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Kleine Tiere für die Forschung
An einem warmen, sonnigen Tag im Jahr 1981
lag die Leiche Nummer 1-81 halb verwest in meiner neu gegründeten
anthropologischen Forschungseinrichtung. Fast hätte man sie vom
anthropologischen Institut der University of Tennessee auf der
anderen Seite des Flusses sogar sehen können. Bill Rodriguez und
ich traten aus den Räumen unter dem Neyland Stadium ins Freie. Bill
hatte ein Glasgefäß mit fünf Fliegen in der Hand, und jedes Insekt
trug auf dem Rücken einen Farbklecks, leuchtend orange wie das
Trikot eines Footballspielers der Universitätsmannschaft.
Als wir neben den Stufen in der Sonne standen,
schraubte Bill das Gefäß auf. Wenige Sekunden später waren alle
fünf Fliegen weg. Wir sahen einander an und grinsten. »Lass mich
wissen, wie es weitergeht«, sagte ich.
Bill hatte gerade mit einer Untersuchung begonnen,
die in der forensischen Forschung zu einer Revolution führen
sollte, und der Bericht darüber wurde zu einem der meistzitierten
anthropologischen Fachaufsätze aller Zeiten. Aber das wusste ich
damals noch nicht. Mir war nur klar, dass wir über Leichen und
Insekten noch viel lernen mussten.
Zehn Jahre zuvor, 1971, war ich nach Knoxville
gezogen. Während der sechziger Jahre war ich als Dozent in Kansas
tätig gewesen und hatte Indianergräber in South Dakota ausgegraben;
wenn ich die uralten Indianerskelette mit den neuen Mordopfern
zusammenzähle, die Lokalpolizisten und Beamte der Staatspolizei zu
mir brachten, hatte ich annähernd 5000 Leichen gesehen, bevor ich
nach Tennessee kam. Damals glaubte ich, ich hätte schon alles
kennen gelernt. Aber damit hatte ich Unrecht.
Während des ersten Jahres in Knoxville brachten
verschiedene Polizeidienststellen mir insgesamt rund ein Dutzend
Leichen zur Untersuchung, und mindestens in der Hälfte dieser Fälle
musste ich mich mit etwas auseinander setzen, worüber ich sehr
wenig wusste: mit Maden.
Maden sind kleine, wurmähnliche Larven. Sie
schlüpfen aus den Eiern, die Fliegen auf einer Leiche ablegen -
gewöhnlich (aber nicht immer) handelt es sich dabei um die grün
schillernden Insekten, die man als Schmeißfliegen bezeichnet.
Unmittelbar nach dem Schlüpfen ist eine Made noch nicht einmal so
groß wie ein Reiskorn. Im ausgewachsenen Zustand wird sie dann so
groß und dick wie ein Stück Makkaroni. Um so weit heranzuwachsen,
fressen die Maden verwesendes Fleisch. Jedenfalls tun sie das in
Tennessee; in Kansas weniger.
Kansas hat ein relativ trockenes Klima, und deshalb
mumifizieren Leichen sehr häufig: Sie trocknen aus und schrumpfen
ein, bevor die Maden sie befallen können. In Tennessee fällt
doppelt so viel Niederschlag, und zwischen den Schauern herrscht
häufig hohe Luftfeuchtigkeit; im Sommer kann man fast einen
Brokkoli im Dampf garen, einfach indem man ihn ins Freie stellt.
Die Feuchtigkeit und der viele Schatten in den Wäldern von
Tennessee - Prärien gibt es östlich des Mississippi kaum - sorgen
dafür, dass das Fleisch der Leichen weich bleibt und zu einer
leichten Beute für die Maden wird. In Tennessee lernte ich sehr
schnell, dass man Leichensäcke am besten im Freien und auf dem
Boden öffnet, damit das Leichenschauhaus nicht von Maden und
Fliegen überschwemmt wird.
Zu Fliegen hatte ich schon als Kind eine
eigenartige, symbiotische Beziehung. Kurz nach dem Tod meines
Vaters zog meine Mutter mit mir zu ihren Eltern. Wir wohnten auf
einer Farm, und wo es Vieh gibt, sind auch Fliegen nicht weit.
Meine Mutter ekelte sich vor den Insekten und bot mir ein Geschäft
an: Für jeweils zehn tote Fliegen, die ich ihr brachte, bekam ich
eine Belohnung von einem Cent.
Solchermaßen beflügelt, wurde ich mit meinen sechs
Jahren zum routinierten Fliegenmörder. Wenn mein Großvater vom
Melken kam, fiel mir auf, wie die Fliegen sich auf jedem
Milchtropfen sammelten, der aus seinem Eimer spritzte.
