Es regnete. Heftig. Ich sah den Tropfen zu, die mit solcher Gewalt gegen meine deckenhohen Fenster schlugen, dass sie abprallten und im hohen Bogen in die Pfütze flogen, die sich langsam auf meinem Balkon bildete.
Ich hatte unaufhörlich an Vincent gedacht, seit Jean-Baptiste vor ein paar Stunden gegangen war. Ich verglich seine Worte mit der Nachricht, die Charles mir im Café ausgerichtet hatte. Vincent versuchte, eine Lösung zu finden. Eine Lösung. Sollte ich mich mit ihm treffen oder würde ich mir damit nur wieder jede Menge Kummer einhandeln?
Was ist wohl besser, fragte ich mich, in Sicherheit zu sein und allein zu leiden oder was zu riskieren und dabei wirklich zu leben? Obwohl mir mein Kopf und mein Herz zwei unterschiedliche Antworten gaben, kam ich dennoch zu dem Schluss, dass ich nicht so weiterleben wollte wie die vergangenen drei Wochen: ein tristes, völlig farbloses Dasein, ohne Wärme und Leben.
Ich stellte mich ans Fenster und schaute in den Himmel, der immer dunkler und dunkler wurde. Ein wenig hoffte ich, dass die Antwort auf meine Frage dort in einfachen Buchstaben auf die schwarzen Regenwolken geschrieben stünde. Ich ließ meinen Blick sinken und erkannte unten im Park die Silhouette eines Mannes, der sich an das Parktor lehnte. Er stand einfach da, im strömenden Regen, ohne Schirm und starrte zu meinem Fenster hinauf. Ich trat auf den Balkon.
Ein kalter Wind stieß mir entgegen und ich war sofort völlig durchnässt vom niederprasselnden Regen. Aber ich konnte das Gesicht erkennen, das sich drei Stockwerke unter mir befand. Es war Vincents. Unsere Blicke trafen sich.
Ich zögerte einen winzigen Augenblick. Soll ich? Das fragte ich mich selbst, bevor mir klar wurde, dass ich mich längst entschieden hatte. Schnell tapste ich zurück in mein Zimmer, nahm ein Handtuch von einem Stuhl und trocknete Gesicht und Haare, während ich meine Regenstiefel suchte. Endlich zog ich sie unter dem Bett hervor, rannte damit in den Flur und Mamie fast über den Haufen, die gerade aus der Küche kam.
»Katya, wo willst du denn hin?«, fragte sie.
»Ich muss mal eben raus. Ich ruf an, wenn es später wird«, sagte ich, warf mir einen Mantel über und schnappte mir einen Schirm.
»Gut, meine Kleine. Aber pass auf dich auf, da draußen gießt es in Strömen.«
»Ich weiß, Mamie«, sagte ich und umarmte sie stürmisch, bevor ich aus der Wohnung rannte.
»Was ist denn in dich gefahren?«, rief sie mir hinterher, doch da fiel die Tür schon ins Schloss und ich sprintete die Treppen hinunter.
Ich ließ die Haustür hinter mir und verschwand um die Ecke, hinter der der Park lag. Da war er. Im peitschenden Regen erwartete er mich mit einem Gesichtsausdruck, der mich abrupt innehalten ließ. Schwindelerregende Erleichterung zeichnete sich auf seinen Zügen ab. So als hätte er mitten in der Wüste einen Teich mit glasklarem Wasser gefunden. Ich begriff es sofort, schließlich ging es mir nicht anders.
Ich ließ den Schirm fallen und lief auf ihn zu. Seine starken Arme schlangen sich um mich und hoben mich hoch. Es war eine einzige, verzweifelte Umarmung. »Oh, Kate«, flüsterte er und presste seinen Kopf an meinen.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Ich wollte dir so nah wie möglich sein«, sagte er und küsste mir die Regentropfen von den Wangen.
»Seit wann ...«, fing ich an.
»Es ist ein wenig zu einer Gewohnheit geworden. Ich habe zu dir hochgesehen, bis das Licht bei dir ausging. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich bemerkst«, sagte er und setzte mich wieder auf dem Boden ab. »Lass uns nicht länger hier im Regen herumstehen. Kommst du mit? Zu mir nach Hause? Damit wir reden können?«
Ich nickte. Er hob meinen Regenschirm auf, hielt ihn über uns, legte mir einen Arm um die Schultern und drückte mich den ganzen Weg über fest an sich.
