9
Fortschritte und Proteste
Am 15. Mai 1981, als wir die Leiche 1-81
als erstes Forschungsobjekt auf dem fünf mal fünf Meter großen, mit
Maschendraht eingezäunten Areal ablegten, das damals die
anthropologische Forschungseinrichtung darstellte, lag die
Tageshöchsttemperatur nur bei 14,5 Grad. An den nächsten Tagen
jedoch schoss sie bis über 28 Grad in die Höhe. Ein paar Monate
früher hätten wir den Toten genauso gut in einen Kühlschrank legen
können, aber nachdem es heiß war, spielten sich an der Leiche
schnelle, auffällige Veränderungen ab. Nach wenigen Tagen war das
Fleisch vom Gesicht fast völlig verschwunden, aufgefressen von den
Maden, die in Mund, Nase, Augen und Ohren aus den Eiern geschlüpft
waren. Bill Rodriguez hielt die Tätigkeit der Insekten sorgfältig
fest, aber ebenso faszinierend - und grausig - war auch die
Verwandlung der Leiche selbst.
Die Verwesung eines Toten lässt sich ganz grob in
vier Phasen gliedern: frisch, aufgebläht, verwest und getrocknet.
Manche Fachleute nehmen noch feinere Unterteilungen vor, aber ich
bin immer bestrebt, nicht im Sumpf der Definitionen stecken zu
bleiben. (Es gibt in der Wissenschaft zwei Typen: die
Untergliederer und jene, die alles in einen Topf werfen. Ich selbst
bin im tiefsten Inneren nie ein Untergliederer gewesen; ich fasse
lieber zusammen.)
Im frischen Stadium von 1-81 formten der zahnlose
Oberkiefer und der Unterkiefer mit seinen gelblichen Zähnen die
Reste des Gesichts zu einer Art Grinsen. Als die Insekten sich
vermehrten und weiter fraßen, starrten uns schon bald die leeren
Augenhöhlen an. Haare und Haut hingen zunächst noch am Schädel,
aber nach wenigen Tagen wurden auch sie immer lockerer.
Gegen Ende der ersten Woche blähte die Leiche sich
langsam auf. Als Bakterien nach und nach Magen und Darm abbauten,
wölbte sich der Bauch durch die dabei frei werdenden Gase fast wie
ein Ballon. Gleichzeitig nahm die Haut eine tiefe rötlichbraune
Färbung an. Unter der Haut wurde das Fettgewebe abgebaut, sodass
die Leiche leicht glänzte, fast als hätte man sie mit einer Glasur
überzogen und im Ofen gebacken.
Als das Fleisch die Farbe von Karamell annahm,
wurde unter der Haut ein Netz dunkelrot-violetter Linien sichtbar.
Es sah aus wie die Landkarte eines Kontinents mit seinen Flüssen.
Das war der Kreislauf: Als das Blut in den Arterien und Venen
verweste, wurden sie dicker und dunkler, fast als hätte man sie mit
einem Filzstift auf die Haut gemalt.
Die Doktoranden und ich sahen völlig fasziniert zu.
So weit mir bekannt war, hatte kein Wissenschaftler zuvor schon
einmal so etwas getan: Nie hatte jemand absichtlich einen
menschlichen Leichnam zum Verwesen ins Freie gelegt, einfach
abgewartet und sorgfältig aufgezeichnet, wann was geschah. Viele
Forscher und auch Künstler wie Michelangelo hatten Leichen
untersucht, aber dabei hatten sie sich für die Anatomie des
Menschen interessiert; sie hatten die Toten seziert, um mehr über
Knochen und Fleisch der Lebenden zu erfahren. Gegenstand meines
Interesses war der Tod selbst.
Als 1-81 seit zwei Wochen auf dem Weg von der
frischen Leiche zum blanken Skelett war, bestand der Schädel nur
noch aus nackten Knochen. Die Haare waren als zusammenhängende
Matte abgefallen, die verfilzt und außerdem durch Gewebereste
verbunden war. Die Matte lag in einer dunklen, schmierigen Pfütze,
die den ganzen Kopf umgab. Der aufgedunsene Bauch war in sich
zusammengefallen, die Bauchwand war geschrumpft und hing an dem
vorstehenden Brustkorb - das Kennzeichen für den Übergang vom
aufgedunsenen Stadium zur Verwesung. Nach einer weiteren Woche
lagen die Rippen und die Wirbel des Rückgrats frei. Auch die
Beckenknochen waren zu sehen, eine Folge der starken
Insektenbesiedelung rund um die Geschlechtsorgane.
