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Nackte Knochen: Forensische Wissenschaft für
Anfänger
Wenn eine Beziehung 40 Jahre hält, lernt
man einander ziemlich gut kennen. Aber jeder nimmt auch das eine
oder andere Geheimnis mit ins Grab.
Meine langjährige Partnerin in der akademischen
Lehre lernte ich zu Beginn des Herbstsemesters 1962 kennen. Ich war
ein frisch gebackener Doktor und hatte zwischen meinen sommerlichen
Ausgrabungsarbeiten in South Dakota einen Lehrauftrag an der
University of Kansas; meine zukünftige Partnerin war ein nicht ganz
frischer Leichnam, den drei Taubenjäger und ein Geflügelhund nicht
weit von Leavenworth in einem Straßengraben am Missouri entdeckt
hatten. Er lag in der Flussniederung - in dem Gebiet, das die
Einheimischen als »da unten« bezeichneten. Der Boden, der sich dort
durch gelegentliche Überschwemmungen abgelagert hatte, war weich
und sandig. Der Mord hatte sich im Sommer ereignet, und das Opfer
auszugraben war einfach.
Als forensischer Anthropologe sehe ich häufig
Leichen, die ihre beste Zeit hinter sich haben: aufgedunsene,
geplatzte, verbrannte, von Käfern besiedelte, verweste, zersägte,
abgenagte, verflüssigte, mumifizierte oder zerlegte Körper. Manche
sind sogar skelettiert, nur noch Knochen - nackt, aber höchst
aufschlussreich.
Fleisch verwest, Knochen bleiben erhalten. Fleisch
vergisst und vergibt frühere Verletzungen; Knochen heilt zwar
ebenfalls, aber die Erinnerung bleibt: ein Sturz in der Kindheit,
eine Kneipenschlägerei; der Schlag eines Pistolenknaufs auf die
Schläfe, der schnelle Stich einer Messerklinge zwischen die Rippen.
Die Knochen halten solche Augenblicke fest, bewahren ihre Spuren
und offenbaren sie jedem, dessen geübter Blick die vielfältigen
sichtbaren Indizien erkennt und das leise Flüstern der Toten
versteht.
Vor kurzem war ich im Leichenschauhaus an der
medizinischen Fakultät der University of Tennessee. Dort bot sich
auf einer metallenen Bahre ein herzzerreißender Anblick: das
Skelett eines Säuglings, nicht mehr als drei Monate alt und so
zerschmettert, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ein Arm und ein
Bein waren ebenso gebrochen wie fast jede einzelne winzige Rippe.
Am entsetzlichsten aber war, dass man nicht nur diese Brüche vom
Todeszeitpunkt erkennen konnte, sondern auch viele andere in
verschiedenen Stadien der Heilung. Das arme Kind war praktisch vom
Augenblick seiner Geburt an misshandelt worden, und doch hatte der
geschundene kleine Körper immer wieder versucht, sich selbst zu
helfen. Hätte er die Gelegenheit gehabt, wäre er genesen - der
menschliche Organismus besitzt eine fast unglaubliche Zähigkeit.
Aber ebenso unglaublich ist auch die Grausamkeit mancher Menschen.
Mir tat es auf eine traurige Weise gut, als ich später las, dass
die Mutter wegen Mordes angeklagt wurde und jetzt auf ihren Prozess
wartet.
Das erwachsene Verbrechensopfer, das ich an jenem
Tag im Jahr 1962 untersuchte - und das zu meinem Unterrichtspartner
werden sollte -, war nicht auf die nackten Knochen reduziert. Wäre
das der Fall gewesen, hätte sich die Untersuchung wesentlich
angenehmer gestaltet. Die sterblichen Überreste wurden in einer
stinkenden Pappkiste angeliefert, die mit Bindfaden oben auf dem
Kofferraumdeckel einer schwarzen Limousine befestigt war. Die
beiden Beamten der Kriminalpolizei von Kansas hatten ihn dort
festgebunden, weil sie den Gestank nicht in ihrem Kofferraum haben
wollten. Auch die Hände wollten sie sich nicht schmutzig machen:
»Den fasse ich nicht an«, sagte der eine, »das müssen Sie schon
selbst machen.« Also ging ich nach draußen auf den Parkplatz,
schnitt den Bindfaden durch und trug die Kiste auf den Hof des
naturhistorischen Museums der Universität, wo sich auch mein Büro
befand. Ich stellte sie ins Gras, hob eine Plastiktüte heraus,
öffnete sie und brachte ein verwesendes Leichenteil nach dem
anderen zum Vorschein.
