Ich war so aufgewühlt, dass ich erst mal dort bleiben musste. Nachdem die Mitarbeiter des Cafés ihren halben Erste-Hilfe-Kasten an mir verbraucht hatten, bestand ich darauf, allein nach Hause zu gehen und schwankte los, meine Beine weich wie Gummibänder. Mamie trat gerade aus dem Haus, als ich ankam.

»Oh, meine kleine Katya«, kreischte sie, nachdem ich ihr erzählt hatte, was passiert war. Sie ließ ihre Hermes-Tasche auf den Boden fallen, um mich fest in die Arme zu nehmen. Dann hob sie unsere Sachen auf und brachte mich ins Haus. Sie steckte mich ins Bett und behandelte mich wie eine Querschnittsgelähmte — dabei hatte ihre Enkelin doch nur ein paar Schürfwunden abbekommen.

»Bist du dir ganz sicher, dass du bequem liegst, Katya? Ich kann dir noch mehr Kissen bringen, wenn du möchtest.«

»Mamie, das ist wirklich nicht nötig.«

»Tut dein Knie weh? Ich könnte noch eine andere Salbe holen. Und vielleicht solltest du das Bein hochlegen.«

»Mamie, die Leute vom Café haben mich mit allem Möglichen aus ihrem Erste-Hilfe-Kasten verarztet. Ist doch nur ein Kratzer.«

»Oh, meine kleine Maus. Wenn ich mir vorstelle, was alles hätte passieren können.« Sie drückte meinen Kopf an ihre Brust und streichelte über meine Haare, bis sich etwas in mir löste und ich anfing zu weinen.

Mamie summte tröstend und hielt mich fest, während ich heulte. »Ich weine nur, weil ich einen Schock habe«, beteuerte ich durch meine Tränen, aber die Wahrheit war, dass sie mich genau so tröstete, wie meine Mutter mich immer getröstet hatte.

Als Georgia nach Hause kam, hörte ich, wie Mamie ihr von meiner »Nahtoderfahrung« erzählte. Meine Tür öffnete sich kurz darauf und meine Schwester stürmte herein, ihr Gesicht weiß wie die Wand. Sie setzte sich stumm an mein Bett und starrte mich mit aufgerissenen Augen an.

»Mach dir keine Sorgen, Georgia. Ich hab nur eine Schürfwunde.«

»Mein Gott, Katie-Bean, wenn dir was passiert wäre ... Du bist doch alles, was ich noch habe. Merk dir das.«

»Mir geht’s gut. Und mir wird schon nichts passieren. Ich halte mich künftig von Häusern fern, die auseinanderfallen. Versprochen.«

Sie rang sich ein Lächeln ab und nahm meine Hand, doch der gehetzte Ausdruck auf ihrem Gesicht blieb.

Am nächsten Tag verbot Mamie mir, das Haus zu verlassen und bestand darauf, dass ich mich ausruhte und mich »von meinen Verletzungen erholte«. Ich gehorchte, um sie bei Laune zu halten, und verbrachte den halben Tag lesend in der Badewanne, wobei ich das verletzte Bein über den Wannenrand baumeln ließ. Erst als ich im warmen Wasser saß und mich in dem Buch verlieren wollte, überwältigten mich meine Gefühle und ich fing an zu zittern wie Espenlaub. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr mich der Beinaheunfall erschreckt hatte, bis ich zum wiederholten Male siedend heißes Wasser nachlaufen ließ, um mich zu beruhigen. Schließlich schlief ich in den kleinen Dampfschwaden, die aufstiegen, ein.