Als wir dann in das gedämpfte Licht der Eingangshalle traten, schaute ich mir Vincent richtig an. Was ich sah, verschlug mir die Sprache. Er war total ausgemergelt, hatte abgenommen und unter seinen tiefliegenden Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Das war mir im La Palette gar nicht aufgefallen, dort hatten mich wohl andere Dinge (wie eine umwerfend schöne, blonde Revenantfrau) beschäftigt. Doch nun, wo er so nah bei mir stand, war sein schlechter Gesundheitszustand nicht zu übersehen. »Oh, Vincent!«, stieß ich hervor und streckte meine Hand nach seiner Wange aus.
»Mir ging es nicht so gut«, erklärte er und griff nach meiner Hand, bevor sie sein Gesicht erreichte. Dann schob er unsere Hände ineinander. Diese Berührung reichte aus, dass alles in mir drin sich in eine einzige warme Masse verwandelte. »Gehen wir in mein Zimmer«, sagte er und schritt voran durch den Korridor zu seiner Tür, die offen stand.
Die Vorhänge waren aufgezogen. Vereinzelte Holzreste glühten noch im Kamin. Im Zimmer roch es ein bisschen nach Lagerfeuer. Ich blieb stehen und Vincent legte ein paar kleine Zweige nach, um das Feuer neu zu entfachen. Nachdem er auch ein paar Scheite hinzugefügt hatte, wandte er sich mir wieder zu.
»Ist dir kalt?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, ob ich wirklich friere oder ob das nur meine Nerven sind«, erwiderte ich. Ich streckte meine Hand aus, um ihm zu zeigen, wie sie zitterte. Sofort nahm er mich fest in seine Arme. »Oh, Kate«, seufzte er und küsste mich auf den Kopf.
Er nahm mein Gesicht in seine Hände, dann strömte es nur so aus ihm heraus. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich in den letzten Wochen gequält habe. Ich habe versucht, aus deinem Leben zu verschwinden. Dich loszulassen. Ich wollte, dass du ein normales Leben führen kannst, ein sicheres, geschütztes Leben, und ich war schon fast davon überzeugt gewesen, das Richtige getan zu haben, bis ich bei dir vorbeigeschaut habe.«
»Du warst bei mir? Wann?«, fragte ich.
»Das erste Mal vor einer Woche. Ich wollte sicher sein, dass mit dir alles in Ordnung ist. Ich hab dich ein paar Tage lang beobachtet, aber es sah nicht so aus, als würde es dir besser gehen. Ehrlich gesagt sah es eher nach dem Gegenteil aus. Und als Charlotte dann in einem Café ein Gespräch zwischen deiner Großmutter und Georgia mitbekam, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, dich gehen zu lassen.«
»Und, was haben sie über mich gesagt?«, fragte ich. Mein Magen krampfte sich schon mal provisorisch zusammen.
»Dass sie sich Sorgen um dich machen. Sie haben sogar das Wort ›Depression‹ benutzt. Sie haben überlegt, was sie für dich tun können. Ob Georgia wieder mit dir nach New York zurückkehren sollte.«
Als er sah, wie schockiert ich darüber war, führte er mich zu seiner Couch und setzte sich neben mich. Er knetete gedankenverloren meine Finger, während er sprach. Die Bewegung und der Druck gaben mir Halt.
»Ich habe mit Gaspard gesprochen. Er weiß so viel über uns wie Jean-Baptiste, oder vielleicht sogar mehr. Über uns Revenants. Ich habe eine Lösung gefunden, mit der wir leben könnten. Damit würde dir nicht so viel zugemutet. So könnten wir beide ein fast normales Leben führen. Möchtest du sie hören?«
Ich nickte und versuchte, die aufkeimende Hoffnung unter Kontrolle zu halten. Ich wusste ja nicht, was er mir da vorschlagen würde.
