»Würdest du mir bitte folgen?« Jules’ Gesichtsausdruck war hart. Als er begriff, dass ich mich nicht bewegen konnte, packte er mich am Arm und führte mich zur Tür.

»Aber Jules«, sagte ich. Mein Schock hatte zumindest so weit nachgelassen, dass ich sprechen konnte: »Vincent ist tot!«

Jules drehte sich zu mir um und starrte mich ausdruckslos an. Ich musste ausgesehen haben wie eine Traumapatientin. Zumindest hörte ich mich wie eine an, meine Stimme zitterte unkontrolliert.

»Nein, ist er nicht. Ihm geht’s gut.« Er zog mich weiter in den Flur. Ich riss mich los.

»Hör mir doch mal zu, Jules«, sagte ich und klang allmählich hysterisch. »Ich hab ihn berührt. Er fühlt sich ganz kalt und hart an. Er ist tot!«

»Kate«, er klang fast gereizt. »Ich kann dir das gerade nicht erklären. Du musst einfach erst mal mitkommen.« Er umfasste sanft mein Handgelenk und ging mit mir den Flur entlang.

»Wohin gehen wir?«

»Wo soll ich sie hinbringen?«, fragte er halblaut, aber nicht nachdenklich, so wie es sich anhört, wenn sich jemand selbst eine Frage stellt, zu der er die Antwort schon kennt. Er klang vielmehr, als wüsste er die Antwort nicht und hoffte, dass ihm jemand anders weiterhelfen würde.

Meine Augen weiteten sich. Jules war verrückt. Vielleicht hatte er von dem Unfall einen Hirnschaden davongetragen, dachte ich. Vielleicht war er nicht nur verrückt, sondern auch noch gefährlich, hatte Vincent getötet und auf sein Bett gelegt. Jetzt hatte er möglicherweise das Gleiche mit mir vor und wusste nur noch nicht, wo er mich erledigen sollte. Meine Gedanken waren außer Kontrolle; Horrorszenen liefen vor meinem inneren Auge ab. Panisch versuchte ich, mich aus seinem Griff zu befreien, aber er hielt mich nur noch fester.

»Ich bringe dich in Charlottes Zimmer«, antwortete er sich selbst.

»Wer ist Charlotte?«, meine Stimme bebte.

»Ich will ihr überhaupt keine Angst einjagen!«, sagte Jules und blieb stehen. Er sah mich an und wirkte außer sich. »Pass auf, Kate. Ich weiß, dass das da drin für dich ein Schock gewesen sein muss, aber das hast du dir selbst eingebrockt. Dass du in das Zimmer gegangen bist, ist nicht meine Schuld. Ich bring dich jetzt woandershin, damit du dich dort beruhigen kannst. Und keine Angst, ich werde dir nichts tun.«

»Ich darf nicht einfach gehen?«

»Nein.«

Eine Träne stahl sich aus meinem Auge und lief meine Wange hinunter. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich war zu verwirrt und ängstlich, um mich zu beruhigen. Und viel zu entsetzt über mich selbst, dass ich weinte — so wollte ich ihm nicht gegenüberstehen. Ich wollte nicht schwach oder zerbrechlich wirken und starrte deshalb einfach auf den Boden.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte er und ließ meine Hand los. »Kate? Kate?« Seine ruppige Art wich einer plötzlichen Milde. »Kate.«

Unsere Blicke trafen sich, während ich mit zitternden Fingern die Tränen wegwischte.

»Oh, nein, ich hab dir total Angst eingejagt«, sagte er und sah mich das erste Mal richtig an. Er trat einen Schritt zurück. »Ich hab mich völlig falsch verhalten. Ich bin so ein Idiot.«

Sei vorsichtig, sagte ich mir selbst, vielleicht spielt er das jetzt nur. Trotzdem kommt er ziemlich glaubwürdig rüber, so als hätte er wirklich ein schlechtes Gewissen.