Als ich am nächsten Tag an dem Café vorbeikam, war es geschlossen und der Bürgersteig um das gesamte Gebäude herum mit rotweißem Polizeiabsperrband gesichert. Arbeiter in blauen Overalls errichteten ein Gerüst, damit Handwerker die Fassade ausbessern konnten. Ich musste mir gezwungenermaßen ein neues Café suchen, um unter freiem Himmel meine Bücher lesen zu können. Enttäuschung durchfuhr mich, als mir bewusst wurde, dass dies der einzige Ort war, an dem ich überhaupt die Chance hatte, demjenigen zu begegnen, von dem ich neuerdings wie besessen war. Wer wusste schon, wie lange ich warten musste, bis ich Vincent Wiedersehen würde?

Meine Mutter hatte mich schon in Museen mitgenommen, als ich noch ganz klein war. Wenn wir in Paris waren, zogen Mama, Mamie und ich frühmorgens los, um uns »eine kleine Portion Schönheit zu genehmigen«, wie meine Mutter es nannte. Georgia, die sich schon beim ersten Gemälde langweilte, blieb lieber bei meinem Vater und Großvater, die ihre Zeit in Cafés verbrachten und mit Freunden, Geschäftspartnern und jedem anderen, der vorbeikam, plauderten. Wir drei, Mamie, Mama und ich, durchkämmten alle Museen und Galerien von Paris.

Deshalb war es keine große Überraschung, dass Georgia mich mit einem »Schon andere Pläne!« abspeiste, als ich sie ein paar Tage später fragte, ob sie mich in ein Museum begleiten wolle. »Ständig beklagst du dich, dass ich nie was mit dir unternehme, Georgia. Das war mal ein ernst gemeinter Vorschlag.«

»Ja, ungefähr so ernst gemeint, als würde ich dich zu einem Monster-Truck-Rennen einladen. Frag mich gern wieder, wenn du etwas vorhast, das wirklich interessant ist.« Um ihren guten Willen zu unterstreichen, drückte sie freundschaftlich meinen Arm, bevor sie mir ihre Zimmertür fast ins Gesicht fallen ließ. Touché.

Ich machte mich allein auf den Weg ins Marais, einen Stadtteil am anderen Ende von Paris. Ich folgte den winzigen mittelalterlichen Straßen, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängelten, bis ich endlich mein Ziel erreicht hatte: das palastähnliche Gebäude, in dem sich das Musée Picasso befand.

Abgesehen von der Welt, in die mich Bücher entführen konnten, verlor ich mich fast genauso gern in den stillen Weiten eines Museums. Mama hatte immer gesagt, ich wäre im Grunde meines Herzens ein Wirklichkeitsflüchtling ... dass mir erdachte Welten lieber wären als die echte. Es stimmte, schon von Kindesbeinen an konnte ich mich aus dieser Welt zurückziehen und in eine andere eintauchen. Und nun war ich reif für eine entspannende Dosis Kunsthypnose.

Als ich durch den gewaltigen Eingang die sterilen weißen Räume des Musée Picasso betrat, spürte ich, wie mein Herzschlag sich verlangsamte. Die Wärme und Ruhe dieses Ortes umgab mich wie eine weiche Decke. Wie gewöhnlich streifte ich herum, bis ein Gemälde meine Aufmerksamkeit auf sich zog, und dann ließ ich mich auf der Bank davor nieder.

Meine Haut saugte die Farben in sich auf. Die verschnörkelten, gewundenen Formen bildeten auf der Leinwand ab, wie es in mir aussah. Meine Atmung verlangsamte sich mehr und mehr, während meine Gedanken mich allmählich davontrugen. Die anderen Gemälde in diesem Raum, der Wachmann am Eingang, der Geruch von frischer Farbe, ja selbst die vorübergehenden Touristen verblassten zu einem einheitlichen grauen Hintergrund, der dieses eine Rechteck aus Farbe und Licht umrahmte.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort saß, bevor mein Verstand nach und nach aus diesem selbst verursachten Trancezustand zurückkehrte und ich leise Stimmen hinter mir vernahm.