»Erst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich dir nicht von Anfang an mehr über mich erzählt habe. Aber ich wollte dich nicht mit meiner Geschichte verjagen. Das stand wie ein Hindernis zwischen uns. Deshalb möchte ich gern noch mal von vorne anfangen und dir zuerst von meiner Vergangenheit erzählen.
Wie du ja schon weißt, wurde ich 1924 geboren. In einem kleinen Ort in der Bretagne. Unser Dorf wurde recht schnell nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 besetzt. Wir haben uns nicht mal verteidigt. Zum einen fehlten uns die nötigen Waffen, zum anderen kam das viel zu plötzlich, wir hätten gar keine Verteidigung vorbereiten können.
Ich war in ein Mädchen namens Hélène verliebt. Wir waren zusammen aufgewachsen und unsere Eltern waren sehr gut befreundet. Ein Jahr war seit Beginn der Besatzung vergangen, als ich ihr einen Heiratsantrag machte. Wir waren gerade erst siebzehn, aber Alter spielte irgendwie keine Rolle in diesen unvorhersehbaren Kriegsjahren. Wir befolgten die Bitte meiner Mutter, zu warten, bis wir achtzehn waren.
Um die in unmittelbarer Nähe stationierten deutschen Besatzer bei Laune zu halten und gnädig zu stimmen, wurde von unserem Dorf erwartet, sie mit Lebensmitteln, Getränken und anderen Gütern zu versorgen. Und dann gab es noch andere, inoffizielle Dienste, die sie verlangten.«
Es war nicht zu überhören, wie wütend dies Vincent auch jetzt nach so langer Zeit noch machte. Ich blieb still, denn es musste schwer sein für ihn, über diese schmerzvollen Erinnerungen zu sprechen.
»Meine Eltern und ich waren zum Abendessen bei Hélène, als zwei betrunkene deutsche Offiziere auftauchten und Wein verlangten. Hélènes Vater erklärte ihnen, dass sie bereits ihren gesamten Weinvorrat abgegeben hätten, dass nichts mehr da wäre, das sie ihnen anbieten könnten.
›Das werden wir ja sehen!‹, sagte einer von ihnen. Sie zückten ihre Waffen und verlangten von Hélène und ihrer jüngeren Schwester, sich auszuziehen. Ihre Mutter stürmte auf die beiden Offiziere los und protestierte lautstark. Sie zögerten nicht lange und erschossen sie. Dann erschossen sie meine Mutter, die aufgesprungen war, um ihrer Freundin zur Hilfe zu eilen. Als Nächstes brachten sie meinen Vater um.
Hélènes Vater war ins Nebenzimmer gerannt, um sein Jagdgewehr zu holen, das er dort versteckt hatte. Doch bevor er überhaupt auf sie zielen konnte, nahm es ihm einer der Deutschen ab und schoss ihm ins Bein. Der andere schlug mit dem Knauf seiner Pistole nach mir, als ich mich auf ihn stürzte. Sie töteten uns nicht. Sie fesselten uns nur und zwangen uns, dabei zuzusehen, wie sie über Hélène und ihre Schwester herfielen. Hélène wehrte sich. Deshalb erschossen sie auch sie.« Vincents Stimme brach, sein Blick war hart wie Stein.
»Sie ließen uns drei zurück, damit wir die Toten begraben konnten. Ich bot Hélènes Vater an, bei ihnen zu bleiben und für sie zu sorgen, doch beide bestanden darauf, dass ich loszog und unsere Peiniger zur Strecke brachte. Noch in jener Nacht schloss ich mich dem Marquis an.«
»Dem Widerstand«, sagte ich.
Er nickte. »Dem ländlichen Zweig des Widerstands. Wir versteckten uns tagsüber in den Wäldern, um bei Nacht in die Lager der Deutschen zu schleichen und dort Waffen und Proviant zu klauen — und so viele von ihnen zu töten, wie wir konnten. Ein Kumpel und ich wurden dann bei Tag verhaftet, weil man uns verdächtigte, an einem Überfall auf ein Waffenlager beteiligt gewesen zu sein, der in der Nacht zuvor stattgefunden hatte. Ich war in diesen Überfall nicht verwickelt, aber mein Kumpel hatte ihn organisiert. Sie hatten zwar nichts gegen uns in der Hand, wollten aber, dass einer von uns dafür bezahlte. Mein Kumpel hatte eine Frau und ein Kind. Ich hatte niemanden. Also gestand ich und wurde auf dem Marktplatz öffentlich hingerichtet, als Warnung für die anderen Dorfbewohner.«
»Oh, Vincent«, entfuhr es mir und ich schlug mir entsetzt die Hände vor den Mund.