»Gut, ich will's dir erklären.« Er zögerte. »Zumindest soweit ich kann. Ich werde dir nichts tun. Das schwöre ich dir, Kate. Und ich verspreche dir, dass Vincent wieder auf die Beine kommt. Es ist alles nicht so, wie’s aussieht. Aber ich muss erst mit den anderen sprechen — den anderen, die hier wohnen —, bevor ich dich gehen lassen kann.«

Ich nickte. Jules verhielt sich wesentlich vernünftiger als noch vor ein paar Minuten. Er sah so reumütig aus, dass ich ihn fast (aber auch nur fast) bedauernswert fand. Selbst wenn ich versuchen würde, abzuhauen, dachte ich, würde das Sicherheitstor meine Flucht vorzeitig beenden.

Er streckte seine Hand nach mir aus, diesmal sehr vorsichtig, so als wollte er mich trösten, aber ich zuckte trotzdem zurück.

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte er mich und hob seine Hände über den Kopf, als wolle er damit sagen: Ich ergebe mich. »Ich fass dich nicht an.«

Jetzt sah er wirklich verstört aus. »Ich weiß«, sagte er einfach so in den Raum. »Ich bin ein Vollidiot.« Dann lief er weiter Richtung Eingangshalle. »Würdest du mir bitte folgen, Kate«, bat er niedergeschlagen.

Ich folgte ihm. Was blieb mir auch anderes übrig?

Er ging voran, die gewundene Treppe hinauf in den ersten Stock und bog in einen Flur ab. Er öffnete die Tür zu einem weiteren dunklen Zimmer, schaltete das Licht ein und blieb draußen stehen, während ich eintrat. »Mach es dir bequem, es dauert vielleicht ein Weilchen«, sagte er, meinem Blick ausweichend. Er machte die Tür hinter mir zu. Das Schloss klickte.

»He!«, schrie ich und rüttelte an der Klinke. Ich war definitiv eingesperrt.

»Ich musste abschließen. Das Letzte, was wir brauchen, ist, dass sie weiter durchs Haus schleicht.« Jules sprach wieder mit sich selbst. Seine Schritte entfernten sich.

Ich wog meine Möglichkeiten ab. Außer hierzubleiben, hätte ich noch aus dem Fenster springen und dann über das Eingangstor klettern können. Das ist auch eine total realistische Alternative, dachte ich und fand mich damit ab, gerade nichts anderes tun zu können, als darauf zu warten, dass jemand die Tür wieder aufschloss.

Es hätte dich auch schlimmer treffen können, dachte ich, während ich mich umsah. Die Wände waren mit gemusterter rosafarbener Seide verhängt, die schweren mintfarbenen Gardinen hatte man zu beiden Seiten des Fensters zurückgebunden, dessen obere Scheiben herzförmig waren. Geschmackvoll gestrichene Möbel säumten die Wände. Ich ließ mich auf einer mit Seide überzogenen Couch nieder.

Allmählich hörte ich auf zu zittern. Nach einer ganzen Weile streckte ich mich auf dem Sofa aus, legte mich mit dem Kopf auf ein Kissen und winkelte die Beine an. Ich schloss die Augen, nur für einen kurzen Augenblick, doch die Folgen des Schockzustands taten ihr Übriges. Ich schlief auf der Stelle ein.

Ganz offensichtlich hatte ich lange geschlafen, denn als ich aufwachte, färbte sich der dunkle Nachthimmel gerade hellblau und kündigte den Morgen an. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich den Eindruck, als läge ich in meinem Zimmer in Brooklyn.

Ich blickte zu einem großen Kronleuchter hinauf, dessen Arme sich zu filigranen gläsernen Blumen verjüngten. An die Decke war ein blauer Himmel mit weißen Wolken gemalt worden, an den Rändern befanden sich dicke Putten, die Arme voller Blumen und Schleifen.

Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich war. Dann fiel es mir wieder ein und ich setzte mich auf.