Klatsch - sieben auf einen Streich! Wenig später hatte ich
gelernt, meine Großmutter um ein Glas Milch anzubetteln, sodass ich
nicht mehr auf die Melkzeit oder die von Opa vergossene Milch
warten musste. Die Fliegenleichen türmten sich, und ebenso türmten
sich meine Cents.
Seither jedoch habe ich Fliegen immer verabscheut -
auch, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, in
wissenschaftlicher Hinsicht. Noch mehr hasse ich Klapperschlangen,
aber die kommen bei weitem nicht so häufig vor, sind viel scheuer
und viel leichter zu töten. Wie ich in South Dakota lernte, braucht
man zum Köpfen einer Prärieklapperschlange nur eine messerscharfe
Schaufel und eine ruhige Hand. Fliegen dagegen sind gnadenlos, und
es gibt sie in fast unendlicher Zahl. Legt man an einem Sommertag
eine frische, blutige Leiche auf die Erde, wimmelt es in der Luft
schon nach wenigen Minuten von Schmeißfliegen. Schwingt man die
Schaufel wie eine riesige Fliegenklatsche, erwischt man vielleicht
ein paar von ihnen im Flug, aber in der Zeit, die man dazu braucht,
haben sie bereits wieder dutzendweise Verstärkung bekommen.
Und dennoch: Als ich den Fliegenschwarm sah, wusste
ich, dass wir von ihnen und den anderen Insekten mit Sicherheit
etwas lernen konnten. Auf irgendeine Weise konnten sie uns zu neuen
Erkenntnissen verhelfen, insbesondere was die Zeit seit dem Tod
anging.
Ich war keineswegs der erste Wissenschaftler, dem
auffiel, wie schnell Fliegen den Hauch des Todes in die Nase
bekommen, wie unfehlbar sie vom Duft des Blutes angezogen werden.
Der chinesische Gelehrte Sung Tz’u berichtete schon 1247 in seinem
bahnbrechenden gerichtsmedizinischen Werk Vom Hinwegwaschen des
Ungerechten über einen Mordfall:
Es gab eine gerichtliche Untersuchung wegen
der Leiche eines Mannes, welche am Straßenrand gefunden wurde...Der
Untersuchungsbeamte machte sich mit der Umgebung des Opfers
vertraut. Daraufhin entsandte er getrennt mehrere Männer, damit sie
Aufrufe verkündeten. Die nächsten Nachbarn sollten ihm alle ihre
Sicheln bringen und zur Untersuchung aushändigen. Wer eine Sichel
versteckte, würde als Mörder betrachtet und gründlich untersucht
werden. In kurzer Zeit wurden 70 oder 80 Sicheln zu ihm gebracht.
Der Untersuchungsbeamte ließ sie auf den Boden legen. Zu jener Zeit
herrschte warmes Wetter. Die Fliegen flogen umher und sammelten
sich auf einer Sichel. Der Untersuchungsbeamte deutete auf die
Sichel und fragte: »Wem gehört die?« Sofort meldete sich ein
Mann...Er wurde verhört, gestand aber nicht. Der
Untersuchungsbeamte zeigte auf die Sichel und befahl dem Mann, sich
selbst anzusehen. »Auf den Sicheln der anderen aus der Menge sind
keine Fliegen. Du hast einen Menschen umgebracht. Auf deiner Sichel
sind Blutspuren, deshalb sammeln sich dort die Fliegen. Wie kann
dies verborgen bleiben?« Die Umstehenden waren sprachlos und
seufzten vor Bewunderung. Daraufhin schlug der Mörder den Kopf
gegen den Boden und gestand.
Sechs Jahrhunderte später, in den neunziger Jahren
des 19. Jahrhunderts, untersuchte ein New Yorker Insektenkundler
namens Murray G. Motter 150 Leichen, die man im Zuge der Verlegung
eines Friedhofes exhumiert hatte. Er stellte fest, dass die Leichen
zahlreiche Insektenarten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien
beherbergten - Larven, Puppen und ausgewachsene Tiere. Am Ende war
manchen Insekten gerade die Leiche, in der sie gewohnt hatten, zum
Grab geworden - eine Ironie, die den Tieren selbst vermutlich nicht
auffiel und nichts bedeutete.
