Erst als Charles in einen Leichensack gelegt worden war und der Reißverschluss zugezogen wurde, gingen meine Gefühle endgültig mit mir durch. Der eine Leichensack verdoppelte sich und plötzlich waren es zwei. Meine Eltern lagen darin, ich war irgendwie in der Zeit zurückgereist, über den Atlantik geflogen und erst in der Leichenhalle von New York vor einem Jahr wieder zum Stillstand gekommen.

Ich hatte darauf bestanden, meine Eltern noch ein Mal zu sehen. Sie weigerten sich zwar, mir die Leiche meines Vaters zu zeigen, gewährten mir dann aber wenigstens einen Blick auf meine Mutter. Da sie »nur« einen Genickbruch hatte, schätzten sie wohl, ich würde ihren Anblick verkraften können. Nun war ich zurück in diesen Raum katapultiert worden und starrte wieder auf die lackierten Fußnägel meiner Mutter. Georgia stand schluchzend neben mir, während ich mir ein paar Strähnen ausriss, um sie meiner Mutter in die Haare zu flechten. Ich wusste zwar, dass sie eingeäschert werden würde, aber ich wollte, dass ein Teil von mir sie begleitete. An diesem Punkt hörte meine Erinnerung auf, ich blieb einfach in diesem blendend weißen Raum, in dem ich meine Mutter nicht allein zurücklassen wollte.

»Kate. Kate?« Starke Hände griffen nach mir, dann tauchte Vincents Gesicht unmittelbar vor meinem auf. »Ist alles in Ordnung?«

Ich nickte benommen.

»Warum fährst du nicht im Krankenwagen mit? Ich nehm den Roller und wir treffen uns zu Hause wieder?«

Ich nickte noch einmal und versuchte, mich zusammenzureißen, während ich mich zwischen den Fahrer und Charlotte vorn in den Wagen quetschte.

Als wir vor Jean-Baptistes Haus ankamen, erwartete Jeanne uns schon an der Haustür. Sie nahm Charlotte sofort in die Arme und brachte sie in ihr Zimmer. Das Ganze wirkte fast routiniert, was nur unterstrich, dass dies alles ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal geschah. Durch das Fenster im Flur sah ich, wie Jean-Baptiste dem Fahrer des Rettungswagens einen großen Stapel Geldscheine in die Hand drückte. Jules trug den unhandlichen Leichensack herein und legte ihn behutsam auf den Boden. Ich ging mit weichen Knien den langen Weg durch den Korridor bis in Vincents Zimmer. Dort warf ich mich bäuchlings aufs Bett und ließ endlich den Tränen freien Lauf.

Ich weinte nicht um Charles, er war nur der Auslöser. Es fühlte sich an, als wäre ein Bumerang in meine Vergangenheit geschleudert worden und jetzt mit diesen Erinnerungen zurückgekehrt. Schon hockte ich wieder an diesem dunklen Abgrund, den ich erst vor wenigen Monaten hinter mir gelassen hatte. Es war so verlockend, mich einfach nach vorn kippen zu lassen, um dann kopfüber in die Trost versprechende Dunkelheit einzutauchen. Der Gedanke, meinen Körper einfach zurückzulassen, war verführerisch. Dann würde ich mich nicht mal mehr um das kümmern müssen, was ich hinterließ.

Jemand setzte sich aufs Bett. Ich sah nicht auf, sondern verbarg mein Gesicht nur noch tiefer in den Kissen. Dann hörte ich Vincents warme Stimme. »Kate, alles ist gut. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, so etwas zu sehen. Und ich wünschte, du hättest es nicht miterlebt. Du darfst nur nicht vergessen, dass er nicht wirklich tot ist. Er hat sein Leben aufgegeben, um das des Jungen zu retten. Aber nur vorübergehend.«

Ich hörte seine Worte zwar, aber sie schienen in meinen Gehörgängen stecken zu bleiben, mein Gehirn weigerte sich, sie zu verstehen. Das ergab doch alles keinen Sinn, es widersprach allem, was ich bisher erlebt oder gelernt hatte. Ich konnte nicht einfach so meine Gefühle abschalten, wenn jemand von einer Schiffsschraube zerstückelt worden war. Selbst wenn dieser Jemand danach nur vorübergehend tot war. »Ist denn mit Charles ...«, setzte ich an.

»Allen geht’s gut. Charles’ Körper liegt in seinem Zimmer. In ein paar Tagen ist er so gut wie neu. Und Charlotte ist erleichtert, weil er jetzt hier zu Hause ist und heilen kann.« Er machte eine Pause. »Die Einzige, um die ich mir Sorgen mache, bist du.«

Ich versuchte, all das, was ich gesehen, und das, was er gerade gesagt hatte, in Einklang zu bringen und es ganz rational zu betrachten. Es klappte nicht. Alles in meinem Inneren sträubte sich dagegen. Ich rutschte weg von ihm, löste meine Hand aus seiner. Ich konnte ihn nicht ansehen.