»Du bist wach«, hörte ich eine Stimme vom anderen Ende des Zimmers sagen. Ich versuchte zu erkennen, wer da sprach. Es war das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren, das ich aus dem Café kannte. Das Mädchen, das mich vor dem herabfallenden Fassadenteil gerettet hatte. Was macht die denn hier?, dachte ich.

Sie saß zusammengerollt in einem Sessel neben einem kunstvoll verzierten steinernen Kamin. Langsam und zögerlich stand sie auf und kam vorsichtig zu mir.

Im Licht, das der Kronleuchter auf sie warf, glich ihr Haar polierter Bronze. Ihre Wangen und ihre Lippen hatten die gleiche Farbe wie die samtrosafarbenen Rosen, die in Mamies Garten auf dem Land wuchsen. Die hohen Wangenknochen betonten ihre schönen, bezaubernd grünen Augen.

Sie stand jetzt neben mir und hielt mir zögernd ihre Hand hin. »Kate«, sagte sie schüchtern, drückte kurz meine Hand und ließ sie schnell wieder los. »Ich bin Charlotte.« Ich setzte mich auf und sah sie ehrfürchtig an.

»Du hast mir das Leben gerettet«, murmelte ich.

Lachend zog sie sich einen Stuhl heran, um sich zu mir zu setzen. »Das war ich eigentlich gar nicht.« Sie lächelte. »Ich meine, ich hab dich zwar von deinem Tisch fortgelockt, aber den Impuls hat jemand anders gegeben. Das ist ein bisschen komplizierter«, sagte sie und schlug verschmitzt ihre Beine übereinander. Um ihren Hals hing ein Lederband mit einem silbernen Anhänger in Form einer Träne.

Das ist also Vincents gute Freundin, dachte ich bestürzt. Meine Augen wanderten von der Kette zurück zu ihrem schönen Gesicht. Sie war ungefähr so alt wie ich, ein kleines bisschen jünger. Vincent hatte gesagt, sie wären nur Freunde. Ich fragte mich, wie eng sie wohl befreundet waren.

»Willkommen in meinem Zimmer«, sagte sie.

Mein Herz sank. Sie wohnt auch hier?

»Es ist umwerfend«, war alles, was ich hervorstoßen konnte.

»Ich hab gern schöne Dinge um mich«, sagte sie und grinste mich verlegen an.

Weder ihr burschikoser Haarschnitt noch der lange, schlanke Körper, der in einer engen schwarzen Jeans und einem ausgeblichenen gestreiften T-Shirt steckte, konnte ihre auffällige weibliche Schönheit verbergen. Obwohl es ganz so aussah, als würde sie genau das versuchen. Sie muss sich nicht mal Mühe geben, sie ist einfach atemberaubend, dachte ich. Mir war klar, dass ich es niemals mit Charlotte würde aufnehmen können.

Der Gedanke, dass dieses Mädchen Vincent jeden Tag sehen konnte, schnürte mir vor Eifersucht den Hals zu. Sie wachte jeden Tag in diesem wunderschönen Zimmer auf und wusste, dass Vincent im selben Haus wohnte.

Dann sah ich ihn wieder ein Stockwerk tiefer leblos auf dem Bett liegen und versuchte, meine kleingeistigen Gedanken abzuschütteln. Auch wenn Jules behauptet hatte, er wäre nicht tot, hatte er dennoch tot ausgesehen. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Aber auf dieses Mädchen eifersüchtig zu sein, war auch keine große Hilfe.

»Was ist Vincent denn zugestoßen?«, fragte ich.