Motter veröffentlichte ein Verzeichnis der
gefundenen Insekten im Journal of the NewYork Entomology
Society unter dem bemerkenswert ausführlichen Titel »A
Contribution to the Study of the Fauna of the Grave: A Study of One
Hundred and Fifty Disinternments, With Some Additional Experimental
Observations« (»Ein Beitrag zur Untersuchung der Tierwelt in
Gräbern: Untersuchung an 150 Exhumierungen nebst einiger
zusätzlicher experimenteller Beobachtungen«). Seine Studie regte
andere Insektenforscher nicht dazu an, in Motters makabre
Fußstapfen zu treten, zumindest nicht mit Menschen als
Untersuchungsobjekten. 60 Jahre später jedoch stellte ein weiterer
Insektenforscher - dieses Mal durch einen seltsamen Zufall in
Knoxville - eingehende Untersuchungen zur Tätigkeit von Insekten
auf Hundekadavern an. Der Insektenkundler in Knoxville hieß H. B.
Reed, und er interessierte sich nicht für eine forensische, sondern
für eine ökologische Fragestellung: Wie verändert eine Leiche die
Umwelt in dem kleinen Ökosystem, in dem sie verwest? Um das
herauszufinden, legte Reed im Laufe eines Jahres die Kadaver von 45
Hunden aus, die man im örtlichen Tierheim eingeschläfert hatte. Bei
warmem Wetter brachte er alle zwei Wochen einen neuen Kadaver ins
Freie; in kühleren Phasen waren die Abstände größer.
Dabei machte Reed einige faszinierende
Beobachtungen. Wie nicht anders zu erwarten, war die Gesamtzahl der
Insekten auf, in und an den Kadavern im Sommer am größten; die
Bestände mehrerer Arten erreichten ihren Höhepunkt aber bei
kühlerem Wetter. Außerdem gab es im Wald zwar mehr Insekten, die
Verwesung lief aber in offenem Gelände schneller ab - nach seiner
Theorie wegen der höheren Temperaturen. Und was vielleicht am
wichtigsten war: Reed hielt peinlich genau fest, welche
Insektenarten - erwachsene Tiere und Larven - auf den Hundekadavern
vorkamen.
Eine ähnliche Studie stellte der Insektenforscher
Jerry Payne aus South Carolina in den sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts mit den Kadavern junger Schweine an. Sein wichtigster
Beitrag bestand darin, dass er die Reihenfolge der
Insektenbesiedelung genau festhielt. Er notierte sich, welche Arten
den Aufmarsch der Insekten bestritten und wann das geschah.
Mir selbst war in den sechziger Jahren während
meiner sommerlichen Aufenthalte in South Dakota ein interessantes
Phänomen aufgefallen. In den Gräbern der Arikara-Indianer, die ich
damals ausgrub, fand ich in manchen Fällen viele Puppenhüllen,
harte, hohle Gehäuse, in denen die Maden sich einschließen, bevor
sie sich in die erwachsenen Fliegen verwandeln; andere Gräber
dagegen enthielten nur wenige oder überhaupt keine Puppenhüllen.
Irgendwann dämmerte es mir: Im Winter werden die Fliegen von der
Kälte am Boden festgehalten; sobald die Temperatur unter zehn Grad
sinkt, fliegen sie nicht mehr. In den Arikara-Gräbern ohne
Puppenhüllen lagen Tote, die in der kühleren Jahreszeit gestorben
und bestattet worden waren. Für mich war es zu jener Zeit ein
faszinierender Gedanke: Noch nach 200 Jahren konnten wir
feststellen, zu welcher Jahreszeit ein Krieger der Arikara in der
Schlacht ums Leben gekommen war. Als ich später die Body Farm
einrichtete, war mir eines ganz klar: Falls ich bei einem
Doktoranden das Interesse für die Tätigkeit der Insekten auf
Leichen wecken konnte, würden wir vermutlich noch viel mehr
ableiten können als nur die Jahreszeit, zu der die Person gestorben
war.
Der ideale Doktorand für diese Aufgabe war Bill
Rodriguez: Erstens war er bereit, sich damit zu befassen, und
zweitens hatte er mehr Erfahrung mit Freilandforschung als die
meisten anderen Studenten.
Bill hatte das Grundstudium in Anthropologie
absolviert und im Nebenfach Zoologie belegt. Anthropologie hatte er
ursprünglich studiert, weil er Primatenforschung betreiben wollte,
und er war auch tatsächlich mit einem Wissenschaftlerteam nach
Afrika gereist, um Laborschimpansen auszuwildern. Daneben hatte er
aber auch meinen Kurs in Knochenkunde besucht und dabei gut
abgeschnitten. Als ich nun eines Tages zu einem Kriminalfall fahren
musste und einen Helfer suchte, der mich begleiten konnte, stieß
ich als Erstes auf Bill. Er putzte gerade die Fenster in einem
unserer Seminarräume; da wir unter den Betontribünen des Stadions
untergebracht waren, regnete ständig viel Staub und Schmutz auf
unsere Räumlichkeiten herab. Bill hatte eine Stelle als
Lehrassistent - das klingt recht hochgestochen, aber zu seinen
Pflichten als Assistent gehörten eben auch profane Aufgaben wie das
Fensterputzen.
