Ich schaffte es bis in mein Zimmer, ohne meinen Großeltern oder Georgia zu begegnen, und verschanzte mich dort. Die Zeit schien stillzustehen, als ich mich am Fußende meines Betts zusammenrollte. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen der Gewissheit, das Richtige getan zu haben, und dem nagenden Zweifel, in nur zehn Minuten alle meine Chancen, die ich jemals auf ein glückliches Leben haben würde, vertan zu haben. Eine Chance auf Liebe.

Obwohl ich ihn noch nicht lange kannte, war ich mir sicher, dass ich mich über kurz oder lang so richtig in Vincent verlieben würde. Daran bestand kein Zweifel. Und wenn es schon so losging, wusste ich, dass dies nicht einfach nur eine belanglose Affäre werden könnte. Ich würde mein Herz verlieren. Voll und ganz. Das stand fest.

Ich empfand so viel für ihn, dass es einfach zu schmerzhaft für mich wäre, wieder und wieder zu erleben, wie er verletzt wurde, starb oder sogar endgültig getötet wurde. Er hatte zugegeben, dass es möglich war. Selbst seine Unsterblichkeit kannte Grenzen. Nachdem ich bereits meine Eltern verloren hatte, weigerte ich mich, noch jemanden zu verlieren, den ich liebte.

Mein altes Motto stand mir wieder vor Augen. »Lieber niemals lieben, als jemand Geliebtes verlieren.« Ich hatte das Richtige getan, versicherte ich mir. Aber wieso fühlte es sich dann an, als hätte ich den größten Fehler meines Lebens begangen?

Ich wickelte mich fest in meine Decke und rutschte tiefer und tiefer in mein persönliches Jammertal. Ich ließ mich vom Schmerz aufsaugen, ich verdiente es nicht anders. Ich hätte mich gar nicht erst öffnen sollen.

Ein paar Stunden später klopfte Mamie an die Tür, um mir zu sagen, dass das Essen fertig sei. Ich riss mich zusammen, damit man meiner Stimme nichts anmerkte, und rief: »Keinen Hunger, Mamie! Aber danke!« Kurz darauf ein zaghaftes Klopfen.

»Dürfen wir reinkommen?«, drang Georgias Stimme durch das Holz. Ohne auf eine Antwort zu warten, schlichen meine Großmutter und Schwester vorsichtig zu mir ins Zimmer. Sie setzten sich rechts und links von mir hin, schlangen ihre Arme um mich und warteten.

»Liegt’s an Mama und Papa?«, fragte Georgia schließlich.

»Nein, ausnahmsweise liegt es mal nicht an Mama und Papa«, haspelte ich halb lachend, »zumindest nicht nur an Mama und Papa.«

»Liegt’s an Vincent?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Hat dieser Vincent«, ich spürte, wie Mamie und Georgia einen Blick über meinen Kopf hinweg wechselten, »dir irgendwie wehgetan?«, fragte Mamie und streichelte mir dabei tröstend über den Rücken.

»Nein, nein. Es liegt an mir. Ich kann einfach nicht ...« Wie sollte ich ihnen das denn erklären? »Ich kann das einfach nicht zulassen. Wenn ich ihm zu nahekomme, riskiere ich zu viel.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Georgia mitfühlend. »Du hast Angst, dich zu verlieben. Weil du ihn dann auch verlieren könntest.«

Ich legte meinen Kopf an Mamies Schulter und seufzte. »Das ist alles viel zu kompliziert.«

Sie strich mir das Haar aus dem Gesicht und küsste mich auf die Stirn. Dann sagte sie leise: »Es ist immer kompliziert.«

Ich kaufte mir einen Stapel englischsprachiger Romane in einem internationalen Buchladen, meldete mich fürs Wochenende bei Mamie ab und zog mich in meine Höhle zurück. Sie brachte mir ein Tablett mit Wasser, Tee, Obst, Crackern und verschiedenen Käsesorten und überließ mich dann mir selbst.

Den Rest des Tages verbrachte ich in der Geschichte von jemand anderem. In den wenigen Momenten, in denen ich das Buch sinken ließ, meldete sich sofort dieser stechende Schmerz. Es fühlte sich an, als wäre ich die Zielscheibe eines Messerwerfers. Wenn es mir gelänge, meinen Verstand ganz still zu halten, würden die Messerklingen vielleicht neben mir einschlagen. Ab und zu schlief ich ein, doch sofort überfielen mich dunkle, qualvolle Träume, die sich gleich in Nichts auflösten, sobald ich die Augen aufschlug.

