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Fortschritte und Proteste
Am 15. Mai 1981, als wir die Leiche 1-81 als erstes Forschungsobjekt auf dem fünf mal fünf Meter großen, mit Maschendraht eingezäunten Areal ablegten, das damals die anthropologische Forschungseinrichtung darstellte, lag die Tageshöchsttemperatur nur bei 14,5 Grad. An den nächsten Tagen jedoch schoss sie bis über 28 Grad in die Höhe. Ein paar Monate früher hätten wir den Toten genauso gut in einen Kühlschrank legen können, aber nachdem es heiß war, spielten sich an der Leiche schnelle, auffällige Veränderungen ab. Nach wenigen Tagen war das Fleisch vom Gesicht fast völlig verschwunden, aufgefressen von den Maden, die in Mund, Nase, Augen und Ohren aus den Eiern geschlüpft waren. Bill Rodriguez hielt die Tätigkeit der Insekten sorgfältig fest, aber ebenso faszinierend - und grausig - war auch die Verwandlung der Leiche selbst.
Die Verwesung eines Toten lässt sich ganz grob in vier Phasen gliedern: frisch, aufgebläht, verwest und getrocknet. Manche Fachleute nehmen noch feinere Unterteilungen vor, aber ich bin immer bestrebt, nicht im Sumpf der Definitionen stecken zu bleiben. (Es gibt in der Wissenschaft zwei Typen: die Untergliederer und jene, die alles in einen Topf werfen. Ich selbst bin im tiefsten Inneren nie ein Untergliederer gewesen; ich fasse lieber zusammen.)
Im frischen Stadium von 1-81 formten der zahnlose Oberkiefer und der Unterkiefer mit seinen gelblichen Zähnen die Reste des Gesichts zu einer Art Grinsen. Als die Insekten sich vermehrten und weiter fraßen, starrten uns schon bald die leeren Augenhöhlen an. Haare und Haut hingen zunächst noch am Schädel, aber nach wenigen Tagen wurden auch sie immer lockerer.
Gegen Ende der ersten Woche blähte die Leiche sich langsam auf. Als Bakterien nach und nach Magen und Darm abbauten, wölbte sich der Bauch durch die dabei frei werdenden Gase fast wie ein Ballon. Gleichzeitig nahm die Haut eine tiefe rötlichbraune Färbung an. Unter der Haut wurde das Fettgewebe abgebaut, sodass die Leiche leicht glänzte, fast als hätte man sie mit einer Glasur überzogen und im Ofen gebacken.
Als das Fleisch die Farbe von Karamell annahm, wurde unter der Haut ein Netz dunkelrot-violetter Linien sichtbar. Es sah aus wie die Landkarte eines Kontinents mit seinen Flüssen. Das war der Kreislauf: Als das Blut in den Arterien und Venen verweste, wurden sie dicker und dunkler, fast als hätte man sie mit einem Filzstift auf die Haut gemalt.
Die Doktoranden und ich sahen völlig fasziniert zu. So weit mir bekannt war, hatte kein Wissenschaftler zuvor schon einmal so etwas getan: Nie hatte jemand absichtlich einen menschlichen Leichnam zum Verwesen ins Freie gelegt, einfach abgewartet und sorgfältig aufgezeichnet, wann was geschah. Viele Forscher und auch Künstler wie Michelangelo hatten Leichen untersucht, aber dabei hatten sie sich für die Anatomie des Menschen interessiert; sie hatten die Toten seziert, um mehr über Knochen und Fleisch der Lebenden zu erfahren. Gegenstand meines Interesses war der Tod selbst.
Als 1-81 seit zwei Wochen auf dem Weg von der frischen Leiche zum blanken Skelett war, bestand der Schädel nur noch aus nackten Knochen. Die Haare waren als zusammenhängende Matte abgefallen, die verfilzt und außerdem durch Gewebereste verbunden war. Die Matte lag in einer dunklen, schmierigen Pfütze, die den ganzen Kopf umgab. Der aufgedunsene Bauch war in sich zusammengefallen, die Bauchwand war geschrumpft und hing an dem vorstehenden Brustkorb - das Kennzeichen für den Übergang vom aufgedunsenen Stadium zur Verwesung. Nach einer weiteren Woche lagen die Rippen und die Wirbel des Rückgrats frei. Auch die Beckenknochen waren zu sehen, eine Folge der starken Insektenbesiedelung rund um die Geschlechtsorgane.