»Ich brauche jemanden, der mich zu einem Fall
begleitet«, sagte ich. »Willst du hier nicht später weitermachen?«
Nur allzu gern willigte Bill ein.
Es war kalt und schneite. Eine Mannschaft von
Straßenarbeitern, die neben der Landstraße den Abfall einsammelten,
hatte eine teilweise mit Schlamm bedeckte Leiche gefunden. Der
Schädel lag ungefähr drei Meter vom übrigen Körper entfernt; alle
Teile waren bereits fast völlig skelettiert.
Ich stellte Bill die gleiche Frage wie allen
Studenten in solchen Fällen: Was er von dem Schauplatz hielt? Er
identifizierte den Schädel richtig als einen männlichen Weißen, und
ebenso schnell stellte er fest, dass der Mann am Kopf eine
Schusswunde hatte. Dann zeigte er auf eine weitere Verletzung, die
anscheinend ebenfalls im Zusammenhang mit dem Tod entstanden war,
und machte Bemerkungen über die flache Bestattungsgrube.
Die beiden letzten Aussagen waren zwar logisch,
aber falsch. Die Spuren, die nach seiner Ansicht auf eine
Verletzung ungefähr zum Todeszeitpunkt schließen ließen, waren in
Wirklichkeit später entstanden: Es waren Zahnspuren von Nagetieren
(vermutlich Ratten), die den Schädel weggeschleppt und
Fleischbrocken davon abgebissen hatten. Was wie ein flaches Grab
wirkte, war eine Illusion. Die Leiche lag in einem seichten
Bachbett, das bei unserem Besuch trocken war; aber nach starken
Regenfällen hatte das schlammige Wasser um den Körper herum und
über ihm eine dünne Sandschicht aufgehäuft.
Der Schädel ließ noch mehrere andere interessante
Anhaltspunkte erkennen. Die Lage der Einschussöffnung - unmittelbar
hinter dem linken Ohr, wobei das Muster der Bruchlinien darauf
schließen ließ, dass der Lauf der Waffe gegen den Schädel gedrückt
wurde - kennzeichnete den Mord als eine Art Hinrichtung. Ein
Jochbein war auf eine Art verformt, wie ich sie auch früher schon
einige Male gesehen hatte. Es war gebrochen, vermutlich bei einer
Kneipenschlägerei, und vermutlich durch einen Billardqueue; das
wusste ich aus meinen Erfahrungen mit früheren Opfern, bei denen
Verletzung und Heilung fast genau nach demselben Muster
stattgefunden hatten. Die Zähne hatten mehrere Löcher und viele
Kautabakflecken; der Mann stammte also ganz offensichtlich nicht
gerade aus der Oberschicht.
Während wir gruben, fielen uns in den Resten und um
sie herum zahlreiche Puppenhüllen auf. Daran konnte ich ablesen,
dass er wie die Arikara-Indianer, deren Gräber mich zum ersten Mal
zum Nachdenken über Insekten veranlasst hatten, bei warmem Wetter
ums Leben gekommen war. Das Gleiche bestätigten auch Ranken und
Wurzeln, die unter manchen Körperteilen hindurchgewachsen
waren.
Die Polizei konnte diesen Mordfall nie aufklären,
aber zumindest in einer Hinsicht nahm er ein glückliches Ende: Bill
Rodriguez war nun endgültig der forensischen Forschung verfallen.
An diesem kalten, verschneiten Tag hatte die Primatenforschung
einen viel versprechenden Nachwuchswissenschaftler verloren. Wenig
später half Bill, das Gelände der Body Farm zu roden, die
Kiesfläche für die neue anthropologische Forschungseinrichtung zu
ebnen und die Betonplatte zu gießen. Ein paar Monate später war er
dabei, als wir unser erstes Forschungsobjekt auslegten, die Leiche
Nummer 1-81. Mittlerweile hatte Bill sich auch für ein Thema seiner
Doktorarbeit entschieden. H. B. Reed hatte die Insektenbesiedelung
von Hundekadavern aufgezeichnet. Bill würde das Gleiche bei
menschlichen Leichen tun, und beginnen sollte er mit 1-81.