»Ah, die Eine-Million-Euro-Frage«, sagte sie leise. »Die einzige Frage, deren Beantwortung mir explizit untersagt wurde. Offensichtlich trauen mir die Jungs nicht. Diskretion und Takt sind nicht gerade meine Stärken. Aber sie haben mich gebeten, bei dir zu bleiben, für den Fall, dass du aufwachst, Panik bekommst und abzuhauen versuchst.« Sie zögerte, wartete ab. »Und ... bekommst du Panik und haust ab?«

»Nein«, sagte ich und rieb mir die Stirn. »Oder zumindest hab ich das nicht vor.« Ein Schreck durchfuhr mich. »Meine Großeltern! Die sind bestimmt schon krank vor Sorge! Ich war die ganze Nacht nicht zu Hause!«

»Nein, mach dir keinen Kopf«, sagte sie lächelnd. »Wir haben ihnen von deinem Handy aus eine Nachricht geschrieben, dass du bei einer Freundin übernachtest.«

Meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. »Das heißt, ich muss hierbleiben? Ich bin eure Gefangene?«

»Das klingt ein bisschen zu melodramatisch«, sagte sie.

Ihre Augen sahen so aus, als wären sie daran gewöhnt, viel zu sehen und wenig preiszugeben. Es waren die Augen einer alten Frau mit dem Geist eines jungen Mädchens. »Du hast etwas gesehen, das du nicht hättest sehen dürfen. Jetzt müssen wir überlegen, wie wir mit der Situation umgehen — so eine Art Schadensbegrenzung eben. Du hast schließlich selbst in den Apfel gebissen, Kate. Aber bei einer solch schönen Schlange kann ich dir das nicht mal verdenken.«

»Ihr werdet mir also nichts antun?«, fragte ich.

»Diese Frage kannst du dir selbst beantworten«, sagte sie und legte mir ihre Fingerspitzen auf den Arm. Sofort durchströmte mich eine friedliche Gelassenheit, die von dort auszugehen schien, wo sie mich berührte.

»Was machst du da?«, fragte ich und starrte auf den Punkt, wo ihre Finger ruhten. Wäre ich nicht so entspannt gewesen, wäre ich sicher aufgesprungen, weil ich diese Geste so verwirrend und seltsam fand. Sie sagte kein Wort, aber ihre Mundwinkel bogen sich leicht nach oben. Dann nahm sie ihre Hand weg.

Ich sah ihr fest in die Augen. »Und auch von den anderen tut mir keiner was?«

»Dafür sorge ich schon.«

Es klopfte an der Tür. Charlotte stand auf. »Es ist so weit.«

Sie hielt ihren Arm so, dass ich mich bei ihr unterhaken konnte. Mein Blick fiel wieder auf den Anhänger und ich zögerte kurz.

»Was ist los?«, fragte sie und berührte die silberne Träne.

Mein Gesicht musste wie ein offenes Buch gewirkt haben, denn sie sagte: »Vincent hat mir erzählt, dass du diese Kette ausgesucht hast. Ich bin froh, dass du ihm geholfen hast. Man weiß nie, auf was für Geschenkideen die Jungs so kommen.« Sie lächelte und drückte meine Hand freundschaftlich. »Vincent ist wie ein Bruder, Kate. Da läuft absolut nichts zwischen uns ... Was uns verbindet, sind Jahre voller langweiliger Geburtstagsgeschenke — und du hast meine Pechsträhne beendet. Dieses Jahr habe ich endlich mal etwas anderes von ihm bekommen als seine aktuelle Lieblings-CD.«

Sie lachte und die Eifersucht, die mich wie unzählige Nadeln gepiekt hatte, ebbte ein wenig ab. Tatsächlich redete sie von ihm, wie man von einem Bruder spricht. Ich hakte mich bei ihr ein.

Als wir in Richtung Tür gingen, fiel mir auf, dass an den Wänden ihres Zimmers eine ähnlich wilde Sammlung von Fotografien hing wie bei Vincent. Nur befanden sich diese Porträtaufnahmen in schön angemalten Holz- oder Emaillerahmen, die an Bändern hingen.

»Wer sind diese Leute?«, fragte ich.

Lässig ließ sie ihren Blick über die Bilder gleiten. Während wir auf die Tür zusteuerten, sagte sie: »Das? Tja, liebe Kate, auch wenn ich mich nicht damit rühmen kann, dein Leben gerettet zu haben — diese Leute habe ich gerettet.«