Arme und Beine verwesten langsamer. Da ihnen die feuchten, dunklen Öffnungen von Kopf und Becken fehlten, waren sie für die Insekten, die sich über die Leiche hermachten, ein weniger reizvolles Ziel. Allerdings hatte sich an Händen und Füßen eine tief greifende, faszinierende Veränderung abgespielt: Ungefähr nach sieben Tagen wurde die Haut weicher und löste sich in großen Fetzen ab, fast als hätte 1-81 sich einen schweren Sonnenbrand geholt, sodass sich die Haut nun schälte. Anfangs war die abgelöste Haut blass und flexibel; verblüffenderweise waren die Leisten und Kreise der Fingerabdrücke noch deutlich zu erkennen, eine Tatsache, die ich meinem Freund Arthur Bohanan mitteilte, dem führenden Fingerabdruckexperten bei der Polizei von Knoxville. Einige Tage später jedoch war die Haut fast wie abgefallene Blätter eingetrocknet und geschrumpft. Im Labor gelang es Art jedoch, einen solchen eingeschrumpften Fetzen anzufeuchten und aufquellen zu lassen; auf diese Weise konnte er die Identität von 1-81 an einem Gebilde feststellen, das ein unerfahrener Ermittler vielleicht für ein Stück Laub gehalten hätte.
Einen Monat nachdem 1-81 eingetroffen war, hatte er sich fast völlig in ein Skelett verwandelt. An Brustkorb und Schädel war noch ein wenig ledrige Haut zurückgeblieben, weil die Sonne das Gewebe getrocknet oder mumifiziert hatte; darunter jedoch hatten Insekten und Bakterien das weiche Gewebe vollkommen beseitigt. Ich ließ die Knochen noch vier oder fünf Monate in der Sonne bleichen, dann sammelten wir sie ein und brachten sie in das Leichenschauhaus des Krankenhauses zur »Weiterbehandlung« - sie wurden von den letzten eingetrockneten Haut- und Knorpelresten gereinigt.
Anschließend vermaß ich die Knochen und hielt die wichtigsten Messwerte fest: Länge des Oberschenkelknochens; Durchmesser des Femurkopfes; Länge, Breite und Höhe des Schädels; Abstand zwischen den Augenhöhlen; und eine Fülle weiterer Daten, in denen sich die Abmessungen des Mannes widerspiegelten.
Die Skelettvermessung war Teil eines größeren Plans, der in meinem Kopf während der vorangegangenen Monate und Jahre Gestalt angenommen hatte: Ich wollte die größte Sammlung menschlicher Skelette - moderner menschlicher Skelette - in den Vereinigten Staaten aufbauen. Einige riesige Skelettsammlungen gab es bereits. Die Terry Collection, die ursprünglich an der Washington University in Saint Louis untergebracht war und später an die Smithsonian Institution überging, umfasste mehr als 1700 Einzelskelette; wie ich aus eigener Erfahrung wusste, besaß die Smithsonian Institution in ihren anderen Sammlungen noch weitaus mehr, darunter einige tausend Skelette, die ich während meiner sommerlichen Ausgrabungen in South Dakota beigesteuert hatte. Aber diese Knochen waren alt und für forensische Zecke nicht zu gebrauchen.
Wir Menschen haben uns in vielerlei Weise aus dem Evolutionsverlauf ausgeklinkt. Ich selbst bin dafür ein gutes Beispiel: Ich bin stark kurzsichtig, meine Sehschärfe liegt nur bei rund zehn Prozent. Hätte ich vor 10 000 Jahren gelebt, wäre ich nicht alt genug geworden, um Nachkommen zu haben und die Kurzsichtigkeit weiterzuvererben; mit großer Anstrengung hätte ich den Säbelzahntiger vielleicht gerade in dem Augenblick gesehen, als er die Kiefer aufriss, um mir die Kehle durchzubeißen. Heute ist es gleichgültig, ob wir der »Natur, rot an Zähnen und Klauen« gewachsen sind oder nicht: Wir überleben und pflanzen uns fort. (Zwei meiner drei Söhne, Jim und Charlie, haben meine Kurzsichtigkeit geerbt; Billy, der mittlere, besitzt aus irgendeinem Grund so gute Augen, dass er bei der Armee sogar als Hubschrauberpilot angenommen wurde.)