Um mich hatten sich mehrere besonders tapfere
Anthropologiestudenten versammelt. Ein paar Stunden zuvor hatte das
Herbstsemester begonnen - es war der Tag nach dem Labor Day -, und
es ging an der Hochschule bereits recht lebhaft zu. Einerseits war
alles sehr grausig, aber andererseits war die Untersuchung eines
gerade erst ausgegrabenen Mordopfers eine einzigartige Gelegenheit,
etwas zu lernen, eine Chance, die sich nur wenigen Studenten der
Anthropologie - und noch nicht einmal allen Professoren - jemals
bietet.
Ich erklärte den Studenten, welches Ziel man
verfolgt, wenn man in einem Kriminalfall eine Leiche untersucht:
Man will sie eindeutig identifizieren. Außerdem will man möglichst
auch die Todesursache feststellen (genau genommen, können nur
medizinische Sachverständige die Todesursache feststellen; wir
Anthropologen sprechen von der »Todesart«).
Aber bevor man etwas darüber aussagen kann, wer es
war und wie er gestorben ist - was sich nicht immer feststellen
lässt -, fängt man mit den vier großen Eigenschaften an:
Geschlecht, Rasse, Alter und Körpergröße.
Wenn ich die sterblichen Überreste eines Menschen
untersuche, lege ich den Leichnam oder die Knochen immer zunächst
in der richtigen anatomischen Anordnung auf den Rücken. Das dauerte
in diesem Fall nicht lange: Die Polizei hatte mir nur drei Teile
gebracht - einen Oberschenkelknochen, den Unterkiefer und den
Schädel. Damals, 1962, rief man nur in den seltensten Fällen einen
Anthropologen zur Ausgrabung oder Bergung der Überreste an einen
Tatort; das erledigte die Polizei, so gut sie konnte (manchmal
sorgfältig, oft aber auch sehr unbeholfen), und dann brachte sie
den Schädel oder wie in diesem Fall vielleicht einen gebrochenen
Knochen oder eine durchtrennte Rippe und fragte nach allem, was ihr
rätselhaft vorkam. Es war, als sollte ein Mechaniker am Auto die
Ursache von Fehlzündungen finden, aber man bringt ihm nicht das
ganze Fahrzeug, sondern nur den Vergaser oder den Zündverteiler;
aber so wurde es damals tatsächlich gehandhabt. Glücklicherweise
entwickelte sich zwischen der Polizei und mir im Laufe der Jahre
eine gute Arbeitsbeziehung, und später wurde ich immer häufiger an
den Schauplatz von Verbrechen gerufen, sobald man Leichenteile
gefunden hatte und bergen wollte.
Als die Studenten näher kamen und sich die Sache
genauer ansehen wollten - wobei manche wegen des Gestanks den Atem
anhielten -, untersuchten wir den Oberschenkelknochen. Es hing noch
eine ganze Menge anderes Gewebe daran. An der Form des
Hüftgelenkkopfes (das ist die »Kugel«, die in der Gelenkpfanne der
Hüfte liegt) und der unteren Gelenkfläche, die am Knie mit dem
Schienbein verbunden ist, konnte ich erkennen, dass wir es mit dem
rechten Oberschenkel zu tun hatten. Ich legte ihn ins Gras neben
einen imaginären Hüftknochen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein
Becken, eine Wirbelsäule, zwei Arme und einen Brustkorb. An das
obere Ende der gedachten Wirbelsäule legte ich den Kopf und den
Unterkiefer.
Das Gesicht war nicht mehr vorhanden. Aus dem Gras
starrte uns ein schmieriger, schmutziger Schädel an; seitlich und
am Hinterkopf hingen noch verwesende Haut- und Muskelfetzen daran.
Für einen Knochenspezialisten wie mich (der Begriff »forensischer
Anthropologe« wurde erst später geprägt) machte das Fehlen von
Fleisch im Gesicht die Aufgabe nur einfacher.
Das hatte folgenden Grund: Die Haut einer Leiche
kann täuschen. Ist der Körper aufgedunsen, schwillt unter Umständen
auch das Gesicht an, sodass das Geschlecht nur noch schwer zu
erkennen ist. Wenn die Geschlechtsorgane fehlen - weil die Leiche
zerlegt wurde, zerfallen oder verwest ist oder Tieren als Nahrung
gedient hat - oder wenn das weiche Gewebe schon stark abgebaut ist,
liefert die Form der Knochen häufig die zuverlässigsten
Erkenntnisse.
Dieser Schädel hier war klein, und das ließ mich
sofort an eine Frau oder ein Kind denken. Der Mund war schmal und
das Kinn spitz - ebenfalls charakteristische Merkmale einer Frau.