»Komm mal hierher und sieh dir diese Farben an.«

Eine lange Pause. »Welche Farben?«

»Genau. Das hab ich dir doch letztens erzählt. In nur vier Jahren lässt er die hellen, kräftigen Töne eines Les Demoiselles d’Avignon hinter sich und geht zu diesen monotonen graubraunen Puzzles über. Was für ein Angeber! Pablo musste immer der Beste sein, egal was er auch anfasste. Letztens habe ich noch zu Gaspard gesagt, was mich richtig ankotzt ...«

Ich drehte mich neugierig um, wollte wissen, aus wem dieses geballte Wissen heraussprudelte, und erstarrte. Höchstens vier Meter entfernt von mir stand einer von Vincents Freunden, und zwar der mit den Locken.

Erst jetzt, als ich ihn so direkt vor mir sah, erkannte ich, wie attraktiv er war. Er hatte etwas Wildes an sich — zerzauste, ungepflegte Haare, ein leichter Stoppelbart und große, raue Hände, mit denen er leidenschaftlich gestikulierte. Vom Zustand seiner Hose, die mit Farbe beschmiert war, schloss ich darauf, dass er selbst Künstler war.

All diese Gedanken schossen mir im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf, denn schon im nächsten Moment hatte ich für nichts und niemand anderes mehr Augen als für den Menschen neben ihm. Den hübschen Jungen mit dem rabenschwarzen Haar. Den Jungen, der selbst noch in der hintersten Ecke meines Gehirns lauerte, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Vincent.

Warum musste ich mich ausgerechnet in den unmöglichsten, unerreichbarsten Jungen von ganz Paris verknallen? Er war viel zu schön — und unnahbar —, um mich jemals zu bemerken. Ich musste meinen Blick fast gewaltsam von ihm lösen, lehnte mich vor und legte mein Gesicht in meine Hände. Es half nichts. Vincents Bild war unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt.

Was immer es war, das ihn auf bestimmte Art kühl, ja fast gefährlich wirken ließ, verstärkte mein Interesse an ihm nur noch, anstatt mich abzuschrecken. Was war bloß los mit mir? Normalerweise stand ich nicht auf die schlimmen Jungs — das war eher Georgias Spezialität. Mein Bauch krampfte sich zusammen, als ich mir überlegte, ob ich wohl den Mut hätte, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen.

Aber ich konnte nicht mal einen Versuch starten, denn als ich irgendwann meinen Kopf hob, waren sie verschwunden. Schnell lief ich zum nächsten Raum und lugte hinein. Er war leer. Und dann wäre ich fast tot umgefallen, weil plötzlich eine Stimme leise hinter mir »Hallo, Kate« sagte.

Vincents Gesicht tauchte gute fünfzehn Zentimeter über meinem auf. Meine Hand flog vor Schreck auf meinen Brustkorb. »Danke für den Herzinfarkt«, keuchte ich.

»Ist das eine Masche von dir, deine Tasche irgendwo liegen zu lassen, damit man einen Aufhänger für eine Unterhaltung hat?« Er grinste und nickte zu der Bank, auf der ich eben noch gesessen hatte. Darunter lag meine Tasche. »Wäre es nicht wesentlich unkomplizierter, einfach zu jemandem hinzugehen und Hallo zu sagen?«

Sein leicht spöttischer Ton verscheuchte meine Nervosität. An ihre Stelle trat eine heftige Gereiztheit, die uns beide überraschte. »Gut! Hallo«, knurrte ich, meine Kehle eng vor Wut. Ich marschierte zu der Bank, schnappte mir meine Tasche und stolzierte hinaus.

»Warte!«, rief er, lief hinter mir her und versuchte, mit mir Schritt zu halten. »So hatte ich das doch nicht gemeint. Ich wollte ...«

Ich blieb stehen und starrte ihn an. Wartend.

»Es tut mir leid«, sagte er und atmete hörbar aus. »Ich war noch nie bekannt für meine Unterhaltungskünste.«

»Warum versuchst du es dann überhaupt?«, fragte ich ihn und schlug einen herausfordernden Ton an.