Aber allem Anschein zum Trotz geht unsere Evolution weiter, auch die unseres Skeletts. Vor 100 Jahren war der Durchschnittsamerikaner 1,68 Meter groß; heute sind es 1,73 Meter. Eine Frau vom Indianerstamm der Arikara maß 1806, als Lewis und Clark sie vielleicht am Ufer des Missouri stehen sahen, durchschnittlich 1,58 Meter; heute wäre sie fünf bis acht Zentimeter größer.
Wenn man ein unbekanntes Verbrechensopfer findet - und insbesondere wenn die Polizei nur ein paar lange Knochen entdeckt -, gibt es nur eine Methode, um die Körpergröße genau zu ermitteln: Man muss die gefundenen Knochen mit denen von Menschen mit bekannter Körpergröße vergleichen. Benutzt man für einen solchen Vergleich veraltete Zahlen, liegt man mit der Schätzung unter Umständen um etliche Zentimeter daneben. Dann sucht die Polizei vielleicht nicht nach einem Vermissten von 1,80 Meter Größe, sondern nach einem von 1,73 Metern. Die Daten von 1-81 sollten dazu beitragen, derartige Fehler zu vermeiden.
Auch auf andere Weise sollte 1-81 uns noch jahrelang nützlich sein: als Hilfsmittel für die Lehre. Größe, Form und Konsistenz jedes Knochens im menschlichen Körper kennen zu lernen ist für Studenten der Anthropologie eine gewaltige Aufgabe. Es gibt dazu nur einen Weg: Man muss endlose Stunden lang Knochen studieren - und zwar echte Knochen, keine Abgüsse aus Kunststoff oder Gips. In meinem knochenkundlichen Kurs fürchteten die Studenten jedes Semester aufs Neue den »Black-Box-Test«: Ich legte mehrere Knochen in eine Schachtel, in deren Seitenwände ich runde Löcher geschnitten hatte; ein Student, der den Test bestehen wollte, musste durch die Löcher greifen und nur durch Abtasten feststellen, um was für Knochen (oder wenn ich besonders gnadenlos war, um was für Knochenbruchstücke) es sich handelte. Selbst so geringfügige Merkmale wie Gewicht oder Oberflächenbeschaffenheit können entscheidende Aufschlüsse liefern. Die Schädel von Farbigen sind beispielsweise dichter, schwerer und glatter als die entsprechenden Knochen von Weißen. Das ist ein entscheidender Grund, warum es so wenige farbige Weltklasseschwimmer gibt: Sie müssen mehr Kraft aufwenden, um nicht unterzugehen. Findet man in einem Kriminalfall nur einen Teil eines Schädels, liefern die Unterschiede in Dichte und Gewicht der Polizei unter Umständen wichtige Hinweise, ob die Knochen von einem Farbigen oder einem Weißen stammen.
Unsere gestiftete Leiche 1-81 war an einer Krankheit gestorben, aber meine Skelettsammlung sollte auch Opfer von Gewalteinwirkung enthalten. Wenn ich dann in meinen Vorlesungen über Knochenbrüche zum Todeszeitpunkt und davor sprach, konnte ich den Studenten zeigen, wie frühere Schäden verheilt waren, ganz anders als Brüche, die mit dem Tod im Zusammenhang standen. Wenn ich Ein- und Austrittsöffnungen von Geschossen beschrieb, konnten die Studenten sehen und fühlen, wie die Eintrittsöffnung sich erweitert, wenn die Kugel in den Schädel eindringt, wie die Bleispritzer im Schädelinneren aussehen, um wie viel größer die Austrittsöffnung ist und wie auch sie in Schussrichtung immer breiter wird.
