Mir blieben nur genau drei Sekunden, um mir seine Worte auf der Zunge zergehen zu lassen, bevor er mir sehr resolut den Arm um die Schultern legte und mich Richtung Ausgang schob. »Was ...«, setzte ich an, aber sein versteinerter Gesichtsausdruck ließ mich verstummen und ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Wir rannten nicht, aber gingen sehr schnell zu einem der Torbögen, die aus dem Hof hinausführten.

Auf der Straße angelangt, schlug Vincent sofort den Weg zur U-Bahn ein. »Wohin gehen wir?«, fragte ich, atemlos von unserem zügigen Tempo.

»Ich habe jemanden gesehen, dem ich auf keinen Fall begegnen möchte.« Er holte sein Mobiltelefon aus der Tasche und drückte eine Kurzwahltaste. Weil er niemanden erreichte, legte er auf und wählte eine andere Nummer.

»Wie wär’s, wenn du mir mal erklären würdest, was hier vor sich geht?«, fragte ich, weil mich sein plötzlicher Persönlichkeitswandel irritierte. Innerhalb eines kurzen Augenblicks hatte er sich von einem Traumprinzen in einen Geheimagenten verwandelt.

»Wir müssen zu Jules«, sagte Vincent mehr zu sich selbst als zu mir. »Sein Atelier ist gleich hier um die Ecke.«

Ich blieb stehen. Weil er meinen Arm hielt, stoppte ich ihn dadurch auch. »Vor wem laufen wir davon?«

Vincent hatte große Mühe, sich zusammenzureißen. »Kate. Ich erklär dir das später. Gerade ist es sehr wichtig, dass wir einen von meinen Freunden erreichen.«

Das wunderschöne Gefühl, das ich noch vor ein paar Minuten gehabt hatte, war wie weggeblasen. Jetzt war mir eher danach, ihm zu sagen, er solle allein weitergehen. Aber weil mir noch so klar vor Augen stand, wie meine letzten Wochen ausgesehen hatten, schlug ich alle Bedenken (und alle Langeweile) in den Wind und folgte ihm.

Er führte mich zu einem Wohnhaus direkt neben der Église Saint-Paul, das vor altem Pariser Charme nur so strotzte. Wir gingen eine enge, gewundene Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Vincent klopfte zweimal an eine Tür, bevor er sie aufstieß.

Im gesamten Atelier zierten Gemälde die Wände bis unter die Decke. Akte hingen unmittelbar neben Bildern von geometrischen Gebäuden. Diese geballten intensiven Farben und Formen waren genauso überwältigend wie der starke Geruch nach Farbverdünner.

In der hintersten Ecke räkelte sich eine atemberaubend schöne Frau auf einer smaragdgrünen Couch. Der Bademantel bedeckte kaum ihren Körper, sodass sie dort genauso gut nackt hätte sitzen können. »Hallo, Vincent«, dröhnte ihre tiefe, rauchige Stimme durch das Apartment, die so gut zu ihrer verführerischen Art passte, als hätte sie beide im Set gekauft.

Vincents Freund Jules kam aus einem kleinen Badezimmer, das direkt hinter der Couch lag. Er wischte ein paar tropfende Pinsel an einem Lappen ab und sagte, ohne aufzuschauen: »Vince, mein Freund. Ich wollte gerade mit Valerie loslegen. Hat Jean-Baptiste dich erreicht?«

»Jules, ich muss mit dir sprechen«, in Vincents Worten schwang so viel Dringlichkeit mit, dass Jules seinen Kopf abrupt hochriss. Er starrte mich überrascht an und als er dann Vincents Gesichtsausdruck sah, verdunkelte sich sein Gesicht. »Was ist los?«

Vincent räusperte sich und schaute Jules ausdruckslos an. Es war offensichtlich, dass er seine Worte mit großer Sorgfalt wählte. »Kate und ich waren gerade in der Village Saint-Paul unterwegs, als ich dort jemand Bestimmtes gesehen habe.«

Das Codewort war Jules offensichtlich bekannt. Seine Augen wurden schmal. »Unter vier Augen«, sagte er und warf einen vielsagenden Blick in meine Richtung, bevor er hinaus in den Flur trat.

»Ich bin gleich wieder da, Kate«, sagte Vincent. »Oh, und das ist übrigens Valerie, eins von Jules’ Modellen.« Nachdem er uns vorgestellt hatte, folgte er Jules ins Treppenhaus, die Tür schlug hinter ihnen zu.

Selbst in der Not noch ein Gentleman, dachte ich, überrascht von Vincents Besonnenheit, mich der nackten Frau noch schnell vorzustellen, bevor er uns allein ließ. »Hallo«, sagte ich. »Bonjour«, antwortete sie gelangweilt. Sie schnappte sich ein Taschenbuch und lehnte sich damit zurück. Ich blieb in der Nähe der Tür und betrachtete neugierig die Gemälde, während ich versuchte, etwas von dem Gespräch draußen mitzubekommen.