Arme und Beine verwesten langsamer. Da ihnen die
feuchten, dunklen Öffnungen von Kopf und Becken fehlten, waren sie
für die Insekten, die sich über die Leiche hermachten, ein weniger
reizvolles Ziel. Allerdings hatte sich an Händen und Füßen eine
tief greifende, faszinierende Veränderung abgespielt: Ungefähr nach
sieben Tagen wurde die Haut weicher und löste sich in großen Fetzen
ab, fast als hätte 1-81 sich einen schweren Sonnenbrand geholt,
sodass sich die Haut nun schälte. Anfangs war die abgelöste Haut
blass und flexibel; verblüffenderweise waren die Leisten und Kreise
der Fingerabdrücke noch deutlich zu erkennen, eine Tatsache, die
ich meinem Freund Arthur Bohanan mitteilte, dem führenden
Fingerabdruckexperten bei der Polizei von Knoxville. Einige Tage
später jedoch war die Haut fast wie abgefallene Blätter
eingetrocknet und geschrumpft. Im Labor gelang es Art jedoch, einen
solchen eingeschrumpften Fetzen anzufeuchten und aufquellen zu
lassen; auf diese Weise konnte er die Identität von 1-81 an einem
Gebilde feststellen, das ein unerfahrener Ermittler vielleicht für
ein Stück Laub gehalten hätte.
Einen Monat nachdem 1-81 eingetroffen war, hatte er
sich fast völlig in ein Skelett verwandelt. An Brustkorb und
Schädel war noch ein wenig ledrige Haut zurückgeblieben, weil die
Sonne das Gewebe getrocknet oder mumifiziert hatte; darunter jedoch
hatten Insekten und Bakterien das weiche Gewebe vollkommen
beseitigt. Ich ließ die Knochen noch vier oder fünf Monate in der
Sonne bleichen, dann sammelten wir sie ein und brachten sie in das
Leichenschauhaus des Krankenhauses zur »Weiterbehandlung« - sie
wurden von den letzten eingetrockneten Haut- und Knorpelresten
gereinigt.
Anschließend vermaß ich die Knochen und hielt die
wichtigsten Messwerte fest: Länge des Oberschenkelknochens;
Durchmesser des Femurkopfes; Länge, Breite und Höhe des Schädels;
Abstand zwischen den Augenhöhlen; und eine Fülle weiterer Daten, in
denen sich die Abmessungen des Mannes widerspiegelten.
Die Skelettvermessung war Teil eines größeren
Plans, der in meinem Kopf während der vorangegangenen Monate und
Jahre Gestalt angenommen hatte: Ich wollte die größte Sammlung
menschlicher Skelette - moderner menschlicher Skelette - in
den Vereinigten Staaten aufbauen. Einige riesige Skelettsammlungen
gab es bereits. Die Terry Collection, die ursprünglich an der
Washington University in Saint Louis untergebracht war und später
an die Smithsonian Institution überging, umfasste mehr als 1700
Einzelskelette; wie ich aus eigener Erfahrung wusste, besaß die
Smithsonian Institution in ihren anderen Sammlungen noch weitaus
mehr, darunter einige tausend Skelette, die ich während meiner
sommerlichen Ausgrabungen in South Dakota beigesteuert hatte. Aber
diese Knochen waren alt und für forensische Zecke nicht zu
gebrauchen.
Wir Menschen haben uns in vielerlei Weise aus dem
Evolutionsverlauf ausgeklinkt. Ich selbst bin dafür ein gutes
Beispiel: Ich bin stark kurzsichtig, meine Sehschärfe liegt nur bei
rund zehn Prozent. Hätte ich vor 10 000 Jahren gelebt, wäre ich
nicht alt genug geworden, um Nachkommen zu haben und die
Kurzsichtigkeit weiterzuvererben; mit großer Anstrengung hätte ich
den Säbelzahntiger vielleicht gerade in dem Augenblick gesehen, als
er die Kiefer aufriss, um mir die Kehle durchzubeißen. Heute ist es
gleichgültig, ob wir der »Natur, rot an Zähnen und Klauen«
gewachsen sind oder nicht: Wir überleben und pflanzen uns fort.