»Wie kannst du nur so leben?«, fragte ich endlich, meine Stimme zitterte.

»Ich hatte ziemlich lange Zeit, mich daran zu gewöhnen«, antwortete er und kaute auf seiner Unterlippe herum.

»Wie lange genau?« Ich klang leer. Ich wusste, dass Vincent mir aus gutem Grund ein paar Details vorenthielt, aber es ärgerte mich, dass ich immer noch so wenig über ihn wusste.

»Darüber willst du jetzt sprechen?«, fragte er seufzend.

»Darüber muss ich jetzt sprechen«, erwiderte ich leise.

»Ich wurde 1924 geboren.«

Ich rechnete. »Du bist also siebenundachtzig.«

»Nein, ich bin neunzehn. Ich bin 1942 gestorben. Vor einem Jahr habe ich das letzte Mal jemanden gerettet, deshalb bin ich gerade neunzehn. Das höchste Alter, das ich je erreicht habe, war dreiundzwanzig. Ich war nie verheiratet, habe keine Kinder. Ich habe nie etwas erlebt, das Grund dafür böte, mich viel älter zu fühlen, als ich gerade bin.«

»Aber du hast siebenundachtzig Jahre ins Land ziehen sehen. Du hast siebenundachtzig Jahre lang gelebt.«

»Wenn du das Leben nennen möchtest ...«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Dabei ist es nur eine Art Tauschgeschäft. Ich darf den Schutzengel mit Todessehnsucht spielen und als Gegenleistung bekomme ich ein bisschen Unsterblichkeit.« In seiner Stimme lag etwas, das fast bitter klang. Vielleicht war es Selbstmitleid.

Er versuchte zu lächeln, dann sah er mich flehend an. »Bitte, Kate, lass uns ein andermal weiter darüber sprechen. Dieser Tag war schon hart genug für dich. Ich möchte dich nicht mit noch mehr Science-Fiction durcheinanderbringen.«

Ich nickte. Er streichelte mir zärtlich übers Haar und ich zuckte zusammen. »Was ist los, Kate? Sprich doch mit mir.«

In meinem Kopf jagten sich die Gedanken. Irgendwann sah ich ihm fest in die Augen und wappnete mich. Damit ich die schwierigen Worte über die Lippen bringen konnte.

»Ich will ehrlich zu dir sein. So etwas habe ich noch nie empfunden. Noch nie ...« Ich starrte an die Decke, auf der Suche nach etwas, das mir die Stärke geben würde, weiterzusprechen. Aber dort war nichts. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor ich ihm wieder in die Augen sehen konnte. »Ich habe noch nie so tiefe Gefühle für jemanden gehabt. Wenn ich noch mehr zulasse ...«

Vincent wirkte insgesamt gefasst, doch in seinen Augen spiegelte sich die Qual, die in ihm wüten musste. Er wusste, was er gleich hören würde.

Ich zwang mich, weiterzusprechen. »Ich kann mir nicht vorstellen, so einen Tag wie heute regelmäßig erleben zu müssen. Und wenn es irgendwann mal dich trifft, wird das ja nur umso schlimmer für mich sein. Der Gedanke, dich wieder und wieder sterben zu sehen, ist unerträglich. Das alles erinnert mich viel zu sehr an den Tod meiner Eltern.«

Meine Stimme versagte und ich fing an zu weinen. Vincent wollte näher zu mir rücken, aber ich streckte einen Arm aus. »Ich könnte so nicht leben, auch nicht, wenn ich dich irgendwann richtig lieben würde. Dieser ständige Schmerz, diese ständige Trauer. Selbst das Wissen, dass du wieder auferstehst oder wie immer ihr das nennt, ist keine Entschädigung für den Schmerz, den dein Tod wieder und wieder verursachen wird. Das kannst du nicht von mir verlangen. Ich kann das nicht.«

Ich stand abrupt auf, wischte mir die Tränen weg und stolperte zur Tür. Er folgte mir schweigend durch den Korridor in die Eingangshalle. Reglos stand er da, während ich meinen Mantel von der Bank nahm und dann erfolglos an der Türklinke riss. Vincent öffnete mir die Tür, legte mir dann sanft eine Hand auf die Schulter und drehte mich zu sich.

»Kate, sieh mich an.« Ich konnte nicht. »Ich kann dich verstehen«, sagte er.

Ich sah auf, unsere Blicke trafen sich. Seine Augen waren hohl. Leer.

»Es tut mir leid, dass ich dir so viele Sorgen bereitet habe«, flüsterte er und ließ seine Hand sinken.

Ich wandte mich von ihm ab und ging, solange ich dazu noch die Kraft aufbringen konnte. Als das Tor hinter mir ins Schloss fiel, rannte ich los.