Charlotte führte mich ins Erdgeschoss und durch den Dienstbotengang zu Vincents Zimmer. Sie klopfte an, trat, ohne auf Antwort zu warten, ein und blieb erst an Vincents Bett stehen. Meine Schritte wurden langsamer, als ich sah, dass er aufrecht saß, gestützt von ein paar Kissen. Er wirkte sehr schwach und war blass wie ein Laken. Aber er lebte. Mein Herz hüpfte in meiner Brust — sowohl vor Freude darüber, dass er lebte, als auch aus Furcht. Wie war das alles nur möglich?

»Vincent?«, fragte ich vorsichtig. »Bist du das?« Das klang irgendwie bescheuert. Er sah aus wie immer, aber vielleicht war er ja besessen von ... Keine Ahnung. Von einem Alien oder so was. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich bereit war, alles zu glauben.

Er lächelte und sofort wusste ich, dass er es war.

»Du bist nicht ... aber du warst tot!« Ich musste diese absurden Worte richtig herauspressen.

»Und wenn ich dir sage, dass ich einfach nur sehr fest schlafe?« Er sprach leise, langsam und offensichtlich mit großer Anstrengung.

»Vincent, du warst tot. Ich hab dich gesehen. Ich hab dich berührt. Ich weiß ...« Meine Augen füllten sich mit Tränen, als mich die Erinnerung an meine Eltern überfiel, wie sie aufgebahrt in der Leichenhalle von Brooklyn gelegen hatten. »Ich weiß, wie Tote aussehen.«

»Komm zu mir«, sagte er. Langsam bewegte ich mich auf ihn zu, ohne zu wissen, was mich erwarten würde. Er hob seinen Arm und berührte zärtlich meine Hand. Er fühlte sich nicht mehr so kalt an wie zuvor, aber auch noch nicht ganz lebendig.

»Na, merkst du’s?«, sagte er, seine Mundwinkel bogen sich leicht himmelwärts. »Ich lebe.«

Ich machte einen Schritt zurück, löste unsere Berührung. »Ich versteh das nicht«, sagte ich, meine Stimme voller Misstrauen. »Was stimmt denn nicht mit dir?«

Er sah resigniert aus. »Es tut mir leid, dass ich dich in all das verwickelt habe. Das war sehr egoistisch von mir. Aber ich hatte nicht gedacht, dass es so weit kommen würde. Ich habe ganz offensichtlich gar nicht nachgedacht.«

Meine eher allgemeine Sorge wurde von der leisen Befürchtung abgelöst, was wohl als Nächstes kommen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Offenbarung auf mich wartete. Eine leise Stimme in mir meldete sich zu Wort: Du hast es gewusst. Und es stimmte.

Ich hatte gewusst, dass irgendetwas an Vincent anders war. Ich hatte es gefühlt, noch bevor ich sein Foto bei den Nachrufen gesehen hatte. Es war mehr eine Ahnung, als dass ich es konkret hätte benennen können. Deshalb hatte ich es ignoriert. Doch jetzt würde ich es herausfinden. Mich durchfuhr ein leichtes erwartungsvolles Zittern. Vincent bemerkte es und sah mich besorgt an.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach uns. Charlotte stand auf, um sie zu öffnen und trat beiseite, während nacheinander mehrere Personen das Zimmer betraten.

Jules kam als Erster auf mich zu, berührte mich sachte an der Schulter und fragte: »Geht es dir besser?«

Ich nickte.

»Es tut mir wirklich unendlich leid, wie ich mich verhalten habe«, sagte er aufrichtig geknickt. »Das war eine Kurzschlussreaktion, um dich so schnell wie möglich von Vincent wegzubringen. Ich war grob zu dir. Ich hab nicht nachgedacht.«

»Ist schon okay.«

Eine bekannte Gestalt tauchte hinter ihm auf und schob ihn scherzend beiseite. Der muskulöse Typ, dem ich in der Nacht an der Seine begegnet war, sagte zu Jules: »Gibst du sie auch mal wieder frei?« Er beugte sich zu mir herunter und reichte mir seine Hand. »Kate, ich bin ganz entzückt, deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Ambrose«, dröhnte seine tiefe Baritonstimme. Dann wechselte er in perfektes amerikanisches Englisch und sagte: »Ambrose Bates aus Oxford, Mississippi. Es freut mich sehr, endlich jemanden aus der Heimat zu treffen in diesem Land, in dem es sonst nur verrückte Franzosen gibt!«

Es gefiel ihm offensichtlich, dass er mich so überrascht hatte. Ambrose lachte und tätschelte mir kurz den Arm, bevor er sich neben Jules aufs Sofa setzte und mir noch einmal kurz freundlich zuzwinkerte.

Ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, kam auf mich zu und verbeugte sich nervös. »Gaspard«, stellte er sich schlicht vor. Er war älter als die anderen, Ende dreißig oder Anfang vierzig. Groß und hager war er, mit tiefliegenden Augen und einer äußerst schlecht geschnittenen Frisur. Seine schwarzen Haare standen wild in alle Richtungen davon. Er wandte sich ab und ging zu den anderen.

»Das ist mein Zwillingsbruder Charles«, sagte Charlotte, die die ganze Zeit neben mir stehen geblieben war. Sie deutete auf eine rothaarige Kopie von sich selbst. Charles verbeugte sich und deutete einen Handkuss an, bevor er sarkastisch sagte: »Schön, dich wiederzusehen. An einem Tag, an dem es mal keine Fassadenteile regnet.« Ich lächelte ihn unsicher an.

Keine Ahnung, ob es nur so wirkte oder ob wirklich alle einen Schritt zurückmachten, aber plötzlich war mir, als wäre ich mit dem Mann, der mir jetzt gegenüberstand, allein im Zimmer. Es war der Adlige von gestern — der Besitzer des Hauses. Während alle anderen mich mehr oder weniger freundlich begrüßt hatten, war auf dem Gesicht des Hausherrn nicht die Spur eines Lächelns zu erkennen.

Er machte eine steife Verbeugung. »Jean-Baptiste Grimod de la Reynière«, sagte er und sah mir mit steinerner Miene in die Augen. »Dies ist mein Haus, auch wenn viele meiner Anverwandten hier wohnen. Und ich für meinen Teil erachte Ihre Anwesenheit als nicht sehr weise.«

»Jean-Baptiste«, setzte Vincent hinter mir an. »Das war doch alles keine Absicht.« Er lehnte sich wieder zurück in die Kissen und schloss die Augen. Diese sieben Wörter schienen ihn völlig erschöpft zu haben.

»Du, junger Mann ... Du hast bereits gegen die Regeln verstoßen, als du sie das erste Mal mit in dieses Haus genommen hast. Ich habe es keinem von euch je erlaubt, eine menschliche Geliebte mitzubringen. Du hast dieses Verbot auf unerhörte Weise missachtet.«

Meine Wangen glühten, aber ich war mir nicht sicher, ob das Wort »menschliche« oder »Geliebte« der Auslöser dafür war. Ich verstand rein gar nichts mehr.

»Was hätte ich denn machen sollen?«, wandte Vincent ein. »Sie hatte gerade mit eigenen Augen gesehen, wie Jules gestorben war. Sie stand unter Schock.«

»Das war die Aufgabe, die du zu lösen hattest. Du hättest dich von vornherein nicht mit ihr einlassen sollen. Jetzt kannst du zusehen, wie du diese Sache bereinigst.«

»JB, jetzt entspann dich mal«, warf Ambrose ein, lehnte sich zurück und legte seinen Arm auf die Rückenlehne der Couch — besser: auf die gesamte Rückenlehne der Couch. »Das ist doch nicht das Ende der Welt. Wir haben sie ausgiebig überprüft und festgestellt, dass sie definitiv keine Spionin ist. Außerdem ist sie nicht gerade der erste Mensch, der von uns erfährt.«

Jean-Baptiste warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Der Mann, der sich als Gaspard vorgestellt hatte, ergriff das Wort und sprach mit ängstlicher Stimme: »Wenn es mir erlaubt ist, hier etwas klarzustellen ... Der Unterschied besteht darin, dass jeder andere Mensch, mit dem wir Umgang pflegen, persönlich ausgewählt wurde und aus Familien stammt, die Jean-Baptiste schon seit Generationen dienen.«

Generationen?, dachte ich mit Schrecken. Ein eiskalter Finger strich mir über das Rückgrat.

»Wohingegen ich Sie«, fuhr Jean-Baptiste an mich gewandt fort, »seit nicht mal einem Tag kenne und Sie schon jetzt ungebeten in die Privatsphäre meiner Anverwandten eindringen. Sie sind hier über alle Maßen unerwünscht.«

»Meine Güte!«, rief Jules. »Halt bloß nicht mit deinen Gefühlen hinterm Berg, Grimod. Ihr Oldies müsst allmählich wirklich mal ein bisschen lockerer werden und lernen, euch zu öffnen.«

Jean-Baptiste tat so, als hätte er das nicht gehört.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte Charlotte den Besitzer des Hauses.

»Ich bitte euch, hört auf damit. Passt mal auf«, sagte Vincent und atmete sehr flach. »Wir müssen uns einigen, weil uns das alle betrifft. Wer ist dafür, dass wir Kate einweihen?«

Ambrose, Charlotte, Charles und Jules hoben die Hand.

»Und was schlagt ihr vor?« Vincent richtete diese Frage an Jean-Baptiste und Gaspard.

»Das ist dein Problem«, antwortete Jean-Baptiste. Er fixierte mich noch ein paar Sekunden lang, machte dann auf dem Absatz kehrt, verließ schnellen Schritts das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.