(Zwei meiner drei Söhne, Jim und Charlie, haben meine
Kurzsichtigkeit geerbt; Billy, der mittlere, besitzt aus
irgendeinem Grund so gute Augen, dass er bei der Armee sogar als
Hubschrauberpilot angenommen wurde.)
Aber allem Anschein zum Trotz geht unsere Evolution
weiter, auch die unseres Skeletts. Vor 100 Jahren war der
Durchschnittsamerikaner 1,68 Meter groß; heute sind es 1,73 Meter.
Eine Frau vom Indianerstamm der Arikara maß 1806, als Lewis und
Clark sie vielleicht am Ufer des Missouri stehen sahen,
durchschnittlich 1,58 Meter; heute wäre sie fünf bis acht
Zentimeter größer.
Wenn man ein unbekanntes Verbrechensopfer findet -
und insbesondere wenn die Polizei nur ein paar lange Knochen
entdeckt -, gibt es nur eine Methode, um die Körpergröße genau zu
ermitteln: Man muss die gefundenen Knochen mit denen von Menschen
mit bekannter Körpergröße vergleichen. Benutzt man für einen
solchen Vergleich veraltete Zahlen, liegt man mit der Schätzung
unter Umständen um etliche Zentimeter daneben. Dann sucht die
Polizei vielleicht nicht nach einem Vermissten von 1,80 Meter
Größe, sondern nach einem von 1,73 Metern. Die Daten von 1-81
sollten dazu beitragen, derartige Fehler zu vermeiden.
Auch auf andere Weise sollte 1-81 uns noch
jahrelang nützlich sein: als Hilfsmittel für die Lehre. Größe, Form
und Konsistenz jedes Knochens im menschlichen Körper kennen zu
lernen ist für Studenten der Anthropologie eine gewaltige Aufgabe.
Es gibt dazu nur einen Weg: Man muss endlose Stunden lang Knochen
studieren - und zwar echte Knochen, keine Abgüsse aus Kunststoff
oder Gips. In meinem knochenkundlichen Kurs fürchteten die
Studenten jedes Semester aufs Neue den »Black-Box-Test«: Ich legte
mehrere Knochen in eine Schachtel, in deren Seitenwände ich runde
Löcher geschnitten hatte; ein Student, der den Test bestehen
wollte, musste durch die Löcher greifen und nur durch Abtasten
feststellen, um was für Knochen (oder wenn ich besonders gnadenlos
war, um was für Knochenbruchstücke) es sich handelte. Selbst so
geringfügige Merkmale wie Gewicht oder Oberflächenbeschaffenheit
können entscheidende Aufschlüsse liefern. Die Schädel von Farbigen
sind beispielsweise dichter, schwerer und glatter als die
entsprechenden Knochen von Weißen. Das ist ein entscheidender
Grund, warum es so wenige farbige Weltklasseschwimmer gibt: Sie
müssen mehr Kraft aufwenden, um nicht unterzugehen. Findet man in
einem Kriminalfall nur einen Teil eines Schädels, liefern die
Unterschiede in Dichte und Gewicht der Polizei unter Umständen
wichtige Hinweise, ob die Knochen von einem Farbigen oder einem
Weißen stammen.
Unsere gestiftete Leiche 1-81 war an einer
Krankheit gestorben, aber meine Skelettsammlung sollte auch Opfer
von Gewalteinwirkung enthalten. Wenn ich dann in meinen Vorlesungen
über Knochenbrüche zum Todeszeitpunkt und davor sprach, konnte ich
den Studenten zeigen, wie frühere Schäden verheilt waren, ganz
anders als Brüche, die mit dem Tod im Zusammenhang standen. Wenn
ich Ein- und Austrittsöffnungen von Geschossen beschrieb, konnten
die Studenten sehen und fühlen, wie die Eintrittsöffnung sich
erweitert, wenn die Kugel in den Schädel eindringt, wie die
Bleispritzer im Schädelinneren aussehen, um wie viel größer die
Austrittsöffnung ist und wie auch sie in Schussrichtung immer
breiter wird.