Die glatte, fast stromlinienförmige Stirn und der Augenbrauenwulst
waren sogar ein regelrechtes Lehrbuchbeispiel für einen weiblichen
Schädel. Das erklärte ich auch den Studenten.
»Sie haben vermutlich schon öfter Comics mit
großen, klobigen Neandertalern und Höhlenmenschen gesehen«, sagte
ich. »Da haben die Männer diese riesigen Augenbrauenwülste, damit
es nicht wehtut, wenn ein anderer Höhlenmann mit dem
Oberschenkelknochen eines Mammuts draufschlägt.« Darüber mussten
sie lachen; im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass Humor
den Studenten das Lernen erleichtert, und deshalb suche ich immer
nach Anlässen, um meine Erklärungen mit Witzen aufzulockern. »Ich
möchte nicht behaupten, die Evolution von uns Männern wäre in den
letzten 20 000 Jahren nicht weitergegangen, aber der Schädel eines
männlichen Jetztmenschen ähnelt dem eines Neandertalers viel
stärker als ein Frauenschädel aus unserer Zeit.«
Ich hielt den Schädel in die Höhe, sodass sie ihn
besser sehen (und leider auch besser riechen) konnten, und zeigte
ihnen die Brauenwülste über den Augen. Ein Frauenschädel, der dort
nicht so kräftig gebaut ist wie der eines Mannes, hat am Übergang
zwischen Stirn und Augenhöhle eine scharfe Kante. Schließlich
drehte ich den Schädel um und zeigte ihnen auf der Unterseite das
Hinterhauptsbein: Dort sitzt bei Männern ein Knochenvorsprung, der
als Protuberantia occipitalis externa bezeichnet wird. Bei diesem
Schädel fehlte er; ein sehr männlicher Mann war es also eindeutig
nicht.
»Aber wie können wir mit Sicherheit feststellen, ob
es sich um eine erwachsene Frau oder einen zwölfjährigen Jungen
handelt?«, fragte ich die Studenten.
Einer war so mutig, zu raten: »An den
Zähnen?«
»Richtig«, sagte ich. »An den Zähnen.«
Unser rätselhaftes Verbrechensopfer besaß ein
vollständiges Gebiss - 30 Zähne, darunter auch die oberen dritten
Molaren (die »Weisheitszähne«), die aber im Unterkiefer fehlten.
Als wir Menschen in der Evolution allmählich immer seltener an
Tierknochen nagten, gingen unter anderem die dritten Molaren
verloren. Bei manchen Menschen brechen die Weisheitszähne nie
durch, wie ein Same, der niemals keimt. Also erklärte ich den
Studenten: Wenn bei einem Schädel die dritten Molaren nicht
durchgebrochen sind, muss das nicht bedeuten, dass die betreffende
Person noch nicht erwachsen war. Sind sie aber vorhanden, ist es so
gut wie sicher, dass der Mensch mindestens 18 Jahre alt war. In
diesem Fall war ich mir ziemlich sicher, dass wir eine erwachsene
Frau vor uns hatten.
Die beste Bestätigung, so fügte ich hinzu, würde
eine Untersuchung des Beckens liefern. Aber das hatten wir leider
nicht.
Das Becken eines erwachsenen Menschen ist ein
kompliziert gebautes Gebilde, das aus drei verwachsenen, eigenartig
geformten Knochen besteht: dem Kreuzbein am unteren Ende der
Wirbelsäule und den beiden Hüftbeinen. Die Hüftbeine sind seltsam
geformt: Oben sind sie breit wie die Ohren eines verärgerten
Elefanten, und darunter liegen zwei Wülste mit Öffnungen, die an
leere Augenhöhlen erinnern; vorn vereinigen sich zwei
Knochenleisten wie schrecklich fehlgebildete Stoßzähne.
Das Kreuzbein dient der Gewichtsverteilung: Es
überträgt das Körpergewicht von einer Säule, dem Rückgrat, über das
rechte und linke Hüftbein auf die beiden Säulen der Beine. Das
Hüftbein ist seinerseits eine komplizierte Struktur. Es ähnelt in
gewisser Hinsicht dem Gehirnschädel, der ebenfalls aus mehreren
verschmolzenen Knochen besteht.
Bis zur Pubertät kann man an jedem Hüftbein drei
getrennte Knochen unterscheiden: Darmbein, Sitzbein und Schambein.
Das Darmbein ist der oberste und breiteste Teil des Hüftbeins; sein
Rand verbreitert sich unmittelbar unterhalb der Taille wie ein
Elefantenohr. Das Sitzbein spürt man, wenn man auf einem harten
Stuhl ein wenig hin und her rückt. (Manche Menschen können in
diesem dicken Polster aus Fettgewebe kaum noch einen Knochen
spüren, aber er ist dennoch vorhanden.) Das Schambein schließlich
verläuft vorn, etwa zehn Zentimeter unter dem Nabel, quer über den
Bauch.