»Schon gut«, sagte er sanft, nahm meine Hände, legte sie wieder in meinen Schoß und sah mir fest in die Augen. »Ich bin ja noch da, oder etwa nicht?«
Er fuhr fort: »Über den Vorfall wurde in der Zeitung berichtet und Jean-Baptiste, der gerade bei Bekannten in der Nähe wohnte, kam in das kleine Krankenhaus, wo ich aufgebahrt lag. Er behauptete, mit mir verwandt zu sein, durfte meine Leiche mitnehmen und kümmerte sich um mich, bis ich zwei Tage später aufwachte.«
»Woher wusste er, dass du einer von ihnen bist?«
»Jean-Baptiste hat eine Gabe. Er hat so eine Art Radar, mit dessen Hilfe er erkennen kann, wo sich gerade jemand in einen Untoten verwandelt. Er kann die Aura sehen.«
»Ist das so ein esoterisches Ding?«, fragte ich skeptisch.
Vincent lachte. »Ja, so ähnlich. Er hat mal versucht, mir das zu erklären. Die Aura eines Revenants hat eine ganz andere Farbe und andere Schwingungen als die eines Menschen. Schon kurz nach ihrem ersten Tod kann Jean-Baptiste Revenants über mehrere Kilometer Entfernung erkennen. Es sieht dann so aus, als würde an der Stelle ein Laser in den Himmel strahlen. So hat er auch Ambrose ein paar Jahre später gefunden, nachdem sein amerikanisches Bataillon auf einem Schlachtfeld in Lothringen niedergemetzelt worden war. Jules ist im Ersten Weltkrieg gestorben, die Zwillinge im Zweiten und Gaspard Mitte des neunzehnten Jahrhunderts während eines Kriegs zwischen Frankreich und Österreich.«
»Gaspard war Soldat?«
Vincent lachte. »Überrascht dich das etwa?«
»Ist der nicht ein bisschen zu nervös für ein Gefecht?«
»Er war Dichter und wurde zum Kriegsdienst gezwungen. Viel zu sensibel, um mitanzusehen, was auf den Schlachtfeldern passierte.«
Ich nickte nachdenklich. »Dann seid ihr fast alle in Kriegen umgekommen?«
»In Kriegszeiten findet man am schnellsten jemanden, der anstelle eines anderen gestorben ist. Vermutlich passiert das ständig, fällt aber nicht auf.«
»Willst du mir damit sagen, dass in ganz Frankreich Leute sterben, die wiederauferstehen könnten? Unter den richtigen Voraussetzungen?« Mein Kopf schmerzte. Irgendwie überwältigte mich nach wie vor der Gedanke, dass die Welt, in der ich lebte, ganz anders war, als ich immer geglaubt hatte.
Vincent lachte wieder. »Kate, nicht nur in Frankreich. Ich möchte wetten, dass dir in New York City jede Menge Revenants begegnet sind, nur dass du natürlich nicht ahnen konntest, dass da gerade ein Zombie deinen Weg kreuzt.«
»Aber warum ausgerechnet du? Ich schätze mal, die wenigsten Feuerwehrmänner, Polizisten oder Soldaten werden nach drei Tagen wieder wach — und die retten auch Leben.«
Vincent antwortete: »Wir wissen nicht, warum manche Menschen dazu prädestiniert sind, Revenants zu werden. Jean-Baptiste meint, es liegt in den Genen. Gaspard glaubt, dass es nichts als Schicksal ist. Dass manche Menschen einfach dazu auserkoren wurden. Bisher konnte niemand belegen, woran es genau liegt.«
Ich überlegte, ob es wohl Natur oder Zauberei war, die Vincent und die anderen erschaffen hatte. Irgendwie war es schwer, die beiden auseinanderzuhalten, seit meine gewohnte Welt auf den Kopf gestellt worden war.