Die Untersuchung mit den Insekten war alles andere
als angenehm. Neben 1-81 hatten wir eine verweste Leiche aus dem
Schweinestall herübergebracht, und während der nächsten Monate
kamen noch mehrere weitere Leichen hinzu.
Bill legte die Leichen auf Drahtgestelle, sodass er
die Insekten von unten beobachten und einsammeln konnte. Dann
setzte er sich jeden Tag stundenlang auf einen Stuhl und sah zu,
was sich abspielte.
Als Erstes beobachtete er bei allen vier
Untersuchungsobjekten eine Fülle von Schmeißfliegen. Bei warmem
Wetter zogen Leichen wie 1-81 innerhalb weniger Minuten Hunderte
dieser Insekten an. Blut löste bei ihnen eine Fressorgie aus, wie
Bill es sich nie hätte träumen lassen: Wenn er weniger als einen
Meter von einer blutigen Leiche entfernt saß, war er selbst wenig
später ebenfalls mit Fliegen bedeckt, die sich an allen
Körperflüssigkeiten gütlich tun wollten und nach dunklen feuchten
Hohlräumen (einschließlich Bills Nasenöffnungen) suchten, um ihre
Eier darin abzulegen. Er lernte sehr schnell, dass er sich ein Netz
über den Kopf ziehen musste, um die Fliegen von Augen, Nase, Mund
und Ohren fern zu halten.
An warmen Tagen dauerte es nur wenige Stunden, dann
waren Nase, Mund und Augen einer Leiche voller körniger, gelblich
weißer Massen von Fliegeneiern. Ein Schmeißfliegenweibchen legt
mehrere hundert Eier auf einmal ab, und wenn eine Leiche
eingetroffen war, wurde sie buchstäblich von Tausenden solcher
»schwangerer« Weibchen umschwärmt. In der Hitze des Mai und Juni -
den Monaten, als 1-81 und 2-81 auf dem Forschungsgelände ausgelegt
wurden - schlüpften in nur vier bis sechs Stunden Tausende von
Maden aus den Eiermassen.
Aber die Fliegen waren nicht die einzigen Insekten,
die frische Leichen besiedelten. Während der ersten Minuten bis
Stunden ließen sich auch verschiedene Wespenarten sehen. Nach Bills
Feststellungen ernährten manche sich von der Leiche selbst, andere
fingen aber auch Fliegen aus der Luft, trugen sie davon und köpften
sie mit einem schnellen Biss ihrer kräftigen Kiefer. Wieder andere
taten sich an den Massen der Fliegeneier gütlich oder fraßen die
zarten jungen Maden, die in den Körperöffnungen schlüpften.
Als die Zahl der Maden explosionsartig wuchs,
bemerkte Bill die ersten Aaskäfer. Auch sie ernährten sich nicht
nur von dem Fleisch, sondern außerdem von den Maden. Wie eine
Wespe, die eine Fliege enthauptet, so legte auch der Käfer seine
kräftigen Kiefer um das sich windende Opfer und teilte es fein
säuberlich in zwei Teile. Einige Male beschrieb Bill mit epischen
Worten einen solchen Kampf auf Leben und Tod; ich glaube, kein
anderer Student hat sich jemals so in sein Forschungsthema
vertieft. »Das ist die Nahrungskette hautnah«, erzählte er mir
eines Tages ganz begeistert. »Es ist kein zufälliges Ereignis,
sondern ein geordneter Ablauf, den wir interpretieren und zu
forensischen Zwecken nutzen können.«
Mit seinen Forschungsarbeiten brachte Bill ein
wenig frischen Wind in die forensische Anthropologie, aber nicht in
sein häusliches Leben. Nachdem er einen ganzen Tag inmitten von
Leichen und summenden Insekten - von denen viele sich auf ihm
niederließen, nachdem sie von den Leichen gefressen hatten, und
manchmal sogar Eier auf ihm ablegten - auf seinem Stuhl ausgeharrt
hatte, nahm er den Verwesungsgeruch in Kleidung, Haut und Haaren
mit nach Hause. Nach den ersten Tagen erließ seine Frau Kathleen
strenge Anweisungen: Er musste sich in der Garage ausziehen, seine
Kleidungsstücke sofort in die Waschmaschine stecken und unter die
Dusche gehen. Erst dann durfte er sich ihr nähern.