In der Pubertät spielen sich am Becken mehrere
interessante Veränderungen ab. Bei Frauen wird das Hüftbein
breiter, sodass es bei der Entbindung einen Kinderkopf durchlässt;
das Schambein wird länger, wölbt sich nach vorn und bildet so die
bogenförmige vordere Begrenzung des Geburtskanals.
Das männliche Becken ist wesentlich schmaler. Hier
hängen die Oberschenkelknochen mehr oder weniger senkrecht unter
den Hüftbeinen, während sie bei einer erwachsenen Frau unter den
Hüften ein wenig nach innen geneigt sind. Wie nicht anders zu
erwarten, finden diese unterschiedlichen geometrischen Verhältnisse
von Becken und Oberschenkeln ihren Ausdruck in wissenschaftlich
nachweisbaren, ästhetisch angenehmen Unterschieden der Art, wie
Männer und Frauen sitzen, stehen und gehen.
Im Fall unseres kurz zuvor ausgegrabenen Mordopfers
hätten wir also anhand des Beckens sehr einfach bestätigen können,
dass es sich um den Schädel einer Frau handelte.
Außerdem hätte das Becken auch nähere Aufschlüsse
über das Alter der Toten geliefert. Wie die Schädelnähte, so ist
auch die Schamfuge - die Stelle in der Körpermitte, wo das linke
und das rechte Schambein zusammentreffen - ein ausgezeichneter
Maßstab zur Altersbestimmung. Von der späten Jugend bis ungefähr
zum 50. Lebensjahr macht die Knochenoberfläche der Schamfuge eine
allmähliche, immer gleiche Wandlung durch, die vor über 80 Jahren
zum ersten Mal untersucht und genau aufgezeichnet wurde. Bei Frauen
ist die Schamfuge zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr höckerig;
danach, in den Zwanzigern und Dreißigern, wird sie allmählich
glatter; ungefähr vom 40. Lebensjahr an altert ihre Oberfläche und
nimmt ein poröses, schwammartiges Aussehen an. Betrachtet man sie
im Zusammenhang mit anderen Aspekten des Skeletts wie Zähnen,
Schädelnähten oder der Verschmelzung von Enden und Schaft der
Schlüsselbeine, kann man als Anthropologe anhand der Schamfuge
recht genau das Alter abschätzen - häufig weicht die Schätzung nur
um ein oder zwei Jahre vom tatsächlichen Alter der betreffenden
Person ab.
Zur Feststellung der Rasse dagegen bot der Schädel
alle erforderlichen Anhaltspunkte. Ich machte die Studenten auf den
Mund der Frau aufmerksam. Die Zähne standen stark nach vorn, und
genauso waren auch die Kieferknochen in dem Bereich orientiert, in
dem die Zahnwurzeln saßen. Diese Eigenschaft bezeichnet man als
Prognathie (nach dem altgriechischen Begriff für »Kiefer nach
vorn«); selbst der unerfahrenste Anthropologe erkennt darin ein
charakteristisches Kennzeichen eines negroiden Schädels.
Eine einfache Prüfung auf Prognathie demonstrierte
ich mit dem Schädel in der Hand. Man braucht nur einen Bleistift zu
nehmen und ein Ende zwischen Oberlippe und Nase ans Gesicht zu
drücken. Nun hält man dieses Ende als Drehpunkt fest und schwenkt
den Bleistift nach unten. Berührt er Lippen und Zähne, nicht aber
das Kinn, handelt es sich um einen Schädel mit Prognathie, der
vermutlich von einem Negroiden stammt; berührt er dagegen sowohl
das untere Ende der Nasenöffnung als auch die Kinnspitze, spricht
man von Orthognathie, und es handelt sich wahrscheinlich um einen
Weißen.
Unser Schädel bestand den Prognathie-Bleistifttest
mit Bravour; der Bau des Kieferknochens war ein Lehrbuchbeispiel
für die typische Struktur bei Negroiden. Eine weitere Bestätigung
lieferten die Zähne selbst: Die Oberfläche der Molaren wies viele
Erhöhungen und Vertiefungen auf, ganz anders als bei den Zähnen von
Weißen, die viel kleinere Höcker haben.