Manchmal blickte ich über die Schulter und erwartete fast, Vincent in einer dunklen Ecke zu entdecken. Ob er wohl herkommt, wenn er volant ist, fragte ich mich. Er könnte jetzt gerade durch mein Zimmer schweben und ich würde es nicht mal merken. Vielleicht interessierte er sich aber auch gar nicht mehr für mich. Vielleicht lebte er nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn«. Vielleicht war mein Abgang wirksam genug gewesen und er würde nie wieder versuchen, Kontakt aufzunehmen. Du wolltest es doch so, sagte ich mir selbst. Oder etwa nicht?

Sobald ich nachdenken würde, wäre alles vorbei. Also schaltete ich meinen Verstand ab und überließ meinen Körper sich selbst. Das schien zu funktionieren. Ich konnte ohne Vincent leben. Ich war unabhängig. Eigenständig. Ich war vielleicht nicht glücklich, aber ich war auch nicht unglücklich. Ich war einfach nur ... da.

Die Schule wurde wieder zur willkommenen Ablenkung. So konnte ich die Tage in immer der gleichen, gefühllosen Monotonie absitzen. Eines Tages hatte ich auf dem Heimweg in einem meiner seltenen klaren Momente eine Erkenntnis. Seit ich Vincent an der Tür hatte stehen lassen, waren nicht mal zwei Wochen vergangen. Es hatte sich angefühlt, als wäre das schon Monate her. Ich hatte mich beglückwünscht, einen Marathon hinter mich gebracht zu haben, dabei war ich gerade erst losgelaufen.

Kurz darauf verließ ich die Metrostation und erkannte in der schemenhaften Gestalt, die gegen eine Telefonzelle gelehnt dastand, eine mir bekannte Person. Charlotte. Als sie mich sah, hellten sich ihre Gesichtszüge auf. »Kate!«, rief sie, kam zu mir gehüpft und küsste mich auf beide Wangen.

»Charlotte, was für eine Überraschung!« Ich lächelte und sah mich neugierig um, ob jemand sie begleitete.

»Ich warte auf Charles. Oh, da kommt er schon«, sagte sie und sah an mir vorbei Richtung Treppe.

Charles kam auf uns zu, alle Körperteile da, wo sie hingehörten. Er wirkte gesünder denn je, hatte aber die mieseste Laune, die man sich vorstellen konnte. Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich noch mehr, als er mich erkannte. »Was will denn diese Menschenperson hier?«, fragte er.

»Entschuldige mal, ich hab einen Namen. Und um deine Frage zu beantworten: Ich wohne hier«, verteidigte ich mich. »Du bist nicht der Einzige, der an der Rue du Bac aus der Metro aussteigt.«

»Ich meinte auch eher, was du hier bei Charlotte verloren hast.«

»Wir sind uns hier begegnet. Zufällig.« Warum rechtfertige ich mich denn vor diesem unausstehlichen Halbwüchsigen, fragte ich mich, wütend über mich selbst.

»Ich dachte, dass wir dich nie Wiedersehen müssten, nachdem du Vincent abserviert hast.«

»Aber«, sagte ich und setzte ein großes, falsches Lächeln auf, »hier bin ich nun mal. Also, mach’s gut, Charlotte. Es war schön, dass wir uns gesehen haben. Ich muss weiter.«

Ich drehte mich um und stiefelte los, aber Charles rief mir etwas hinterher. »Du kannst von uns wohl nicht genug bekommen, was? Was willst du denn? Dass wir dich noch mal retten? Oder lockst du uns lieber auch in eine Falle, so wie Ambrose?«

»Was soll das denn heißen?«, schrie ich und wirbelte herum.

»Nichts, nichts. Das soll gar nichts heißen. Vergiss einfach, dass ich überhaupt was gesagt habe«, blaffte er mich an. Wütend steckte er die Hände in die Hosentaschen und stampfte davon.

Charlotte sah mich entschuldigend an.

»Was sollte das denn? Was hab ich denn gemacht?«, keuchte ich aufgebracht.