Schon an den ersten Tagen der Untersuchung hatten
Bill und ich Spekulationen darüber angestellt, auf welche
Entfernung Fliegen die Leichen riechen konnten und ob Tag für Tag
dieselben Insekten wiederkamen, um hier ihre Nahrung zu suchen. So
entstand die Idee, Fliegen mit Farbe zu markieren und zu
verfolgen.
Mit dem Netz, das er jeden Tag zum Einfangen seiner
Stichproben verwendete, fing Bill fünf Schmeißfliegen, die Nummer
1-81 umschwirrten. Er brachte sie in mein Büro im Institut und
malte ihnen mit dem Orange der University of Tennessee einen Fleck
auf den Brustkorb, sodass sie in einem Schwarm leicht zu erkennen
waren. Als wir die markierten Insekten draußen freiließen, hoben
sie in scheinbar zufälligen Richtungen ab. Am nächsten Tag hatte
Bill auf der Body Farm drei der fünf markierten Fliegen wieder im
Netz.
Am 11. Februar 1982, neun Monate nachdem die
Studie begonnen hatte, trug Bill seine Befunde auf der Jahrestagung
der American Academy of Forensic Sciences in Orlando (Florida) vor.
Als er ans Rednerpult trat, war der Raum - ein großer Ballsaal des
Hyatt-Hotels - gut gefüllt. Als er jedoch die ersten 35-mm-Dias
projizierte, die er während der Untersuchung in kurzen
Zeitabständen aufgenommen hatte, standen schon nach wenigen Minuten
die ersten Zuhörer auf und verließen den Saal. Waren Bills Bilder -
die ersten Fotos von verwesenden Leichen auf der Body Farm, die wir
öffentlich zeigten - selbst für abgebrühte Gerichtsmediziner zu
viel des Guten?
Nach einigen weiteren Minuten kamen die Zuhörer,
die den Raum verlassen hatten, einer nach dem anderen zurück - und
sie brachten noch viele Kollegen mit, die sie aus anderen,
gleichzeitig laufenden Vorträgen herausgeholt hatten. »Das musst du
dir unbedingt ansehen« - so lautete die Nachricht, die sich an
jenem Tag wie ein Lauffeuer durch die Konferenzräume des
Hyatt-Hotels verbreitete.
Im Herbst des gleichen Jahres veröffentlichte Bill
seine Ergebnisse im Journal of Forensic Sciences. Sein
Aufsatz mit dem Titel »Insect Activity and Its Relationship to
Decay Rates of Human Cadavers in Eastern Tennessee« (»Aktivität von
Insekten und ihre Beziehung zur Verwesungsgeschwindigkeit
menschlicher Leichen im Osten von Tennessee«) wurde zu einem der
meistzitierten und am häufigsten nachgedruckten Artikel in der
Geschichte dieser Fachzeitschrift. In einer 1998 erschienenen
Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der American Academy of
Forensic Sciences wurde Bills Vortrag sogar als Sternstunde in der
Geschichte der Organisation bezeichnet - die Broschüre nannte ihn
»den ersten Käfervortrag«.
Als aufstrebender Star der forensischen
Anthropologie bekleidete Bill nach seiner Promotion einige
interessante Stellen; unter anderem arbeitete er an einem Labor für
forensische Beratung und beim medizinischen Sachverständigen in
Syracuse im Bundesstaat New York. Am ungewöhnlichsten ist jedoch
seine jetzige Tätigkeit: Als forensischer Anthropologe beim
medizinischen Dienst der Streitkräfte ist er für die
Identifizierung und gegebenenfalls auch die Obduktion
verschiedenster Leichen zuständig: Soldaten, Diplomaten, Spione,
Space-Shuttle-Astronauten und alle anderen, die von Bundesbehörden
oder von offiziellen Stellen nahe gelegener Bundesstaaten oder
Gemeinden zur Untersuchung eingeschickt werden.
Im April 1986 arbeitete Bill noch bei dem
forensischen Labor in Louisiana. Damals bat ihn die Polizei von
Falls Church in Virginia um die Untersuchung von Beweisstücken, die
man eineinhalb Jahre zuvor an einem Tatort geborgen hatte.
Im August 1984 war die 18-jährige Lisa Rinker am
Sonntagabend gegen halb elf aus dem Haus gegangen. Ihrer Mutter
hatte sie gesagt, sie wolle nur einen kleinen Spaziergang um den
Block machen. Aber sie kam nicht zurück, und am nächsten Morgen
meldete die Mutter sie bei der Polizei als vermisst. Polizei,
Angehörige und Freunde durchkämmten die Stadt und die gesamte
Umgebung, aber von Lisa fanden sie keine Spur.