Ein paar Worte zum Thema Rasse: In den letzten
Jahren ist die Vorstellung von verschiedenen Rassen stark in Frage
gestellt worden. Einer neueren Denkschule zufolge ist die
Rassenzugehörigkeit kein objektives körperliches oder genetisches
Merkmal, sondern nur eine kulturelle Konstruktion. Einerseits ist
es sicher nützlich, wenn wir fragen und neu darüber nachdenken, was
wir eigentlich unter Rassen verstehen; andererseits habe ich im
Laufe eines knappen halben Jahrhunderts Zehntausende von Schädeln
untersucht, und ihre Merkmale - die man sehen, als Zahlenwerte
messen und statistisch darstellen kann - lassen sich ganz
einheitlich in drei Hauptgruppen einteilen: negroid, kaukasoid und
mongolid (wobei man als Mongolide die Asiaten, Eskimos und die
amerikanischen Ureinwohner bezeichnet, im Gegensatz zu Patienten
mit dem Down-Syndrom, die früher auch »Mongoloide« genannt wurden).
Je stärker sich die Menschen auf der ganzen Welt vermischen, desto
mehr verwischen sich auch die traditionellen Rassenunterschiede und
die entsprechenden Bezeichnungen, aber vorerst halte ich daran
fest, denn sie helfen mir, die Toten zu identifizieren, und sie
helfen der Polizei, Mordfälle aufzuklären.
Für diesen Nachmittag hatten die Studenten genügend
Kenntnisse und genügend Gestank in sich aufgenommen. Ich steckte
Schädel und Oberschenkel wieder in die Plastiktüte, schloss die
Kiste und brachte sie zu meinem Auto. Anders als die Polizisten
brachte ich sie im Kofferraum unter. Zwar widerstrebte es mir, die
Reste auf einem der Sitze zu transportieren, aber ich war
entschlossen, sie in unsere Küche zu bringen und auf Anns Herd zu
kochen.
Um meine Altersschätzung zu präzisieren und etwas
über den Körperbau der Frau aussagen zu können, musste ich das
verbliebene Gewebe von den Knochen entfernen. Da ich es mir nicht
leisten konnte, Schädel und Oberschenkel einfach im Freien liegen
zu lassen, sodass Insekten und Aasverwerter die Knochen sauber
fraßen - ein langsamer Vorgang, bei dem Oberschenkelknochen oder
Kiefer auch von einem Bussard oder Kojoten gestohlen werden können
-, gab es nur eine zuverlässige Methode, die Knochen zu reinigen:
Ich musste sie mehr als einen halben Tag lang in einem Dampftopf
vor sich hin kochen lassen und dann das erweichte Gewebe mit einer
Zahnbürste abschrubben (aber wohlgemerkt nicht mit meiner
eigenen).
Ann war Ernährungswissenschaftlerin. Ihre Küche und
ihre Kocherei nahm sie sehr ernst. Wie ich wohl nicht ausdrücklich
zu betonen brauche, war sie alles andere als begeistert, als sie
beim Gestank siedenden Fleisches nach Hause kam und feststellen
musste, dass in ihrem Achtlitertopf ein verwester menschlicher
Schädel und ein Oberschenkel köchelten. Ähnliches hatte sie schon
öfter erlebt: Ein Teil des anthropologischen Instituts der
University of Kansas, darunter auch mein Büro, war im Museum für
Naturgeschichte untergebracht, einem großartigen alten Gebäude, das
aber als Aufbewahrungsort für alte, trockene Knochen erbaut worden
war und sich nicht für die Verarbeitung frischer Exemplare mit
anhängendem Gewebe eignete. Ann war selbst Wissenschaftlerin und
wusste ganz genau, dass ich mit meiner Arbeit auf jede nur denkbare
Weise vorankommen musste. Ehe lebt von Kompromissen, und wir hatten
uns auf ein unkonventionelles, aber funktionierendes Abkommen
geeinigt: Sie nahm es hin, dass ich gelegentlich ihren Herd für die
Verarbeitung von Leichenteilen benutzte, aber ihre Töpfe und
Pfannen waren tabu - ich musste eigene Gerätschaften
mitbringen.
Es stimmt, was man so sagt: Ein Topf, den man
beobachtet, fängt nie an zu kochen. Lässt man ihn aber
unbeaufsichtigt, kocht er leicht über - jedenfalls dann, wenn er
mit Menschenknochen und verwesendem Fleisch gefüllt ist. Ich
verließ meinen Posten am Herd gerade lange genug, um zur Toilette
zu gehen; als ich zurückkam, floss ein Schaum aus Wasser,
Gehirnmasse und anderen faulig riechenden Bestandteilen über den
Topfrand und sickerte in alle Ritzen von Anns Herd. Er würde nie
mehr so werden wie früher. Von diesem Tag an stieg jedes Mal, wenn
wir eine Herdplatte oder den Ofen anschalteten, der gleiche faulige
Geruch auf und zog durch die Küche. Unter Anwendung meiner
unglaublichen Fähigkeit zu wissenschaftlichen Schlussfolgerungen
gelangte ich sehr schnell zu der Erkenntnis, dass tägliche
Erinnerungen an meinen Fehler am Herd der ehelichen Harmonie sicher
nicht sonderlich zuträglich wären, und deshalb war Ann schon wenig
später die stolze Besitzerin eines neuen Küchenherdes.