»Nichts, Kate. Du hast nichts gemacht. Mach dir keinen Kopf, das ist Charles’ eigenes Ding.«

»Warum hat er mich denn dann so angefahren?« Ich war noch immer fassungslos und konnte mich nicht bewegen vor lauter Schreck.

»Hast du Lust, dich mit mir an den Fluss zu setzen?«, fragte sie, meine Frage ignorierend. »Ich hatte gehofft, dir früher oder später über den Weg zu laufen, wir sind ja schließlich Nachbarn. Natürlich hab ich dich zwischendurch mal gesehen, aber es wäre irgendwie merkwürdig gewesen, wenn ich dir einfach hinterhergerannt wäre.«

»Jetzt sag nicht, dass du mich beobachtet hast«, meinte ich halb im Scherz.

Charlotte kommentierte das nicht, aber grinste verschlagen wie eine Katze.

»Warte mal. Heißt das, du hast mich tatsächlich beobachtet?«

»Keine Sorge, Vincent hat mich nicht drum gebeten. Wir beobachten eben einfach Leute, das gehört ja zu unserem Alltag. Und wenn man das den ganzen Tag lang macht, ist es schwer, nicht auch die Leute zu beobachten, die einen sogar interessieren.«

»Du interessierst dich für mich?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Hm, mal überlegen. Zum einen bist du das erste Mädchen, in das Vincent sich verliebt hat, seit er ein Revenant ist. Allein diese Tatsache ist schon sehr faszinierend für uns alle.«

»Ich möchte nicht über ihn sprechen«, protestierte ich.

»Also gut, dann klammern wir ihn eben vollständig aus. Versprochen.«

»Danke.«

»Zum anderen, weil du ...« Jetzt sah sie plötzlich viel jünger aus als ihr fünfzehnjähriger Körper vermuten ließ. »Ich hatte gehofft, dass wir Freundinnen werden. Bevor du gegangen bist. Es ist nicht leicht und manchmal auch einsam, immer nur von Jungs umgeben zu sein. Zum Glück ist Jeanne da, sonst wäre ich wahrscheinlich längst verrückt geworden.«

Verständnislos schaute ich sie an. »Ich kann ja schlecht losziehen und mich wahllos mit Menschen anfreunden«, erklärte sie. »Und weil du schon wusstest, was wir sind ...«

»Charlotte«, unterbrach ich sie vorsichtig. »Das freut mich wirklich total, dass du mit mir befreundet sein möchtest. Ich mag dich auch sehr. Aber diese ganze Geschichte mit Vincent nimmt mich noch so mit, dass ich Angst hätte, ihm zu begegnen, wenn wir uns treffen. Das würde ich nicht aushalten.«

Sie nickte und schaute weg, als würde sie schon auf Distanz zu mir gehen.

»Bist du nicht sowieso die meiste Zeit über mit Charles unterwegs?«, fragte ich.

»Ach, der zieht neuerdings viel allein rum«, sagte sie und versuchte, unbeschwert zu klingen. Aber es gelang ihr nicht. Ihre Stimme zitterte, als sie weitersprach. »In letzter Zeit bin ich noch öfter allein, als ich es gewohnt bin.« Ihr Versuch, dabei tapfer auszusehen, schlug ins Gegenteil um, weil sich eine Träne auf ihre Wange stahl, bevor sie sich abwenden konnte.

»Moment mal«, sagte ich, nahm ihre Hand und drehte mit der anderen ihr Gesicht wieder in meine Richtung.

Sie sah auf den Boden und wischte sich eine weitere Träne weg. »Es tut mir leid. Irgendwie war das ein bisschen viel in den letzten Wochen.«

Ich bin wohl nicht die Einzige mit Problemen, dachte ich. Mein Herz wurde weich, als ich ihre Traurigkeit sah. »Also gut, gehen wir zum Fluss.« Ihre leeren Augen blickten in meine. Ich konnte ein Lächeln auf ihren Lippen erahnen. Sie hakte sich bei mir unter und zusammen schlenderten wir die Straße entlang.