Anfangs konzentrierte sich unsere Arbeit vor allem
darauf, den grundlegenden zeitlichen Ablauf der Verwesung zu
beobachten und aufzuzeichnen. Wie ich von Colonel Shy auf
schmerzliche Weise gelernt hatte, besaßen wir nur sehr begrenzte
Kenntnisse über die Vorgänge nach dem Tod. Mit unseren
Untersuchungen wollten wir einfache Fragen beantworten, aber bis
wir die Antworten beisammen hatten, würden Jahre vergehen. Alle
Faktoren waren von Bedeutung: Lag die Leiche in der Sonne oder im
Schatten? War sie bekleidet oder nackt? Befand sie sich im Freien,
in einem Gebäude oder in einem Auto? Im Passagierraum oder im
Kofferraum? An Land oder im Wasser? In einem der ersten Experimente
bearbeiteten wir eine nur scheinbar einfache Frage: Über welche
Entfernung kann eine menschliche Nase den Geruch des Todes
wahrnehmen?
Den Anlass, über diese Frage nachzudenken, lieferte
mir wie üblich ein echter Fall. Er ereignete sich vor meiner
eigenen Haustür - jedenfalls beinahe. Die Haustür, vor der er sich
tatsächlich abspielte, lag nur wenige Kilometer nördlich von Büros
und Labors des anthropologischen Instituts, abseits einer belebten
Durchgangsstraße namens Broadway. Genauer gesagt, handelte es sich
nicht um eine Haustür, sondern um ein unbebautes Grundstück
zwischen einem Haus und dem Broadway, das voller Unkraut, Gebüsch,
Müll und Erdhaufen war. Im Sommer 1976 waren es die Bewohner der
umliegenden Häuser endgültig leid, sich das Durcheinander
anzusehen, und beschwerten sich beim Eigentümer des Grundstücks.
Dieser reagiert auf die Beschwerde und beauftragte ein
Aufräumunternehmen, das mit Traktor und Lastwagen daranging, Unrat
und Büsche zu beseitigen.
Nach einigen Stunden, als sie schon mehrere
Ladungen Müll abgefahren hatten und sich der Mitte des Grundstücks
näherten, entdeckte einer der Arbeiter zwischen dem Unkraut einen
Gegenstand, der wie ein menschlicher Schädel aussah. Er rief seine
Kollegen zu einer Beratung zusammen, und die bestätigten seine
Skelettanalyse. Es braucht wohl nicht betont zu werden, dass die
Aufräumarbeiten damit für diesen Tag beendet waren. Die Arbeiter
riefen die Polizei, und die Polizei rief mich.
Ich fuhr zum Broadway. Begleitet wurde ich von Pat
Willey, dem Doktoranden, der das osteologische Laboratorium leitete
- mein Knochenlabor. Wir gruben ein wenig und fanden noch ein paar
weitere Knochen, allerdings nicht viele. Wie uns sehr bald klar
wurde, waren die meisten wahrscheinlich bereits weggebaggert und
zur Müllkippe transportiert worden.
Am Zustand der Knochen - völlig trocken und von der
Sonne gebleicht - war sofort zu erkennen, dass sie schon seit
geraumer Zeit dort lagen, möglicherweise seit mehreren Jahren. Aber
auch die eindeutige Identifizierung ließ nicht lange auf sich
warten: Die obere Platte des künstlichen Gebisses trug die
auffällige Aufschrift Orval King - der Name eines Mannes aus
der Gegend, den man vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.
Der 74-Jährige, der einige Zeit in der örtlichen Psychiatrie gelebt
hatte, war auf dem Brachgelände zwischen einem Haus und der
belebten Straße entweder gestürzt oder hatte sich hingelegt, um in
aller Stille zu sterben.
Das faszinierende Rätsel lag in diesem Fall nicht
in der Frage, wer er war, wie lange sein Tod zurücklag oder wie er
gestorben war. Verblüfft war ich vielmehr darüber, dass man ihn
nicht schon kurz nach seinem Tod gefunden hatte. Oder genauer
gesagt: Warum hatte man ihn kurz nach seinem Tod nicht
gerochen? Wenn die Leiche eines erwachsenen Mannes verwest,
entsteht ein geradezu betäubender Gestank - das kann man sich gut
vorstellen, wenn man an einem warmen Sommertag schon einmal mit
offenem Autofenster an einem toten Hund vorübergefahren ist.
Wir wussten, dass das benachbarte Haus zu der Zeit,
als der Mann starb, bewohnt war. Außerdem wussten wir, dass der
Bürgersteig vor dem Grundstück von zahlreichen Fußgängern aus der
Umgebung benutzt wurde, und der Broadway war eine der belebtesten
Straßen von Knoxville. Und doch hatte niemand etwas gerochen, oder
zumindest war der Geruch nicht so schlimm gewesen, dass jemand
Verdacht geschöpft, die Sache genauer untersucht oder sich bei den
städtischen Behörden beschwert hätte.