Ich hatte mittlerweile die Knochen abgeschrubbt und
zum Trocknen in die Sonne des frühen Septembers gelegt. Vom weichen
Gewebe befreit, schimmerte der Schädel in einem glatten,
elfenbeinfarbenen Glanz, auch das eine Eigenschaft negroider
Schädel, deren Knochensubstanz dichter ist als bei Weißen. Die
Prognathie des Mundes war jetzt, wo die Konturen nicht mehr durch
weiches Gewebe verändert wurden, noch deutlicher zu erkennen. Die
Nasenöffnung war breit und zeigte deutliche senkrechte »Rinnen« im
Oberkiefer, ganz im Gegensatz zu dem waagerechten »Damm« an den
Nasenöffnungen von Weißen. (Die breite, durch kein Hindernis
eingeengte Nasenöffnung des negroiden Schädels hat sich in der
Evolution entwickelt, weil sie den schnellen Luftaustausch und
damit die Kühlung in heißem Klima begünstigt; bei den Weißen
entwickelte sich die engere Öffnung mit dem Nasendamm, damit die
kühlere europäische Luft nicht zu schnell in die Lunge
strömt.)
Jetzt wusste ich also, dass es sich um die Knochen
einer farbigen Frau handelte, und ich wusste, dass sie erwachsen
war. Aber war sie 18 oder 20? Um das herauszufinden, untersuchte
ich die Schädelnähte.
Den menschlichen Schädel stellt man sich meist als
zusammenhängendes Knochengewölbe vor, und wenn man mit den Händen
über den Kopf fährt, fühlt er sich auch an, als wäre er aus einem
Stück. In Wirklichkeit ist das Schädelgewölbe aber eine
komplizierte Anordnung aus sieben Einzelknochen: ein Stirnbein,
zwei Scheitelbeine an Ober- und Rückseite des Schädels, zwei
Schläfenbeine an den Seiten, ein Keilbein, das von der Schädelbasis
bis zu den Seiten reicht, und das Hinterhauptsbein, der dicke
Knochen an Rück- und Unterseite, der auf dem ersten Halswirbel ruht
und den Durchgang des Rückenmarks zum Hals bildet. (Eine
beschriftete Zeichnung findet sich im Anhang I, »Knochen des
menschlichen Skeletts«.)
Die Verbindungslinien zwischen den sieben
Schädelknochen werden als Schädelnähte bezeichnet. Der Name spielt
auf ihr Aussehen an: Sie sind zickzackförmig wie die unregelmäßigen
Stiche, die Dr. Frankensteins Monster zusammenhalten. Wenn wir
geboren werden, bestehen sie aus Knorpel, aber mit fortschreitendem
Alter verknöchern sie und werden glatter, sodass sie mit den Jahren
in vielen Fällen fast überhaupt nicht mehr zu erkennen sind.
Bei dieser Frau hatte sich die Kranznaht, die oben
quer über den Schädel verläuft, bereits weit gehend geschlossen;
demnach musste sie mindestens 28 gewesen sein, denn diese
Schädelnaht schließt sich in der Regel als letzte. Da sie aber erst
teilweise verwachsen war, konnte man annehmen, dass die Frau
vermutlich nicht weit über 30 war - nach meiner Schätzung
allerhöchstens 34.