Als wir fast am Wasser waren, deutete ich auf ein Geschäft, in dem man ausgestopfte Tiere kaufen konnte. »Da bin ich oft mit meiner Mutter gewesen«, sagte ich. »Das ist wie ein Zoo, nur dass alle Tiere tot sind. Jetzt muss ich jedes Mal an meine Mutter denken, wenn ich daran vorbeigehe. Ich hab mich noch nicht wieder hineingetraut, weil ich Angst hatte, zwischen den ausgestopften Eichhörnchen einen Heulkrampf zu bekommen.«

Charlotte lachte. Darauf hatte ich gehofft. »So ging’s mir auch, nachdem meine Eltern gestorben waren. Alles hat mich an sie erinnert. Paris fühlte sich deshalb noch Jahre später an wie eine Geisterstadt«, sagte sie, während wir die Stufen zur Uferpromenade hinabliefen.

»Deine Eltern sind gestorben? Bevor du gestorben bist, meine ich?«, fragte ich. Das Loch in meinem Herzen fing wieder an zu schmerzen. Wir spazierten an unzähligen Hausbooten vorbei, die alle nebeneinander vertäut auf dem Wasser schaukelten.

Charlotte nickte. »Das war im Zweiten Weltkrieg. Zur Zeit der Besatzung. Meine Eltern betrieben heimlich eine Druckerpresse in unserer Wohnung nahe der Sorbonne. Dort hat mein Vater unterrichtet. Die Deutschen haben das herausgefunden und beide erschossen. Charles und ich waren zu dem Zeitpunkt gerade bei meiner Tante, sonst hätten sie uns sicher auch gleich umgebracht. Wir waren sehr stolz auf unsere Eltern und wollten in ihre Fußstapfen treten. Als wir von den Zusammentreibungen hörten ...« Sie hielt inne, ehe sie erklärend fortfuhr. »Die Polizei hat die Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager zusammengetrieben.« Ich nickte, um ihr zu signalisieren, dass ich ihr folgen konnte. Dann erzählte sie weiter: »Wir haben ein paar Schulfreunde und ihre Eltern in unserer Wohnung versteckt. In einem Zimmer mit einer falschen Wand. Dort hatte die Druckerpresse vorher gestanden. Wir konnten genügend Lebensmittelmarken und Kleiderkarten auftreiben, um uns alle sechs ein Jahr lang davon zu ernähren und einzukleiden. Dann ist uns ein Nachbar auf die Schliche gekommen und hat uns verraten.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Welcher Mensch macht denn so was?«, fragte ich fassungslos.

Sie zuckte mit den Schultern, hakte sich unter und zwang mich so, weiterzugehen. »Wir konnten die Familie sicher in einem anderen Versteck unterbringen, wurden aber am nächsten Tag gefasst und erschossen.«

»Ich kann mir irgendwie gar nicht vorstellen, dass das hier passiert ist. Genau hier. In Paris.«

Charlotte nickte zustimmend. »Man sagt, insgesamt seien dreißigtausend Widerstandskämpfer wie wir während der Besatzung getötet worden. Das ist zumindest die offizielle Zahl. Davon waren natürlich ein paar schuldig im Sinne der Anklage, aber viele waren unschuldig und wurden nur entführt und umgebracht, um den Widerstand ihrer Landsleute zu vergelten.«

»Das war wirklich mutig, was ihr beide da für die Familie getan habt.«

»Na, hättest du das denn nicht gemacht? Was hätten wir denn sonst tun sollen?«

Wir kamen an eine steinerne Bank und setzten uns.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich schließlich. »Ich hoffe, ich hätte auch so gehandelt. Aber es gab nur ein paar Menschen, die so mutig waren wie ihr. Vielleicht bist du deswegen Revenant geworden«, sagte ich.

»Das vermutet Jean-Baptiste auch. Er glaubt, dass das Lebenretten in uns steckt und es einfach unsere Bestimmung ist. Aber wer weiß das schon?« Sie machte eine nachdenkliche Pause. »Was ich jedoch weiß, ist, dass ich jetzt andere vor dem Schmerz bewahren kann, der mir selbst widerfahren ist, als meine Eltern gestorben sind. Das macht es ein bisschen leichter, das endlose Trauma, das unser Dasein mit sich bringt, zu ertragen.«

Ich nickte und beobachtete sie dabei, wie sie gedankenverloren an ihren Fingernägeln knibbelte. »Was ist denn mit Charles los?«, fragte ich schließlich.