Wenn also der Gestank des Todes nicht bis zu den
Häusern oder zum Bürgersteig gedrungen war, wie weit reichte er
dann überhaupt? Oder anders gefragt: Wenn eine menschliche Nase
eine Leiche auf diese Entfernung nicht wahrnahm, auf welchen
Abstand konnte sie dann einen verwesenden Körper bemerken? Die
Antwort war nach meiner eigenen Einschätzung nicht nur für mich
interessant, sondern auch für Polizei, Feuerwehr und
Rettungsdienste auf der ganzen Welt.
Orval King hatte der Forschung eine interessante
Fragestellung beschert. Mit unserer neuen, fast einen Hektar großen
Forschungseinrichtung verfügte ich über den idealen Ort, um mit
wissenschaftlichen, experimentellen Methoden eine Antwort zu
finden. Dazu brauchte ich nur eine Leiche und ein paar lebende
Versuchskaninchen.
Die Leiche hatte ich wenig später: ein herrenloser
Leichnam von einem medizinischen Sachverständigen aus der Gegend.
Und die Versuchskaninchen? Eine klare Sache: Studienanfänger tun
alles, wenn sie sich Anerkennung erwerben können. Um Freiwillige
für das Experiment zu rekrutieren, gab ich an einem Donnerstag im
Herbstsemester während meiner anthropologischen Anfängervorlesung
bekannt, alle Studenten, die sich zehn zusätzliche Leistungspunkte
erwerben wollten, sollten am Sonntagmorgen zu mir in die
anthropologische Forschungseinrichtung kommen. Ich stieß auf eine
unglaubliche Resonanz. An jenem Wochenende krochen fast 100
Studenten früh aus dem Bett - alle ganz sicher motiviert durch
unbändigen wissenschaftlichen Eifer.
Das Experiment selbst war ganz einfach: Ich hatte
eine aufgeblähte, stark riechende Leiche ein Stück oberhalb auf den
Kiesweg gelegt, der zu der Forschungseinrichtung führte. Der
Leichnam war hinter Bäumen und Büschen versteckt. Am Tag zuvor
hatte ich auf dem Weg zur Leiche alle zehn Meter eine Markierung
angebracht - Abstände von 10, 20, 30, 40 und 50 Metern. Dann führte
ich meine studentischen Versuchskaninchen einen nach dem anderen
den Pfad der Tugend entlang. Dabei gab ich nur eine einzige
Anweisung: »Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie etwas riechen.« Auf
einem Klemmbrett vermerkte ich dann jeweils, in welchem Abstand die
Studenten etwa bemerkten. Wenn ich sie in Richtung der Leiche
führte, sogen sie heftig und konzentriert die Luft ein. Die meisten
sagten erst dann etwas, wenn wir uns dem Toten schon bis auf 10
oder 20 Meter genähert hatten; plötzlich rümpften sie dann die Nase
und sagten: »Puh, hier stinkt es aber gewaltig.«
Es war schnelle, schmutzige Forschung, wie man in
Akademikerkreisen sagt - keine Arbeit, die man schriftlich
festhalten und im Journal of Forensic Sciences
veröffentlichen würde, aber immerhin so gut, dass mir eines klar
wurde: Ein Mensch kann auf einem Brachgrundstück zwischen einem
Haus und dem Broadway sterben, ohne dass die vielen tausend
Menschen, die nur 50 Meter entfernt vorübergehen, jemals etwas
riechen.