So weit, so gut: Jetzt kannte ich drei der vier
wichtigen Eigenschaften, nämlich Geschlecht, Rasse und Alter. Damit
blieb nur noch die Frage nach dem Körperbau. Wie Künstler und
Wissenschaftler schon vor Jahrhunderten erkannten, ist die
Körpergröße von Menschen zwar sehr unterschiedlich, die
Proportionen jedoch - beispielsweise das Verhältnis zwischen
Beinlänge und Gesamtgröße - sind immer mehr oder weniger die
Gleichen. Eine berühmte Abbildung aus Leonardo da Vincis
Notizbüchern zeigt einen nackten Mann in einem Kreis und einem
Quadrat; er hat vier Arme (von denen zwei waagerecht ausgestreckt
sind, während er die anderen so in die Höhe streckt, dass die
Fingerspitzen auf der gleichen Höhe sind wie der höchste Punkt des
Kopfes) und vier Beine (ein Paar mit geschlossenen Füßen, das
andere um mehrere Fußlängen gespreizt). In seinen Erläuterungen zu
der Abbildung zitiert Leonardo in der für ihn typischen
Spiegelschrift folgende Beobachtungen, die der Architekt Vitruvius
über die Proportionen des Menschen anstellte: »Die Länge der
ausgestreckten Arme eines Menschen ist ebenso groß wie seine
Körpergröße... die größte Breite der Schultern enthält in sich den
vierten Teil des Menschen. Vom Ellenbogen bis zur Spitze der Hand
misst man den fünften Teil eines Menschen; und vom Ellenbogen bis
zum Winkel der Achselhöhle den achten Teil eines Menschen. Die
ganze Hand ist der zehnte Teil eines Menschen.«
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gingen
die Anthropologin Mildred Trotter und die Statistikerin Goldine
Gleser von diesem uralten Begriff der Proportionen aus und
versuchten sie durch umfangreiche Skelettuntersuchungen zu
verfeinern. Nachdem sie Hunderte von Skeletten vermessen hatten,
entwickelten Trotter und Gleser mehrere Formeln, mit denen man aus
der Länge jedes »langen« Knochens - das heißt jedes Knochens aus
den Armen (Oberarm, Elle oder Speiche) oder den Beinen
(Oberschenkel, Schienbein oder Wadenbein) - die Körpergröße
ableiten konnte. Die besten Ergebnisse erhält man dabei, wenn man
die Messung am Oberschenkelknochen vornimmt; das war wahrscheinlich
der Grund, warum die Polizei mir ausgerechnet einen Oberschenkel
gebracht hatte.
Ich legte den Knochen auf ein osteometrisches Brett
- eine bewegliche Apparatur, die an zwei durch eine Messskala
verbundene Buchstützen erinnert - und ermittelte eine Länge von
47,2 Zentimetern. Diese Zahl setzte ich in die Formel von Trotter
und Gleser für negroide Frauen ein: (47,2 x 2,28)+ 59,76. Das
Ergebnis, 167,38, war die Körpergröße in Zentimetern. Die
Umrechnung in amerikanische Maßeinheiten ergab eine Größe von fünf
Fuß und sechs Inch plus oder minus ein Inch.
Jetzt kannte ich alle vier Eigenschaften.
Geschlecht: weiblich; Rasse: Farbige; Alter: 30 bis 34;
Körpergröße: 167 Zentimeter. Die nächste Frage definitiv zu
beantworten war schwieriger: Wer war sie? Wenn man einen Schädel
mit vollständigem Gebiss vor sich hat, bestehen normalerweise gute
Chancen, die Person eindeutig zu identifizieren. Dazu muss man
vorhandene zahnärztliche Röntgenaufnahmen mit Zahnfüllungen,
Zahnbrücken und anderen einzigartigen Merkmalen in Form, Aufbau und
Anordnung der Zähne bei der Leiche vergleichen. Das setzt natürlich
voraus, dass man über die zahnärztlichen Unterlagen vermisster
Personen verfügt, die in Alter, Geschlecht und Rasse dem Opfer
entsprechen. Sie zu beschaffen ist nicht immer möglich, aber
erstaunlicherweise findet sich sehr oft tatsächlich ein Zahnarzt,
der die notwendigen Unterlagen für eine Identifizierung liefern
kann.
In diesem Fall war es jedoch problematischer. An
den Zähnen der Frau waren keinerlei Spuren zahnärztlicher Tätigkeit
zu erkennen. Dabei hätte sie den Zahnarzt weiß Gott gut brauchen
können: Zwei Zähne im Unterkiefer und fünf im Oberkiefer hatten
große Karieslöcher, und kleinere Schäden waren auch an den meisten
anderen Zähnen zu erkennen. Noch schlimmer war, dass sich an einem
oberen Weisheitszahn ein Abszess gebildet hatte. Aus der fehlenden
zahnärztlichen Versorgung konnte man schließen, dass die Frau
vermutlich arm war. Sie hatte es lange geschafft, mit diesen Zähnen
zurechtzukommen, und sogar die Schmerzen des Abszesses ausgehalten;
demnach war sie vermutlich hart im Nehmen. Außerdem hatte das
Gebiss noch eine andere seltsame Eigenschaft: Als ich den
Unterkiefer an den Schädel hielt, konnte ich ihn nicht ganz mit dem
Oberkiefer zur Deckung bringen; der Unterkiefer war ungefähr einen
halben Zentimeter nach rechts verschoben, sodass sie einen
leichten, aber eindeutigen Kreuzbiss hatte, und der war sicher
immer zu sehen, sobald sie lächelte.