Vincent goss mir ein Glas Wasser ein. Ich nahm es dankbar und nippte daran, während er weitere Scheite auf das inzwischen wieder fast heruntergebrannte Feuer legte. Dann setzte er sich vor mir auf den Boden. Die Couch war so niedrig und er so groß, dass wir fast auf Augenhöhe waren, seine Augen nur ein wenig unterhalb von meinen. Er sprach nun mit Bedacht weiter, seine Worte sorgfältig wählend.
»Kate, ich hab mir Gedanken darüber gemacht, wie das mit uns klappen könnte. Ein Mal ist es mir bisher gelungen, dreiundzwanzig zu werden. Da konnte ich fünf Jahre lang dem Drang widerstehen zu sterben. Jean-Baptiste hatte mich damals gebeten durchzuhalten, um meinen Juraabschluss zu machen. Er brauchte jemanden, der sich um unsere familiären Angelegenheiten kümmern konnte. Es war nicht leicht, aber ich habe es geschafft. Er hatte diese Aufgabe für mich vorgesehen, weil er wusste, dass ich stärker bin als die anderen. Und er selbst kann diesem Verlangen schon seit über fünfunddreißig Jahren widerstehen. Ich weiß also, dass es möglich ist.«
»Die Frau, mit der du mich im La Palette gesehen hast ...« Sein Gesichtsausdruck wurde gequält.
»Ja, Geneviève. Jules hat erzählt, sie ist nur eine Freundin.«
»Ich hatte gehofft, dass du ihm glaubst. Das muss sehr eindeutig ausgesehen haben. Aber ich hatte Geneviève gebeten, sich mit mir zu treffen, weil ich mit ihr über ihr Leben sprechen wollte. Sie ist verheiratet. Mit einem Menschen.«
Mir klappte die Kinnlade runter. »Aber ... Wie?«
»Sie ist ungefähr zur gleichen Zeit gestorben wie ich, da hatte sie gerade geheiratet. Und ihr Ehemann hat überlebt. Als sie drei Tage später belebt wurde, ist sie zu ihm zurückgekehrt. Seither waren sie immer zusammen.«
»Ihr Mann muss ja schon ...«
»Er ist über achtzig.« Vincent vervollständigte meinen Gedanken.
Ich versuchte, mir vorzustellen, dass diese schöne blonde Frau mit einem Mann verheiratet war, der alt genug war, um ihr Urgroßvater zu sein. Was führte sie bloß für ein Leben?
»Sie sind noch immer verliebt wie am ersten Tag, aber das war natürlich insgesamt alles andere als leicht für die beiden«, fuhr Vincent fort. »Sie konnte den Trieb zu sterben nicht unterdrücken. Gleichzeitig wurde sie von ihrem Mann dazu ermutigt, die Aufgabe zu erfüllen, die das Schicksal ihr zugeteilt hat. Er ist sehr stolz auf sie und sie völlig vernarrt in ihn. Aber bald wird er sterben, das ist der Lauf der Dinge, und dann ist sie ganz allein. Das ist eine der Möglichkeiten, wie es gehen könnte, aber keine, die ich guten Gewissens jemandem aufbürden möchte.«
Vincent nahm meine Hände in seine. Sie waren warm und stark und schickten eine Gefühlswelle durch meinen ganzen Körper, die in meinem Herzen zusammenlief. »Kate«, sagte er sanft, »ich kann mich von dir fernhalten. Es wäre schlimm für mich, aber ich könnte es, wenn ich wüsste, dass es dir dann besser geht und du glücklich bist. Aber wenn du mit mir zusammen sein willst, kann ich dir Folgendes anbieten: Ich werde nicht sterben, solange wir ein Paar sind. Ich habe schon mit Jean-Baptiste gesprochen, es gibt sicher einen Weg, dem Drang zu widerstehen. Damit würde ich verhindern, dir ständig wieder durch meinen Tod Kummer zu bereiten. Daran, dass du drei Tage im Monat ohne mein körperliches Ich auskommen musst, kann ich nichts ändern. Aber den Rest kann ich beeinflussen. Sofern du dich entscheidest, mir eine Chance zu geben.«