In den ersten Jahren erzielten wir mit unserer
Forschungsarbeit spannende Fortschritte. Fast jede Woche trafen
jetzt neue Leichen von medizinischen Sachverständigen und Spendern
ein. Nicht nur die Betonplattform auf unserem eingezäunten Gelände
hatte die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität erreicht, sondern auch
die drei Regale - Etagenbetten für die Toten -, die wir seitlich am
Zaun zusätzlich aufgebaut hatten.1
Ich beaufsichtigte unser wachsendes
Forschungsprogramm mit Eifer und Stolz. Aber die alte Lehre stimmt:
Hochmut kommt vor den Fall. Als ich an einem Frühjahrstag im Jahr
1985 zum Reich meiner Forschung kam, war die Hälfte des knapp einen
Hektar großen Geländes mit den Fähnchen von Landvermessern
markiert, und auf einer Seite lauerte unheilvoll ein Bulldozer. Ich
schnappte mir einen der Landvermesser und fragte ihn, was hier los
sei. Er erklärte mir, man wolle den Parkplatz des Krankenhauses
erweitern. Wie sich herausstellte, hatte die Landwirtschaftsschule
mir mehr Fläche zur Verfügung gestellt, als sie selbst besaß; statt
der früheren Müllkippe von fast einem Hektar gehörte mir nur eine
frühere Müllkippe von einem halben Hektar, und kein Appell von
meiner Seite konnte den Bulldozern, Walzen und Asphaltiermaschinen
Einhalt gebieten.
Aber dass ich die Hälfte meines Geländes verloren
hatte, sollte sich noch als die geringste Sorge erweisen. Ein paar
Tage später rief Annette, die Institutssekretärin, mich mitten aus
einer Vorlesung - eine drastische, nahezu beispiellose Maßnahme. Ob
ich schon von den Protesten draußen an der Body Farm gehört hätte?
Natürlich nicht. Annette und ich stiegen sofort ins Auto, fuhren
hinüber auf den Parkplatz des Krankenhauses und hielten ein Stück
entfernt in einer unauffälligen Ecke.
Vor meiner Forschungseinrichtung hielt eine lokale
Patientenorganisation Wache. Sie nannte sich »Solutions to Issues
of Concern to Knoxvillians« (»Lösungen für Besorgnis erregende
Fragen der Bürger von Knoxville«) oder kurz S.I.C.K. An den Zaun
hatten sie auf einer Seite ein riesiges Transparent aufgehängt;
darauf stand »This makes us S. I. C. K.!« (»Davon wird uns
schlecht!«) Obwohl meine Einrichtung der Gegenstand des Protestes
war, musste ich beim Anblick des Transparents lachen. Es war
schlau, es war lustig, und es sicherte ihnen ein großes
Medieninteresse.
Aber womit hatte ich den Zorn der S.I.C.K. auf mich
gezogen? Offensichtlich hatte sich einer der Landvermesser bei der
Vorbereitung der Parkplatzerweiterung irgendwann zum Mittagessen im
Schatten niedergelassen und dabei die verwesten Leichen auf unserem
kleinen eingezäunten Areal gesehen. Als er nach Hause kam, hatte er
sich bei seiner Mutter darüber beklagt, und die gehörte zufällig
zur Führung der S.I.C.K. Wie es sich für eine besorgte Mutter
gehört, organisierte sie den Protest.
Als ich der Gruppe erklärte, wozu die Einrichtung
diente - Erforschung der Verwesung, um der Polizei die Aufklärung
von Morden zu erleichtern -, räumte sie ein, solche Arbeiten seien
von wissenschaftlichem Wert. Aber warum sie hier stattfinden
müssten, praktisch unter den Augen der Öffentlichkeit? Ob man sie
nicht beispielsweise 30 Kilometer nach Westen verlegen könne, in
das riesige, bewaldete und schwer bewachte staatliche
Versuchsgelände von Oak Ridge?
Du lieber Himmel, ich war erst ein knappes Jahr
zuvor mit der ganzen Einrichtung aus 30 Kilometern Entfernung
hierher gezogen. Für die Einrichtung unseres Forschungsprogramms
war es von entscheidender Bedeutung gewesen, dass wir eine Stelle
in der Nähe des anthropologischen Instituts fanden. Ich rief den
Universitätsrektor Jack Reese an und erklärte ihm unser Dilemma.
Ich wollte der Universität keinen Ärger bereiten, aber ich hätte
sicher etwas dagegen gehabt, die Forschungseinrichtung zu verlieren
oder schon wieder zu verlegen. Jack war mit seiner Entscheidung
weise wie Salomo und großzügig wie Carnegie: Er bot an, aus seinem
eigenen Etat einen Maschendrahtzaun um den gesamten noch
verbliebenen halben Hektar zu finanzieren, sodass keine Fremden
mehr in die Nähe der Leichen kamen.
Ein paar Wochen später stand der Zaun, und die
Krise war vorüber. Robert Frost hatte Recht: Ein guter Zaun macht
gute Nachbarn. Aber es sollte weder unsere letzte noch unsere
schlimmste Krise bleiben.