»Weil ... Du bist — keine Ahnung — amüsant.«

»Amüsant?« Ich betonte jede einzelne Silbe und bedachte ihn mit meinem Du-spinnst-wohl-total-Blick. Meine geballten Fäuste stemmten sich wie von selbst in meine Hüften. »Erklär mir mal eins, Vincent. Hast du mich mit der ausdrücklichen Absicht angesprochen, mich zu beleidigen oder wolltest du noch etwas anderes?«

Vincent fasste sich mit der Hand an die Stirn. »Hör mal, es tut mir leid. Ich bin ein Vollidiot. Können wir ... Können wir noch mal von vorn anfangen?«

»Womit von vorn anfangen?«, fragte ich zweifelnd.

Er zögerte einen Augenblick und hielt mir dann seine Hand hin. »Hallo. Ich bin Vincent.«

Meine Augen wurden schmal, während ich fieberhaft überlegte, wie ernst er das meinte. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie etwas energischer, als ich beabsichtigt hatte. »Ich bin Kate.«

»Schön, dich kennenzulernen, Kate«, sagte Vincent leicht irritiert. Eine viersekündige Pause entstand, in der ich ihn unentwegt zornig anstarrte. »Also, kommst du oft hierher?«, murmelte er unsicher.

Ich lachte laut los, ich konnte einfach nicht anders. Er lächelte erleichtert.

»Ja, ehrlich gesagt schon. Ich steh total auf Museen, nicht nur auf Picasso.«

»Du stehst darauf?«

Vincents Englisch war so gut, man konnte schnell vergessen, dass es nicht seine Muttersprache war. »Das heißt, ich mag sie. Sehr sogar.«

»Gut, ich hab verstanden. Du magst Museen im Allgemeinen, nicht nur dieses hier. Und ... Hierher kommst du nur, wenn du meditieren willst?«

Ich lächelte und rechnete es ihm innerlich hoch an, dass er sich solche Mühe gab.

»Wo ist denn dein Freund hin?«, fragte ich.

»Er ist gegangen. Jules lernt nicht gern neue Leute kennen.«

»Wie charmant.«

»Und wo kommst du her? Warte, lass mich raten. Großbritannien? Amerika?«, wechselte er das Thema.

»Amerika«, antwortete ich.

»Und das Mädchen, mit dem du manchmal unterwegs bist, ist deine ...«

»Schwester«, sagte ich. »Hast du mir nachspioniert?«

»Wenn zwei hübsche Mädels in meine Nachbarschaft ziehen — was bleibt mir da anderes übrig?«

Eine Begeisterungswelle durchflutete mich bei diesen Worten. Er fand mich also hübsch. Aber er fand auch Georgia hübsch, meldete sich mein Verstand. Die Welle versandete.

»Das Museumscafé hat eine Espressomaschine. Wie wär’s, wenn wir einen Kaffee trinken, während du mir erzählst, auf was du sonst noch so stehst?« Er berührte mich am Arm. Schon brandete die Welle wieder auf.

Wir saßen an einem winzigen Tischchen vor zwei dampfenden Cappuccinos. »Nachdem ich nun einem Wildfremden schon meinen Namen und meine Nationalität preisgegeben habe, was willst du sonst noch wissen?«, fragte ich.

»Oh, keine Ahnung ... Schuhgröße, Lieblingsfilm, sportliches Talent, peinlichster Moment, schieß los.«

Ich lachte. »Äh, Schuhgröße 41, Frühstück bei Tiffany, absolut gar kein sportliches Talent und viel zu viele peinliche Momente. Die kann ich gar nicht alle aufzählen, bevor das Museum schließt.«

»Das war’s? Mehr verrätst du mir nicht?«

Meine Abwehrhaltung schmolz dahin, weil er so überraschend charmant war — und ausgesprochen ungefährlich wirkte. Vincent ermutigte mich dazu, von meinem früheren Leben in Brooklyn zu erzählen. Von meinen Eltern und Georgia. Von unseren Sommern in Paris, von meinen Freunden zu Hause, zu denen ich mittlerweile keinen Kontakt mehr hatte. Von meiner grenzenlosen Liebe für die Kunst und meiner Verzweiflung, als ich feststellen musste, dass ich keinerlei Talent hatte, mich selbst kreativ zu betätigen.

