Etwas raschelte leise am Fußende meines Bettes. Ich bemühte mich, ein Auge zu öffnen, und während ich langsam aus einem Traum auftauchte, erkannte ich meine Schwester, die auf meiner Matratze saß. Sie wirkte viel zu überdreht für diese frühe Uhrzeit — oder war es noch Abend? Sie hob eine Augenbraue und sagte: »Ich will alles wissen!« Dann riss sie mir die Bettdecke weg, die ich mir gerade über den Kopf gezogen hatte, und schlug einen strengen Ton an: »Wenn du mir nicht alles erzählst, verbiete ich dir, ihn wiederzusehen.«

Seufzend rieb ich mir die Augen und stützte mich auf die Ellbogen. »Wie spät ist es?«, gähnte ich. Georgia war schon komplett angezogen.

»Du hast noch genau fünfzehn Minuten, bis wir losmüssen. Ich hab dich ausschlafen lassen.«

Ich warf einen schnellen Blick auf meine Uhr. Es stimmte. Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich aus dem Bett und hüpfte durch das Zimmer. Ich schnappte mir einen BH und eine Unterhose aus der Kommode und wühlte mich durch einen Stapel frischer Wäsche, die zusammengelegt auf einem Stuhl lag. »Weil du gestern so spät nach Hause gekommen bist, dachte ich, brauchst du vielleicht jede Extraminute Schlaf, die du kriegen kannst«, flötete sie.

»Vielen Dank, Georgia«, ächzte ich, zwängte mich in ein sauberes rotes T-Shirt und durchstöberte meinen Schrank auf der Suche nach einer Jeans. Dann blitzte plötzlich die Erinnerung an die letzte Nacht in meinem Gedächtnis auf und ich musste mich erst mal aufs Bett setzen. »Mein Gott«, sagte ich. Meine Lippen verzogen sich wie von selbst zu einem verträumten Lächeln, das alles verriet.

»Was ist passiert? Habt ihr euch geküsst?«

Meine glühenden Wangen machten eine Antwort überflüssig. Meine Schwester sprang auf und rief: »Jetzt reicht’s, ich will ihn kennenlernen!«

»Hör schon auf, Georgia. Das ist mir peinlich. Lass mich doch erst mal herausfinden, ob ich ihn überhaupt mag«, sagte ich, steckte meine Füße in die Hose und stand auf, um die enge Jeans hochzuziehen.

»Hatten wir das Thema nicht schon mal?«, warf meine Schwester ein, fasste mich an beiden Schultern und sah mir prüfend ins Gesicht. »Es tut mir sehr leid, Katie-Bean, aber ich muss dich darauf hinweisen, dass das längst geschehen ist.« Sie stampfte lachend und klatschend aus meinem Zimmer, während ich mich beeilte, endlich fertig zu werden.

»Wie schön, dass ich zu deiner morgendlichen Unterhaltung beitragen konnte«, grummelte ich und band im Eiltempo meine Schuhe zu.

Der Tag verflog nur so. In jeder Schulstunde träumte ich von letzter Nacht. Das alles war einfach zu schön, um wahr zu sein. Vincent, der mir am Flussufer seine Gefühle gestand, das Essen bei Kerzenschein und ... Mein Herz setzte immer wieder aus, wenn ich mir den Kuss auf dem Pont des Arts ins Gedächtnis rief. Und auch den anderen Kuss, den er mir gegeben hatte, als er mich vor der Haustür absetzte. Dieser Kuss war kürzer, aber überwältigend zärtlich gewesen.

Die grenzenlose Zuneigung, die ich in seinen Augen gesehen hatte, als er mich in die Arme nahm, wühlte mich auf. Ich wusste nicht, ob ich mich davon ängstigen lassen oder sie erwidern sollte. Nein, erwidern konnte ich sie nicht. So viel war sicher. Ich war noch nicht bereit dazu, meine Deckung aufzugeben.

