Alle sahen einander schockiert an.
»Wie bitte?«, murmelte Charlotte und schüttelte den Kopf, als hätte sie Jean-Baptiste nicht verstanden.
»Versteh das nicht als Strafe«, erklärte er. »Charles braucht Abstand. Von Paris. Von diesem Haus. Von mir. Er braucht Zeit und die Möglichkeit, einen klaren Kopf zu bekommen. Paris ist in Anbetracht dieses Gefechts, dieser ...«, er suchte das richtige Wort, »Kriegserklärung — wenn sich herausstellen sollte, dass es sich wirklich darum handelt —, nicht der richtige Ort für jemanden, der nicht weiß, wo er hingehört.«
»Aber ... warum ich?«, fragte Charlotte mit einem kurzen, panischen Seitenblick zu Ambrose.
»Kannst du getrennt von deinem Zwillingsbruder leben?«
Sie ließ den Kopf hängen. »Nein.«
»Das hatte ich erwartet.« Die Härte wich aus seinem Gesicht, als Charlotte anfing zu weinen. Er ging zu ihr, setzte sich neben sie auf die Couch und zeigte eine Empfindsamkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte. So wenig, wie ich Jean-Baptiste kannte, wirkte sie doch sehr untypisch auf mich.
Er hielt ihre Hand und erklärte: »Mein liebes Kind, doch nur für ein paar Monate, bis wir herausgefunden haben, was genau Luciens Clan im Schilde führt. Ob sie uns angreifen wollen. Ob sie gezwungen sind, unterzutauchen, weil sie nun keinen Anführer mehr haben. Das wissen wir alles noch nicht. In dieser Situation würde Charles' Unentschlossenheit und Verwirrung uns nur schwächen, und das in einem Moment, in dem wir am stärksten sein müssen. Du weißt, dass ich überall Häuser besitze. Ihr könnt selbst bestimmen, wohin ihr zieht. Und ihr kehrt wieder hierher zurück. Das verspreche ich.«
Charlotte schlang ihre Arme um Jean-Baptistes Hals und schluchzte. »Schhh«, sagte er und streichelte ihren Rücken.
Als sie sich beruhigt hatte, stand er wieder auf und sagte an Ambrose und Jules gerichtet: »Sobald Gaspard mit uns kommunizieren kann, werde ich mich mit ihm über das weitere Vorgehen beraten. Wir müssen jemanden finden, der Charlotte und Charles in diesen riskanten Zeiten ersetzen kann. Vorschläge sind sehr willkommen. Und nun zu dir, Kate«, sagte er an mich gerichtet.
Ich versteifte mich in meinem Sessel, weil ich nicht wusste, was jetzt auf mich zukommen würde, auch wenn ich mit dem Schlimmsten rechnete. Mich konnte er nicht von hier verbannen, ich wohnte ja schließlich nicht unter seinem Dach. Und er konnte mir nicht verbieten, Vincent wiederzusehen. Dem würde ich mich widersetzen. Obwohl ich in meinem ganzen Leben noch nie erschöpfter war als gerade in diesem Moment, war mein Wille noch nie stärker gewesen.
»Wir schulden dir größte Dankbarkeit. Du hast einen der Unseren unter Einsatz deines Lebens beschützt.«
Ich war völlig perplex. Schließlich stammelte ich: »Aber ... Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Du hättest dir deine Schwester schnappen und euch beide in Sicherheit bringen können. Lucien war hinter Vincent her.«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, das hätte ich nicht gekonnt. Ich wäre lieber selbst gestorben, als Vincent seinem Schicksal zu überlassen.
»Du genießt jetzt mein volles Vertrauen«, verkündete Jean-Baptiste. »Fortan bist du hier willkommen.«
Jules meldete sich zu Wort. »Sie war schon längst hier willkommen.« Ambrose nickte zustimmend.
Jean-Baptiste sah sie milde an. »Ihr wisst beide, wie sehr ich darum bemüht bin, unsere Gruppe zu schützen. Und selbst wenn ich jedem Einzelnen von euch traue, so vertraue ich nicht immer auf euer Urteilsvermögen. Habe ich je erlaubt, dass jemand eine menschliche Geliebte mit in dieses Haus bringen durfte?«
Im Zimmer blieb es still.
»Diese hier hat nun hiermit meine offizielle Erlaubnis dazu erhalten.«
»Und dazu musste sie bloß einem bösen Zombie den Kopf abhacken«, murmelte Ambrose voller Sarkasmus.
Jean-Baptiste ignorierte seine Bemerkung und fuhr fort. »Dennoch wäre ich dir sehr dankbar, wenn du einen Weg finden könntest, deiner Schwester dies alles zu erklären, ohne allzu viele unserer Geheimnisse preiszugeben. Sobald du den kleinsten Verdacht hegst, dass sie mit einem von Luciens Partnern Umgang pflegt, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mir das sofort mitteiltest. Um uns alle zu schützen, wird ihr der Zutritt zu diesem Haus in Zukunft untersagt. Zwar bin ich mir dessen bewusst, dass dies gegen ihren Willen geschah, dennoch hat ihre Anwesenheit den einzigen Vorstoß in dieses Haus begünstigt, den wir bisher je erlebt haben.«
Ich nickte. Georgia hätte fast den Schlusspunkt gesetzt und damit die Geschichte zwischen Vincent und mir beendet. Die Geschichte von uns allen eigentlich.