Ihre Stimmen waren zwar leise, aber ich konnte dennoch ein paar Sätze aufschnappen. »... konnte doch ohne Verstärkung nichts tun«, sagte Vincent mit starkem Bedauern.

»Ich kann mitkommen. Und Ambrose als Dritter«, antwortete Jules.

Es folgte eine kurze Pause, dann telefonierte Vincent mit jemandem. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: »Er ist unterwegs.«

»Warum um alles in der Welt hast du die mit hierher gebracht?« Jules klang außer sich.

»Ich bin doch nicht rund um die Uhr im Dienst. Wir hatten ein Rendezvous, deshalb hab ich sie mitgebracht.« Vincents Stimme war zwar leise, aber durch die dünne Tür doch sehr gut verständlich.

Er hat Rendezvous gesagt, dachte ich mit so viel Freude, wie ich gerade angesichts der Situation aufbringen konnte, und musste lächeln, weil dieser französische Begriff so wunderbar romantisch klang.

»Das ist genau der Grund, weshalb sie hier nichts verloren hat«, fuhr Jules fort.

»JB hat uns nur verboten, jemanden mit nach Hause zu bringen. Ich verstehe nicht, weshalb ich sie nicht hierher bringen darf.« Ihre Stimmen wurden leiser. Ich schlich näher zur Tür, behielt dabei aber Valerie im Auge, die kurz zu mir aufschaute und sich dann wieder in ihr Buch vertiefte. Offensichtlich war es ihr völlig egal, ob ich lauschte oder nicht.

»Jeder Ort, an dem wir dauerhaft wohnen oder arbeiten, ist tabu für Bekanntschaften oder wen auch immer. Du kennst die Regeln. Aber dein Rendezvous ist so oder so vorbei!«

Es folgte eine aufgeladene Stille, in der die beiden sich bestimmt eine Menge böser Blicke zuwarfen, dann öffnete sich die Tür und Vincent kam herein, einen entschuldigenden Ausdruck auf dem Gesicht. »Kate, es tut mir sehr leid, ich muss etwas erledigen. Ich bring dich noch zur Metro.« Ich wartete auf eine Erklärung, aber es kam keine.

»Kein Problem«, sagte ich und versuchte, so zu tun, als würde mir das wirklich nichts ausmachen. »Aber zur Metro brauchst du mich nicht zu bringen. Ich werde noch ein bisschen bummeln. In der Rue des Rosiers zum Beispiel.«

Er sah erleichtert aus, als wäre das die Antwort gewesen, auf die er gehofft hatte. »Dann bringe ich dich aber wenigstens bis vor die Tür.«

»Nein, wirklich nicht nötig«, sagte ich und merkte, wie leiser Ärger in mir aufstieg. Ganz offensichtlich ging hier irgendetwas vor sich, worüber ich nicht Bescheid wissen durfte. Dennoch war es unhöflich von Jules, zu verlangen, dass ich ging. Mal ganz davon abgesehen, wie feige es von Vincent war, dieser Forderung nachzugeben.

»Ich bestehe darauf«, sagte er. Er öffnete mir die Tür und folgte mir in den Flur. Jules stand mit verschränkten Armen da und blickte uns finster hinterher.

Vincent brachte mich bis in den Hof. »Es tut mir leid«, sagte er. »Da gibt es etwas, um das ich mich kümmern muss.«

»Wieder was Polizeimäßiges, nehme ich an?«, erwiderte ich, ohne meinen Sarkasmus unterdrücken zu können.

»Ja, so was in der Art«, sagte er ausweichend.

»Und du darfst nicht darüber sprechen.«

»Genau.«

»Na gut, ich vermute, wir sehen uns dann in unserem Viertel ...«, sagte ich und versuchte, meine Enttäuschung mit einem Lächeln zu überspielen.

»Wir sehen uns bald wieder«, sagte er und nahm meine Hand. Obwohl ich nicht gerade glücklich war über die Umstände, wurde mir bei dieser Berührung warm bis in die Zehenspitzen. »Versprochen«, fügte er hinzu und sah aus, als wollte er noch mehr sagen. Doch dann drückte er nur kurz meine Hand und ging zurück ins Haus. Meine schlechte Laune hatte sich dank dieser Geste ein klein wenig gebessert und so verließ ich den Hof zwar ohne das Gefühl, versetzt worden zu sein, war aber dennoch nicht wirklich froh darüber, welchen Verlauf das Treffen genommen hatte.

Ich lief erst mal nach Norden und überlegte, ob ich lieber über die Rue des Rosiers bummeln sollte oder durch die schattigen Arkaden, die den Place des Vosges einrahmten, einen Platz aus dem siebzehnten Jahrhundert. Kaum einen halben Block weiter musste ich mir eingestehen, dass ich weder zum einen noch zum anderen Lust hatte. Ich wollte wissen, was mit Vincent los war. Die Neugierde brachte mich fast um. Wenn ich schon keine Antworten bekam, dann wollte ich einfach nur nach Hause.