Mittags schaltete ich mein Handy ein, um nachzuschauen, ob mir jemand geschrieben hatte. Von Georgia war ich es gewohnt, dass sie mir täglich ein paar total bekloppte Nachrichten schickte. Und tatsächlich hatte ich zwei SMS von ihr bekommen. In der ersten beklagte sie sich über ihren Physiklehrer. In der zweiten stand — und sie stammte eindeutig von ihrem Telefon:

Ich liebe dich, Baby. V.

Ich antwortete:

Hab ich mich gestern Nacht nicht klar genug ausgedrückt, du gruseliger französischer Stalker?
Du sollst abzischen.

Sie textete sofort zurück:

Von wegen! Deine knallroten Wangen haben heute Morgen aber eine andere Sprache gesprochen, du Lügnerin! Du stehst doch voll auf ihn.

Ich stöhnte laut und wollte gerade mein Telefon ausschalten, als ich eine dritte Nachricht entdeckte.

UNBEKANNT.

Ich öffnete sie und las:

Darf ich dich heute wieder abholen? Gleicher Ort, gleiche Zeit?

Ich schrieb zurück:

Woher hast du meine Nummer?

Wenig später kam die Antwort:

Hab mich selbst mit deinem Handy angerufen, als du gestern im Restaurant auf dem Klo warst.
Hab dich gewarnt, wir sind Stalker!

Ich lachte und dankte meinen Glückssternen dafür, dass Revenants nicht Gedankenlesen konnten. Dennoch musste ich ein bisschen auf der Hut sein an den Tagen, an denen er als Geist durch die Stadt schwebte.

3x Ja, bis später, schrieb ich zurück. Für den Rest des Tages gab ich es entgültig auf, so zu tun, als würde ich im Unterricht aufpassen.

Er wartete schon auf mich, als ich das Schulgelände verließ. Mein Herz schlug schneller, als ich ihn lässig an einen Baum gelehnt in der Nähe der Bushaltestelle stehen sah. Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht stahl.

»Hallo, schönes Fräulein«, sagte er und reichte mir einen Helm, als ich nah genug war. Er nahm die Sonnenbrille ab und gab mir einen Kuss auf jede Wange. Diese kleine Geste, die sich in Frankreich an einem Tag über ein Dutzend Mal wiederholt — nämlich jedes Mal, wenn man jemandem Hallo oder Tschüss sagt —, diese zwei kleinen Küsschen bekamen für mich plötzlich eine ganz andere Bedeutung.

Wie in Zeitlupe berührte mich Vincents Wange und sofort vergaßen meine Lungenflügel, ihre Arbeit zu tun. Er löste sich kurz von mir, so weit, dass wir uns in die Augen sehen konnten, dann lehnte er sich wieder vor und streifte sanft mit seinen Lippen über meine andere Wange. Ich öffnete meinen Mund, um einzuatmen. Ein verzweifelter Versuch, mein Gehirn wieder mit Sauerstoff zu versorgen.

»Hm«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Interessant.« Sein Lächeln war ansteckend und gut gelaunt nahm ich ihm den Helm aus den Händen und stülpte ihn über, dankbar für die Gelegenheit, mein Gesicht kurz verbergen zu können, bis ich mich wieder gefangen hatte.

»Weil es heute so ungewöhnlich kalt ist, wollte ich dich fragen, ob du Lust hast auf die beste heiße Schokolade von ganz Paris«, sagte er, als er sich auf die Vespa schwang.

»Heute versuchst du also, Schulmädchen mit Schokolade zu verführen? Du bist ein schlechter Mensch, Vincent Delacroix«, lachte ich, während er den Motor anließ.

»Was sagt es dann über dich aus, dass du dich drauf einlässt?«, fragte er, während er losfuhr.

»Dass ich wahnsinnig leichtgläubig bin — und das auch noch aus freien Stücken«, erwiderte ich, legte meine Arme um seinen warmen Körper und schloss die Augen.