Er löcherte mich weiter und ohne es eigentlich zu wollen, sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihm alles, angefangen bei Bands, über Essen, Filme und Bücher — jedes erdenkliche Thema, das man sich nur vorstellen kann, kam zur Sprache. Im Gegensatz zu den Jungs, die ich von zu Hause kannte, schien ihn das tatsächlich ernsthaft zu interessieren, und zwar bis ins letzte Detail.

Dass meine Eltern tot waren, erwähnte ich nicht. Ich sprach in der Gegenwart von ihnen und erklärte ihm, dass meine Schwester und ich bei meinen Großeltern wohnen würden, weil wir in Frankreich zur Schule gehen wollten. Das war ja auch nicht komplett gelogen. Aber mir war einfach nicht danach, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Ich wollte kein Mitleid von ihm. Und ich wollte wie ein ganz normales Mädchen wirken, das nicht die letzten sieben Monate in einer Welt voller Trauer zugebracht hatte.

Seine Fragen kamen Schlag auf Schlag, ich bekam gar keine Gelegenheit, selbst eine zu stellen. Als wir irgendwann aufbrachen, hielt ich ihm das vor. »Jetzt liege ich vor dir wie ein offenes Buch — du weißt fast alles über mich, aber ich weiß gar nichts über dich.«

»Das ist Teil meines perfiden Plans.« Er lächelte und hinter uns schloss der Museumswärter die Tür ab. »Wie sonst könnte ich mir sicher sein, dass du dich auf ein weiteres Treffen mit mir einlässt, wenn ich schon bei unserem ersten Gespräch alle Karten auf den Tisch lege?«

»Das war nicht unser erstes Gespräch«, berichtigte ich ihn und versuchte, gelassen zu wirken angesichts der Tatsache, dass er mich um eine weitere Verabredung gebeten hatte.

»Unser erstes Gespräch, in dem ich dich nicht unbeabsichtigt beleidigt habe«, formulierte er seinen Satz neu.

Wir durchquerten den Museumspark und steuerten auf die Spiegelbecken zu, wo schreiende Kinder ausgelassen planschten und sich freuten, dass es um sechs Uhr abends noch so schön sonnig und warm war.

Vincent ging neben mir her, leicht nach vorne gebeugt, die Hände in den Taschen vergraben. Zum ersten Mal spürte ich in ihm ein Fünkchen Verletzlichkeit. Das war meine Gelegenheit. »Ich weiß nicht mal, wie alt du bist.«

»Neunzehn«, sagte er.

»Was machst du beruflich?«

»Ich studiere.«

»Ach, wirklich? Dein Freund meinte, du wärst Polizist.« Ich konnte mir einen sarkastischen Unterton nicht verkneifen.

»Wie bitte?«, stieß er hervor und blieb abrupt stehen.

»Meine Schwester und ich haben gesehen, wie du das Mädchen gerettet hast.«

Vincent sah mich verständnislos an.

»Das Mädchen, das von der Pont du Carrousel gesprungen ist, während in dem Tunnel unter der Brücke irgendwelche verfeindete Banden aufeinander losgegangen sind. Dein Freund hat uns von dort weggeführt und gesagt, dass dort ein Polizeieinsatz stattfände.«

»Oh, das hat er gesagt?«, murmelte Vincent. Sein Gesicht nahm den harten Ausdruck an, der mir schon häufiger aufgefallen war. Er schob seine Hände tiefer in die Taschen und ging weiter. Wir näherten uns der Metrostation. Ich wurde langsamer, um etwas Zeit zu schinden.