Ich machte noch kurz beim Crêpe-Stand vor dem Dome Café halt und sah dem Verkäufer dabei zu, wie er den Teig auf die heiße runde Platte strich. Insgeheim wünschte ich mir, dass Vincent jetzt hier mit mir warten würde. Während sich der Verkäufer um meinen Crêpe kümmerte, beobachtete ich die Menschen auf der anderen Straßenseite, die zu oder aus der Metrostation strömten. Und wie aufs Stichwort entdeckte ich Vincent und Jules, die gerade die Treppe hinunterliefen.

Das ist meine Chance, endlich herauszufinden, was es mit diesem Polizeizirkus auf sich hat, dachte ich. Vincent hatte gesagt, er müsse sich um etwas kümmern. Sein Verhalten im Village Saint-Paul deutete eher darauf hin, als müsse er sich um jemanden kümmern. Ich wollte wissen, wer dieser Jemand war. Wenn ich weiter mit Vincent zusammen sein wollte — oder was immer das zwischen uns war —, sollte ich über seine mysteriösen Aktivitäten informiert sein, fand ich.

»Et voilá, Mademoiselle«, sagte der Verkäufer und überreichte mir den in eine Serviette gewickelten Crêpe. Ich deutete auf das Kleingeld, das ich auf die Theke gelegt hatte, rief »Merci« und rannte zum Eingang der Metro.

Nachdem ich die Ticketschleuse passiert hatte, sah ich, wie die beiden Jungs gerade in einen Tunnel einbogen, der zum Gleis führte. Wenig später war ich am Fuß der Treppe angelangt und erspähte sie in der Mitte des Bahnsteigs. Bevor sie mich bemerken konnten, ließ ich mich auf einen der Plastiksitze gleiten, die die Wände säumten.

In dem Moment sah ich den Mann.

Einen gepflegten Mittdreißiger im dunklen Anzug, der mit gesenktem Kopf nur einen Steinwurf von Vincent und Jules entfernt am Rand des Bahnsteigs stand, in der einen Hand hatte er eine Aktentasche, die andere hielt er sich an die Stirn. Es sah aus, als würde er weinen.

In all den Jahren, in denen ich mit der Pariser Metro gefahren bin, habe ich schon einige merkwürdige Dinge gesehen: Obdachlose, die in die Ecken pinkelten. Verrückte, die sich über die Verfolgung durch die Regierung ausließen. Scharen von Kindern, die Touristen anboten, ihnen das Gepäck zu tragen und dann damit abhauten. Aber ich hatte noch nie einen Erwachsenen gesehen, der in der Öffentlichkeit weinte.

Ein stärker werdender Windstoß kündigte die herannahende U-Bahn an. Der Mann blickte auf. Seelenruhig stellte er seine Aktentasche ab, hockte sich hin, stützte sich mit einer Hand auf der Plattform ab und sprang dann auf die Gleise. »Oh, mein Gott!«, schrie ich und ließ vor Schreck meinen Crêpe fallen. Verzweifelt blickte ich mich um, ob noch jemand anders das Szenario beobachtet hatte.

Jules und Vincent schauten zu mir, würdigten den Mann auf den Schienen jedoch keines Blickes, während ich von meinem Sitz aufgesprungen war und wie wild mit beiden Händen gestikulierte. Ohne ein Wort zu wechseln, nickten sie einander zu und liefen dann rasch in entgegengesetzte Richtungen. Vincent kam zu mir, fasste mich bei den Schultern und versuchte, mich von den Gleisen abzuschirmen.

Ich wehrte mich, verrenkte meinen Hals, um nach Jules zu sehen, der in diesem Moment auf die Schienen sprang und den schluchzenden Mann aus dem Weg schob. Der einfahrende Zug war nur noch ein paar Meter entfernt, als Jules Vincent einen Blick zuwarf, kurz nickte und sich dann mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte, wie um ihn lässig zu grüßen.

Das Geräusch war entsetzlich. Das ohrenbetäubende Kreischen der Bremsen, die das Unglück nicht mehr abwenden konnten, und dann der dumpfe Aufprall, als Metall auf Fleisch und Knochen traf. Vincent hatte verhindert, dass ich den Zusammenstoß sah, aber das Bild der vorletzten Sekunde hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt: Jules’ gelassener Gesichtsausdruck, wie er Vincent zunickt, während die Bahn hinter ihm heranrast.

Meine Knie gaben nach und ich kippte nach vorn, Vincents Arme hielten mich, sodass ich nicht hinfiel. Schreie kamen von allen Seiten und man hörte vom Gleis her das laute Jammern eines Mannes. Ich spürte, wie mich jemand hochhob und anfing zu laufen. Und dann wurde alles still. Still und dunkel wie in einer Gruft.