Da keine Zeichen für zahnärztliche Versorgung,
keine Unterlagen über die Zähne und keine Fotos vorhanden waren,
konnte ich die Leiche nicht eindeutig identifizieren. Vorläufige
Mutmaßungen über die Identität waren jedoch möglich. In der
Kleinstadt Atchison in Kansas, gut 30 Kilometer vom Fundort der
Leiche entfernt, hatte man am 10. August, etwa drei Wochen zuvor,
eine Frau als vermisst gemeldet. Sie hieß Mary Louise Downing, war
eine farbige Frau von 32 Jahren und 1,66 Metern Größe. Es gab zwar
keinen hieb- und stichfesten, eindeutigen Beweis, dass Schädel und
Oberschenkel zu ihr gehörten, aber meine Untersuchungsergebnisse
enthielten auch nichts, was Anlass zu Zweifeln an dieser Annahme
gegeben hätte. Ich hätte um den Preis eines neuen Herdes gewettet,
dass es sich um Mary Louise handelte.
Am Samstag, dem 8. September, schrieb ich meinen
Bericht und schickte ihn dem Polizeibeamten, der die Ermittlungen
in dem Fall leitete; eine Kopie ging an den Direktor der Polizei
von Kansas in Topeka. In enger Schreibmaschinenschrift war das
Papier noch nicht einmal zwei Seiten lang.
Letztlich konnte ich der Polizei außer Geschlecht,
Rasse, Alter, Körpergröße und schlechtem Gebisszustand nicht viel
sagen. Schädel und Oberschenkel lieferten keinerlei Aufschlüsse
darüber, wie sie gestorben war. Aber die Polizei hatte offenbar
mehr Anhaltspunkte als ich, denn nachdem ich meinen
Untersuchungsbericht abgeliefert hatte, waren sie überzeugt davon,
dass sie Mary Louise Downing gefunden hatten. Da sie versteckt in
einem abgelegenen Teil der Flussniederung gelegen hatte, ging man
davon aus, dass es sich um Mord handelte.
Aber damit begannen die Fragen erst. Wer hatte sie
umgebracht, warum, wo und wann? Die Lösung dieses Rätsels kannten
nur zwei Menschen, nämlich der Mörder und Mary Louise. Und keiner
von beiden redete.
Nachdem ich den Bericht weggeschickt hatte, nahm
ich mir noch einmal den Schädel vor. In Wangenknochen und
Unterkiefer, knapp vier Zentimeter beiderseits der Mittellinie,
befanden sich vier saubere, winzige Löcher; dort waren die
Gesichtsnerven aus dem Gehirn ausgetreten. Diese dünnen Bündel aus
elektrochemisch aktiven Fasern übertrugen die innere Traurigkeit
der Frau als Stirnrunzeln nach außen, machten aus einer glücklichen
Stimmung das leicht seitlich verschobene Lächeln, das der Kreuzbiss
ihr verlieh. Sie war Tochter, Ehefrau, Mutter gewesen. Jetzt war
sie nur noch ein Fall - und zwar einer, den niemand lösen
konnte.
Ihr Verschwinden an jenem Augusttag war der
Lokalzeitung keine Meldung wert gewesen; und die Entdeckung der
Leiche Anfang September wurde auf fünf Spaltenzentimetern
abgehandelt. Offensichtlich fiel Mary Louise im Leben wie im Tod
durchs Raster - unbemerkt, unbeachtet, unbedeutend.
Und doch... Und doch... Mittlerweile ist Mary
Louise seit 40 Jahren bei mir. Sie war fast in jedem Hörsaal, in
den ich meinen Fuß gesetzt habe. Sie ist mit mir zu Vorträgen und
Tagungen in den ganzen Vereinigten Staaten gereist: zur
FBI-Akademie in Quantico in Virginia; zu Ausbildungsveranstaltungen
des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in einem halben Dutzend
Bundesstaaten; zum zentralen Identifizierungslabor der US-Armee in
Honolulu auf Hawaii. Zu Lebzeiten hat Mary Louise sich
wahrscheinlich nie weit von Atchison entfernt, und vermutlich hat
sie auch nicht viel geleistet, was einer besonderen Erwähnung wert
wäre. Im Tod jedoch ist sie um die halbe Welt geflogen und hat bei
der Ausbildung Tausender von Studenten und mehrerer hundert
forensischer Anthropologen, Mordsachverständiger, Kriminaltechniker
und Mediziner geholfen.
Der Mord an Mary Louise bleibt wahrscheinlich für
immer ungeklärt. Aber andere Mordfälle werden - und wurden
wahrscheinlich schon - mit ihrer Hilfe gelöst. In meinen Augen
macht sie das zu einer bemerkenswerten Frau und zu einer Heldin der
Gerichtsmedizin.
Zu einer Heldin bis auf die Knochen.