»Seid ihr verdeckte Ermittler?« Ich glaubte selbst nicht daran, gab mir aber Mühe, aufrichtig zu klingen. Sein plötzlicher Stimmungswandel hatte mich neugierig gemacht.

»So was Ähnliches.«

»Also so eine Art Sondereinsatzkommando?«

Er antwortete nicht.

»Das war wirklich mutig, dieser Sprung in die Seine.« Ich ließ nicht locker. »Hatte das Mädchen denn irgendwas mit dem Bandenstreit unter der Brücke zu tun?«, bohrte ich weiter.

»Darüber darf ich nicht sprechen«, sagte Vincent, den Beton zu seinen Füßen nicht aus den Augen lassend.

»Ja, klar. Sicher«, sagte ich gespielt unbedarft. »Bist du nicht ein bisschen zu jung für einen Polizisten?« Ich konnte das spöttische Grinsen auf meinen Lippen nicht verhindern.

»Ich hab doch gesagt, dass ich studiere«, wiederholte er und grinste mich unsicher an. Er wusste, dass ich ihm das nicht abkaufte.

»Ich verstehe schon. Also gut«, sagte ich dramatisch, »ich hab nichts gesehen. Ich hab nichts gehört.«

Vincent lachte, seine gute Laune kehrte zurück. »Kate, was machst du kommendes Wochenende?«

»Äh ... Ich hab noch nichts vor«, sagte ich und verfluchte insgeheim meine Wangen dafür, dass sie langsam rot wurden.

»Wollen wir was zusammen machen?«, fragte er mit einem so umwerfenden Lächeln, dass mein Herz für einen Moment zu schlagen vergaß.

Ich nickte, denn sprechen konnte ich beim besten Willen nicht.

Weil er mein Schweigen als Zögern deutete, fügte er schnell hinzu: »Also, jetzt kein offizielles Rendezvous oder so was. Nur ein bisschen abhängen. Wir könnten ... ein bisschen spazieren gehen. Zum Beispiel im Marais.«

Ich nickte noch einmal und brachte dann die folgenden Worte raus: »Das wär toll.«

»Gut, was hältst du von Samstagnachmittag? Bei Tageslicht. In der Öffentlichkeit. Eine absolut sichere Sache, selbst mit einem Typen, den du kaum kennst.« Er nahm seine Hände hoch, wie um zu beweisen, dass er nichts zu verbergen hatte.

Ich lachte. »Keine Sorge. Selbst wenn du zum SEK gehörst, hab ich keine Angst vor dir.« Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, wurde mir bewusst, dass ich genau das hatte: Angst. Zwar nur ein kleines bisschen, aber ich fragte mich, ob es das war, was mich zu ihm hinzog. Vielleicht hatte der Tod meiner Eltern meinen Selbsterhaltungstrieb nachhaltig gestört und nun lockte mich die Gefahr. Oder aber ich war dieser diffusen Aura von undurchdringbarer Distanziertheit verfallen, die er verströmte. Vielleicht sah ich auch eine Herausforderung in ihm. Was auch immer der Grund war, er hatte Erfolg. Ich mochte Vincent wirklich. Und ich wollte ihn Wiedersehen. Tagsüber, nachts, ganz egal. Ich würde da sein.

Er hob eine Augenbraue und kicherte. »Keine Angst vor mir. Wie ... amüsant.« Ich musste mitlachen, ich konnte nicht anders.

Er nickte in die entgegengesetzte Richtung und sagte: »Jules wartet sicher auf mich. Wir sehen uns dann also am Samstag. Treffen wir uns um drei vor der Metrostation Rue du Bac?«

»Samstag, drei Uhr«, bestätigte ich, dann drehte er sich um und ging weg. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass auf dem gesamten Heimweg meine Füße den Boden nicht berührten.