Anfangs konzentrierte sich unsere Arbeit vor allem darauf, den grundlegenden zeitlichen Ablauf der Verwesung zu beobachten und aufzuzeichnen. Wie ich von Colonel Shy auf schmerzliche Weise gelernt hatte, besaßen wir nur sehr begrenzte Kenntnisse über die Vorgänge nach dem Tod. Mit unseren Untersuchungen wollten wir einfache Fragen beantworten, aber bis wir die Antworten beisammen hatten, würden Jahre vergehen. Alle Faktoren waren von Bedeutung: Lag die Leiche in der Sonne oder im Schatten? War sie bekleidet oder nackt? Befand sie sich im Freien, in einem Gebäude oder in einem Auto? Im Passagierraum oder im Kofferraum? An Land oder im Wasser? In einem der ersten Experimente bearbeiteten wir eine nur scheinbar einfache Frage: Über welche Entfernung kann eine menschliche Nase den Geruch des Todes wahrnehmen?
Den Anlass, über diese Frage nachzudenken, lieferte mir wie üblich ein echter Fall. Er ereignete sich vor meiner eigenen Haustür - jedenfalls beinahe. Die Haustür, vor der er sich tatsächlich abspielte, lag nur wenige Kilometer nördlich von Büros und Labors des anthropologischen Instituts, abseits einer belebten Durchgangsstraße namens Broadway. Genauer gesagt, handelte es sich nicht um eine Haustür, sondern um ein unbebautes Grundstück zwischen einem Haus und dem Broadway, das voller Unkraut, Gebüsch, Müll und Erdhaufen war. Im Sommer 1976 waren es die Bewohner der umliegenden Häuser endgültig leid, sich das Durcheinander anzusehen, und beschwerten sich beim Eigentümer des Grundstücks. Dieser reagiert auf die Beschwerde und beauftragte ein Aufräumunternehmen, das mit Traktor und Lastwagen daranging, Unrat und Büsche zu beseitigen.
Nach einigen Stunden, als sie schon mehrere Ladungen Müll abgefahren hatten und sich der Mitte des Grundstücks näherten, entdeckte einer der Arbeiter zwischen dem Unkraut einen Gegenstand, der wie ein menschlicher Schädel aussah. Er rief seine Kollegen zu einer Beratung zusammen, und die bestätigten seine Skelettanalyse. Es braucht wohl nicht betont zu werden, dass die Aufräumarbeiten damit für diesen Tag beendet waren. Die Arbeiter riefen die Polizei, und die Polizei rief mich.
Ich fuhr zum Broadway. Begleitet wurde ich von Pat Willey, dem Doktoranden, der das osteologische Laboratorium leitete - mein Knochenlabor. Wir gruben ein wenig und fanden noch ein paar weitere Knochen, allerdings nicht viele. Wie uns sehr bald klar wurde, waren die meisten wahrscheinlich bereits weggebaggert und zur Müllkippe transportiert worden.
Am Zustand der Knochen - völlig trocken und von der Sonne gebleicht - war sofort zu erkennen, dass sie schon seit geraumer Zeit dort lagen, möglicherweise seit mehreren Jahren. Aber auch die eindeutige Identifizierung ließ nicht lange auf sich warten: Die obere Platte des künstlichen Gebisses trug die auffällige Aufschrift Orval King - der Name eines Mannes aus der Gegend, den man vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Der 74-Jährige, der einige Zeit in der örtlichen Psychiatrie gelebt hatte, war auf dem Brachgelände zwischen einem Haus und der belebten Straße entweder gestürzt oder hatte sich hingelegt, um in aller Stille zu sterben.
Das faszinierende Rätsel lag in diesem Fall nicht in der Frage, wer er war, wie lange sein Tod zurücklag oder wie er gestorben war. Verblüfft war ich vielmehr darüber, dass man ihn nicht schon kurz nach seinem Tod gefunden hatte. Oder genauer gesagt: Warum hatte man ihn kurz nach seinem Tod nicht gerochen? Wenn die Leiche eines erwachsenen Mannes verwest, entsteht ein geradezu betäubender Gestank - das kann man sich gut vorstellen, wenn man an einem warmen Sommertag schon einmal mit offenem Autofenster an einem toten Hund vorübergefahren ist.
Wir wussten, dass das benachbarte Haus zu der Zeit, als der Mann starb, bewohnt war. Außerdem wussten wir, dass der Bürgersteig vor dem Grundstück von zahlreichen Fußgängern aus der Umgebung benutzt wurde, und der Broadway war eine der belebtesten Straßen von Knoxville. Und doch hatte niemand etwas gerochen, oder zumindest war der Geruch nicht so schlimm gewesen, dass jemand Verdacht geschöpft, die Sache genauer untersucht oder sich bei den städtischen Behörden beschwert hätte.
