaren, einer kleinen Zahnlücke und vier
charakteristisch eingekerbten Zähnen inmitten eines breiten,
fröhlichen Lächelns.