Am folgenden Samstag gegen Abend brachte ein
Bekannter der jungen Frau - es war der beste Freund ihres Freundes
- dem Vater ein Paar bekannt aussehende rosa Sandalen. Nach eigenen
Angaben hatte er sie an einer Straßenkreuzung außerhalb der Stadt
gefunden, als er gerade Plakate mit der Vermisstenanzeige aufhängen
wollte. Ihre Schwester Nancy bestätigte, dass es sich um Lisas
Latschen handelte.
Daraufhin rief Mr. Rinker eine Gruppe von Freunden
und Verwandten zusammen, und am nächsten Tag machten sie sich im
Wald bei der Straßenkreuzung auf die Suche. Sie gingen mit einer
bösen Vorahnung an die Arbeit, denn in der Luft hing der Geruch des
Todes, und das sehr deutlich. Etwa 60 Meter von der Leitplanke der
Landstraße entfernt, im dichten Unterholz, fanden sie Lisas Leiche.
Sie hatte dunkelblaue Cordjeans mit weiß abgesetzten Taschen an -
die Hose, die sie in der Nacht ihres Verschwindens getragen hatte -
und darüber ein zerrissenes trägerloses Top. Der Rumpf war von
Maden bedeckt; sie hatten das Gesicht bereits ebenso weggefressen
wie die inneren Organe. An Händen und Füßen löste sich die Haut.
Die Füße waren nackt, aber an den Sohlen waren trotz des unebenen
Geländes und des dichten Unterholzes keine Blutergüsse oder Kratzer
zu erkennen; vermutlich hatte sie also zur Zeit ihres Todes und
möglicherweise auch noch einige Zeit danach eine Fußbekleidung
getragen.
Zwei Tage später nahm der örtliche medizinische
Sachverständige eine Obduktion vor. Da die Leiche bereits stark
verwest und teilweise skelettiert war, konnte er keine Aussage
darüber machen, woran sie gestorben war. Er bezeichnete die
Todesursache in den Papieren als ungeklärt, und Lisas trauernde
Eltern bestatteten sie.
Aber die Polizeiermittler waren noch nicht bereit,
den Fall auf sich beruhen zu lassen. An dem Abend, als Lisa
verschwunden war, hatte sie mit ihrem Freund Bernie Wood einen
heftigen Streit gehabt. Nach Polizeiangaben hatte Lisa ihn betrogen
- und zwar mit Dale Robinson, dem Ehemann ihrer Schwester -, und
Zeugen hatten ausgesagt, der junge Mann habe sie bedroht. Das Auto
seines Freundes Danny Heath - das war der Bursche, der Lisas
Sandalen neben der Landstraße gefunden hatte - war in der
fraglichen Nacht geparkt nicht weit von der Stelle gesehen worden,
wo man später Lisas Leiche fand.
Die Beamten nahmen Lisas Freund und seinen Kumpanen
Danny hart in die Mangel. Dem Polizeibericht zufolge zeigte sich im
Lügendetektortest, dass Danny bei Fragen nach Lisas Tod die
Unwahrheit sagte, aber da die Todesursache nicht geklärt war und
keine sonstigen Umstände auf einen Mord hindeuteten, entschied sich
der Staatswanwalt, weder gegen Bernie Wood noch gegen Danny Heath
Anklage zu erheben.
Mittlerweile war Rick Daniele, ein neuer Ermittler,
von dem Fall gefesselt. Er schickte Fotos der Leiche und die an der
Straße gefundenen Sandalen an die forensische Anthropologin Dr.
Louise Robbins in North Carolina, eine Expertin für die
Untersuchung von Fuß- und Schuhabdrücken. Sie erklärte, die
Verfärbung von Fußballen und Fußgewölbe sei ein Indiz dafür, dass
Lisa die Sandalen nach ihrem Tod noch mehrere Tage an den Füßen
gehabt hatte. Außerdem bemerkte Dr. Robbins ein Stück Haut, das an
einer der Sandalen klebte - ebenfalls ein Beweis dafür, dass die
Leiche bereits teilweise verwest war, als die Sandale abgenommen
wurde.
Jetzt wandte sich Detective Daniele an Bill
Rodriguez und bat ihn, die Beweisstücke zu untersuchen. Neben den
Fotos schickte er Bill auch Bodenproben vom Fundort der Leiche und
konservierte Maden, die man auf Lisas Körper eingesammelt hatte.