Wenn also der Gestank des Todes nicht bis zu den Häusern oder zum Bürgersteig gedrungen war, wie weit reichte er dann überhaupt? Oder anders gefragt: Wenn eine menschliche Nase eine Leiche auf diese Entfernung nicht wahrnahm, auf welchen Abstand konnte sie dann einen verwesenden Körper bemerken? Die Antwort war nach meiner eigenen Einschätzung nicht nur für mich interessant, sondern auch für Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste auf der ganzen Welt.
Orval King hatte der Forschung eine interessante Fragestellung beschert. Mit unserer neuen, fast einen Hektar großen Forschungseinrichtung verfügte ich über den idealen Ort, um mit wissenschaftlichen, experimentellen Methoden eine Antwort zu finden. Dazu brauchte ich nur eine Leiche und ein paar lebende Versuchskaninchen.
Die Leiche hatte ich wenig später: ein herrenloser Leichnam von einem medizinischen Sachverständigen aus der Gegend. Und die Versuchskaninchen? Eine klare Sache: Studienanfänger tun alles, wenn sie sich Anerkennung erwerben können. Um Freiwillige für das Experiment zu rekrutieren, gab ich an einem Donnerstag im Herbstsemester während meiner anthropologischen Anfängervorlesung bekannt, alle Studenten, die sich zehn zusätzliche Leistungspunkte erwerben wollten, sollten am Sonntagmorgen zu mir in die anthropologische Forschungseinrichtung kommen. Ich stieß auf eine unglaubliche Resonanz. An jenem Wochenende krochen fast 100 Studenten früh aus dem Bett - alle ganz sicher motiviert durch unbändigen wissenschaftlichen Eifer.
Das Experiment selbst war ganz einfach: Ich hatte eine aufgeblähte, stark riechende Leiche ein Stück oberhalb auf den Kiesweg gelegt, der zu der Forschungseinrichtung führte. Der Leichnam war hinter Bäumen und Büschen versteckt. Am Tag zuvor hatte ich auf dem Weg zur Leiche alle zehn Meter eine Markierung angebracht - Abstände von 10, 20, 30, 40 und 50 Metern. Dann führte ich meine studentischen Versuchskaninchen einen nach dem anderen den Pfad der Tugend entlang. Dabei gab ich nur eine einzige Anweisung: »Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie etwas riechen.« Auf einem Klemmbrett vermerkte ich dann jeweils, in welchem Abstand die Studenten etwa bemerkten. Wenn ich sie in Richtung der Leiche führte, sogen sie heftig und konzentriert die Luft ein. Die meisten sagten erst dann etwas, wenn wir uns dem Toten schon bis auf 10 oder 20 Meter genähert hatten; plötzlich rümpften sie dann die Nase und sagten: »Puh, hier stinkt es aber gewaltig.«
Es war schnelle, schmutzige Forschung, wie man in Akademikerkreisen sagt - keine Arbeit, die man schriftlich festhalten und im Journal of Forensic Sciences veröffentlichen würde, aber immerhin so gut, dass mir eines klar wurde: Ein Mensch kann auf einem Brachgrundstück zwischen einem Haus und dem Broadway sterben, ohne dass die vielen tausend Menschen, die nur 50 Meter entfernt vorübergehen, jemals etwas riechen.