»Es ist das gleiche Lied«, sagte sie. »Er kommt nicht damit klar, dass er das kleine Mädchen bei dem Bootsunfall nicht retten konnte. In den letzten Wochen war er ...« Sie überlegte wohl, wie viel sie mir verraten wollte, »ein bisschen besessen von der ganzen Sache.«

»Aber er wird doch darüber hinwegkommen, oder?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe es heute Morgen Jean-Baptiste erzählt. Er wird mal mit Charles reden.«

»Vielleicht hilft es ja«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie nicht davon überzeugt. »Können wir das Thema wechseln?«

»Ja, klar«, sagte ich und suchte etwas, worüber wir uns unterhalten konnten. »Was ist denn eigentlich so schlimm daran, mit so vielen umwerfenden Männern unter einem Dach zu wohnen? Damit meine ich jetzt nicht direkt Gaspard oder Jean-Baptiste, obwohl die vielleicht auf ihre Weise für irgendjemanden sicher auch umwerfend sind ...«, ich verstummte langsam.

Sie lachte laut los. »Nee, die sind ganz sicher nicht umwerfend«, stimmte sie mir zu. »Bei uns liegt so viel Testosteron in der Luft, dass ich mich frage, warum mir noch kein Bart gewachsen ist. Ich atme das ja ständig ein.«

Jetzt lachte ich. Wie fremd das war. So als würde ich Chinesisch sprechen. Es fühlte sich unnatürlich an, aber nicht schlecht.

Charlotte grinste mich schief an, ein bisschen stolz darüber, dass sie meinen Schutzpanzer durchbrochen hatte. »Aber mal im Ernst«, räumte sie ein. »Sie sind meine Familie geworden. Wir wohnen ja schon jahrzehntelang zusammen. Die Revenants auf dem Land müssen ständig umziehen, damit die Dorfbewohner sie nicht wiedererkennen, wenn sie gestorben sind, um jemanden zu retten. Die ziehen von einem von Jean-Baptistes Landhäusern zum andern. Die meisten von ihnen sind sogar froh darüber, aber für mich wäre das nichts. Diese Männer sind jetzt meine Familie, ich könnte sie nicht einfach verlassen.«

»Hast du je ...«, ich brach ab, weil ich mir plötzlich nicht mehr sicher war, ob die Frage nicht zu weit ging.

»Was?«, fragte Charlotte interessiert.

»Hast du einen Freund?«

Charlotte seufzte. »Das ist genauso problematisch, wie normale Freundinnen zu finden. Anfangs könnte ich sicher irgendwas erfinden, warum ich drei Tage pro Monat wie vom Erdboden verschluckt bin, aber das würde ja nicht lange ohne Erklärung funktionieren. Und wenn ich dann auch noch ein paar Tage verschwinde, sobald ich für jemanden sterbe ... Nein, das geht nicht. Und ich kann auch nicht einfach so was nebenher laufen haben wie Jules oder Ambrose. Wenn ich mich verliebe, dann richtig.«

»Hast du dich denn schon mal verliebt?«

Sie lief rot an und fixierte ihre Hände. »Ja, aber er leider nicht ... Er sich leider nicht in mich.« Sie sprach so leise, ich konnte sie fast nicht mehr verstehen.

»Warum versuchst du’s nicht mal mit einem Revenant?«

Sie lehnte sich mit einem traurigen Lächeln vor, schlang ihre Arme um ihren Körper und schaute aufs Wasser. »Es gibt nicht so viele von uns, die Auswahl ist nicht sehr groß.«

Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte, also nahm ich stattdessen ihre Hand und drückte sie aufmunternd. Sie lächelte und sagte dann: »Ich sollte langsam nach Hause gehen. Wegen Charles. Danke für das Gespräch. Ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, mal Zeit mit einem Mädchen zu verbringen.«

Mir ging es da nicht anders. Ich hatte in Paris noch keine Freunde gefunden. Und selbst wenn das bedeutete, jemanden zu treffen, der Teil von Vincents Familie war, so musste ich dennoch zugeben, dass ich Charlottes Gesellschaft mochte. »Dann wiederholen wir das bald«, versprach ich.

Wenn du mit Charlotte befreundet bist, heißt das zwangsläufig, dass du Vincent begegnen wirst, meldete sich die nervige, leise Stimme in meinem Kopf. Ach, halt die Klappe, herrschte ich sie an und fragte mich, ob der Schmerz in meinem Herzen je nachlassen würde. Das muss er einfach, beschloss ich. Je mehr Zeit ich ohne Vincent verbrachte, desto besser würde es mir gehen. Da war ich mir sicher.