Offensichtlich waren die Ermittler bei der Spurensicherung sehr
gründlich vorgegangen; weniger offensichtlich, aber ebenso
bedeutsam war, dass die Insektenkunde sich zu einem anerkannten
Hilfsmittel der Gerichtsmedizin entwickelt hatte, und das war zu
einem großen Teil den Forschungsarbeiten zu verdanken, die Bill
fünf Jahre zuvor auf der Body Farm geleistet hatte.
Als Bill die Fotos von Lisas Leiche durchsah, fiel
ihm sofort die stark fortgeschrittene Verwesung auf, insbesondere
an Brustkorb und Händen. Dass das Gesicht bereits völlig
verschwunden war, wunderte ihn nicht: Die feuchten Öffnungen sind
der Lieblingsort für Schmeißfliegen, die ihre Eier ablegen -
jedenfalls in der Regel. Anders sieht die Sache aus, wenn der
Körper irgendwo blutig ist.
Jeder forensische Anthropologe, der schon eine
Leiche mit einer Stichwunde oder durchgeschnittener Kehle gesehen
hat, weiß ganz genau, wie stark das Blut in solchen Wunden die
Fliegen anzieht und das Madenwachstum begünstigt. Bei warmem Wetter
- und im August 1984, als Lisa Rinker starb, war es warm - fressen
die massenhaft geschlüpften Maden das umgebende Gewebe viel
schneller auf als an anderen Stellen. Dieses Phänomen, das wir
»differenzielle Verwesung« nennen, lässt im Geist jedes erfahrenen
Gerichtsmediziners sofort die Warnlampen angehen.
Wegen der starken differenziellen Verwesung an
Brust und Bauch war Bill so gut wie sicher, dass Lisa dort eine
Stichwunde gehabt hatte; die Gewebeschäden an der Hand ließen
darauf schließen, dass sie sich dort geschnitten hatte, vermutlich
weil sie versuchte, sich zu verteidigen. Er rief Detective Daniele
an und teilte ihm seine Befunde mit.
Angesichts dieser Deutung der Fotos ließ Daniele
sich Lisas Kleidung aus der Asservatenkammer kommen und schickte
sie ins kriminaltechnische Labor von Virginia. Die Analyse
bestätigte Bills Vermutungen: An acht verfärbten Stellen der Hose
wurde Blut gefunden, und zwar viel Blut - es hatte den Stoff völlig
durchtränkt. Daniele appellierte an die Angehörigen und den
Staatsanwalt, einer Exhumierung zuzustimmen, damit Bill auch am
Skelett nach Verletzungsspuren suchen konnte.
Drei Monate später, an einem kalten, verschneiten
Tag, fuhr Bill zu dem Friedhof, auf dem Lisa bestattet war.
Arbeiter brachen den gefrorenen Boden auf, legten den Sarg frei und
hoben ihn aus dem Grab. Dann stellten sie ihn auf einen
Leichenwagen, und er wurde in das Leichenschauhaus des Kreises
Fairfax gebracht. Dort nahm Bill den Brustkorb, den Bauch und beide
Hände auseinander, legte sie in einen großen Wasserkessel und
kochte sie eine Stunde, um das restliche Fleisch zu entfernen. Dann
holte er die Knochen aus dem Topf und säuberte sie vorsichtig mit
einer Bürste.
Lisa Rinker war tatsächlich erstochen worden. Bill
fand insgesamt sieben Messerspuren an verschiedenen Teilen des
Brustkorbes (Rippen und Brustbein) sowie Handverletzungen, die
durch Abwehrversuche entstanden waren. Die Schnitte stammten von
einem Messer mit schmaler Klinge. Nach Polizeiangaben hatte Danny
Heath in einer Scheide am Gürtel häufig ein großes Taschenmesser
mit sich herumgetragen, aber nach Lisas Tod hatte man es nicht mehr
bei ihm gesehen. Daraufhin wurde in Lisas Totenschein die Angabe
der Todesursache geändert: Statt ungeklärt stand dort jetzt
Mord.
Lisas Mörder ist leider bis heute auf freiem Fuß.
Obwohl Bill anhand des Skeletts beweisen konnte, dass die junge
Frau ermordet wurde, und trotz aller ungeklärter Fragen im
Zusammenhang mit Bernie Wood und Danny Heath ist der Staatsanwalt
des Kreises Fairfax nach wie vor nicht bereit, den Fall weiter zu
verfolgen.
Anthropologen und Insekten können die Wahrheit ans
Licht bringen, aber sie können die Räder der Bürokratie nicht ins
Rollen bringen und keine Gewähr bieten, dass Gerechtigkeit waltet.
Sie können nur den Opfern eine Stimme geben und hoffen, dass sie
gehört wird.