 
 
In den ersten Jahren erzielten wir mit unserer Forschungsarbeit spannende Fortschritte. Fast jede Woche trafen jetzt neue Leichen von medizinischen Sachverständigen und Spendern ein. Nicht nur die Betonplattform auf unserem eingezäunten Gelände hatte die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität erreicht, sondern auch die drei Regale - Etagenbetten für die Toten -, die wir seitlich am Zaun zusätzlich aufgebaut hatten.1
Ich beaufsichtigte unser wachsendes Forschungsprogramm mit Eifer und Stolz. Aber die alte Lehre stimmt: Hochmut kommt vor den Fall. Als ich an einem Frühjahrstag im Jahr 1985 zum Reich meiner Forschung kam, war die Hälfte des knapp einen Hektar großen Geländes mit den Fähnchen von Landvermessern markiert, und auf einer Seite lauerte unheilvoll ein Bulldozer. Ich schnappte mir einen der Landvermesser und fragte ihn, was hier los sei. Er erklärte mir, man wolle den Parkplatz des Krankenhauses erweitern. Wie sich herausstellte, hatte die Landwirtschaftsschule mir mehr Fläche zur Verfügung gestellt, als sie selbst besaß; statt der früheren Müllkippe von fast einem Hektar gehörte mir nur eine frühere Müllkippe von einem halben Hektar, und kein Appell von meiner Seite konnte den Bulldozern, Walzen und Asphaltiermaschinen Einhalt gebieten.
Aber dass ich die Hälfte meines Geländes verloren hatte, sollte sich noch als die geringste Sorge erweisen. Ein paar Tage später rief Annette, die Institutssekretärin, mich mitten aus einer Vorlesung - eine drastische, nahezu beispiellose Maßnahme. Ob ich schon von den Protesten draußen an der Body Farm gehört hätte? Natürlich nicht. Annette und ich stiegen sofort ins Auto, fuhren hinüber auf den Parkplatz des Krankenhauses und hielten ein Stück entfernt in einer unauffälligen Ecke.
Vor meiner Forschungseinrichtung hielt eine lokale Patientenorganisation Wache. Sie nannte sich »Solutions to Issues of Concern to Knoxvillians« (»Lösungen für Besorgnis erregende Fragen der Bürger von Knoxville«) oder kurz S.I.C.K. An den Zaun hatten sie auf einer Seite ein riesiges Transparent aufgehängt; darauf stand »This makes us S. I. C. K.!« (»Davon wird uns schlecht!«) Obwohl meine Einrichtung der Gegenstand des Protestes war, musste ich beim Anblick des Transparents lachen. Es war schlau, es war lustig, und es sicherte ihnen ein großes Medieninteresse.
Aber womit hatte ich den Zorn der S.I.C.K. auf mich gezogen? Offensichtlich hatte sich einer der Landvermesser bei der Vorbereitung der Parkplatzerweiterung irgendwann zum Mittagessen im Schatten niedergelassen und dabei die verwesten Leichen auf unserem kleinen eingezäunten Areal gesehen. Als er nach Hause kam, hatte er sich bei seiner Mutter darüber beklagt, und die gehörte zufällig zur Führung der S.I.C.K. Wie es sich für eine besorgte Mutter gehört, organisierte sie den Protest.
Als ich der Gruppe erklärte, wozu die Einrichtung diente - Erforschung der Verwesung, um der Polizei die Aufklärung von Morden zu erleichtern -, räumte sie ein, solche Arbeiten seien von wissenschaftlichem Wert. Aber warum sie hier stattfinden müssten, praktisch unter den Augen der Öffentlichkeit? Ob man sie nicht beispielsweise 30 Kilometer nach Westen verlegen könne, in das riesige, bewaldete und schwer bewachte staatliche Versuchsgelände von Oak Ridge?
Du lieber Himmel, ich war erst ein knappes Jahr zuvor mit der ganzen Einrichtung aus 30 Kilometern Entfernung hierher gezogen. Für die Einrichtung unseres Forschungsprogramms war es von entscheidender Bedeutung gewesen, dass wir eine Stelle in der Nähe des anthropologischen Instituts fanden. Ich rief den Universitätsrektor Jack Reese an und erklärte ihm unser Dilemma. Ich wollte der Universität keinen Ärger bereiten, aber ich hätte sicher etwas dagegen gehabt, die Forschungseinrichtung zu verlieren oder schon wieder zu verlegen. Jack war mit seiner Entscheidung weise wie Salomo und großzügig wie Carnegie: Er bot an, aus seinem eigenen Etat einen Maschendrahtzaun um den gesamten noch verbliebenen halben Hektar zu finanzieren, sodass keine Fremden mehr in die Nähe der Leichen kamen.
Ein paar Wochen später stand der Zaun, und die Krise war vorüber. Robert Frost hatte Recht: Ein guter Zaun macht gute Nachbarn. Aber es sollte weder unsere letzte noch unsere schlimmste Krise bleiben.