Liucien stand mir im Innenhof gegenüber und hielt Georgia das Messer in den Rücken.

»Guten Abend, Kate«, sagte er mit kalter, glatter Stimme. Mordlüstern blickte er mich an, seine gigantische Statur wirkte jetzt doppelt so groß, als er bedrohlich über mir emporragte. Wie Georgia dieses Grauen erregende Monster je attraktiv gefunden haben konnte, war mir schleierhaft.

»Sei ein liebes Mädchen und bring mich ins Haus.«

»Das geht nicht«, sagte ich. »Die Tür ist verriegelt, ich kann nichts mehr für dich tun, du kannst Georgia also gehen lassen.« Ich hatte das Gefühl, dass diese Runde an mich ging. Aber ich wusste ja nicht, was als Nächstes kommen würde.

»Gaspard, ich weiß, dass du da drin bist«, rief Lucien. »Komm raus, sonst hast du das Blut von zwei Menschen an deinen Händen.«

Kaum dass er ausgesprochen hatte, öffnete sich die Tür und Gaspard trat heraus, das Stockschwert in beiden Händen.

»Nein, Gaspard!«, schrie ich. Was hat er vor?, dachte ich wütend. Er sollte sich doch im Haus verschanzen und Vincent beschützen. Für meine Schwester war ich ganz allein verantwortlich.

Gaspard ignorierte mich. Während er sich näherte, sagte er monoton: »Lucien, du niederträchtiger Blutsauger. Was führt deine faulige Leiche an diesem schönen Abend vor unser bescheidenes Haus?« Er wirkte wieder so erhaben wie damals, als ich ihn beim Training mit Vincent beobachtet hatte. Der unsichere, stotternde Dichter hatte sich wieder in einen Respekt einflößenden Krieger verwandelt.

Lucien trat auf ihn zu. Ich nutzte die Gelegenheit, griff Georgia am Arm und zog sie fort. »Los, verschwinden wir«, flüsterte ich, behielt aber die beiden Männer im Auge.

»Du bist außerordentlich schlecht bewaffnet, du bedauernswerte Kreatur, die sich unsterblich schimpft«, knurrte Lucien.

»Mit deinem Brotmesserchen kann es mein Schwert gerade noch so aufnehmen, du widerliche Made«, sagte Gaspard, schwang sein Schwert nach Lucien und traf ihn im Gesicht. Ein sauberer Schnitt klaffte auf der Wange des Riesen.

Obwohl sofort ein kleines Blutrinnsal seinen Hals entlanglief, hatte Lucien nicht einmal gezuckt. »Aufnehmen vielleicht, du lächerlicher Lazarusverschnitt, deshalb hab ich auch noch was anderes mitgebracht.« Schnell zog er eine Pistole unter seiner Jacke hervor und schoss Gaspard genau zwischen die Augen.

Gaspard stolperte ein paar Schritte rückwärts, während die Kugel in seine Stirn eindrang. Dann wurde sie in Zeitlupe jedoch sofort wieder auf gleichem Wege ausgespuckt und fiel mit einem Klirren zwischen Gaspards Füße auf den Boden. Lucien nutzte die paar Sekunden, die Gaspard außer Gefecht gesetzt war, stürzte sich auf ihn und riss ihn zu Boden.

Ich nahm Georgias Hand und zusammen rannten wir auf das Tor zu. »Stehen bleiben oder ich erschieße euch beide«, sagte Lucien, die Knarre auf uns gerichtet. Er saß rittlings auf Gaspard, der sich verzweifelt wehrte. Wir erstarrten. »Jetzt kommt schön wieder hierher, ihr beide bleibt bei mir.« Er beobachtete uns völlig reglos, während wir uns näherten. »Noch näher«, kommandierte er. Als wir nur noch eine Armlänge von ihm entfernt waren, steckte er seine Waffe wieder zurück ins Holster.

Dann holte er in einem großen Bogen mit seinem gewaltigen Messer aus, bevor er es wie eine Machete auf Gaspards Nacken zusausen ließ. Georgia und ich schrien gleichzeitig, unsere ohrenbetäubenden Schreie vereinten sich zu einem. Wir fielen einander panisch in die Arme und verbargen gegenseitig unsere Gesichter, um uns diesen Horror nicht ansehen zu müssen.

»Sind wir ein bisschen empfindlich heute, meine Damen? Dann wartet mal ab, es kommt noch mehr. Los, rein mit euch«, befahl er. Er nahm ein Taschentuch aus der Tasche und wischte das Messer daran ab, bevor er uns wieder damit bedrohte.

Ich wagte es nicht, in Gaspards Richtung zu gucken, während ich gehorsam das Foyer betrat. Lucien warf einen schnellen Blick um sich. »Schicker Schuppen.« Dann fixierte er mich mit stechendem Blick. »Und jetzt bringst du mich zu ihm.«

»Zu wem?«, fragte ich. Meine Stimme zitterte.

»Was glaubst du denn? Zu Schatzimausi«, spottete er. Er machte einen Schritt auf mich zu und schubste Georgia zwischen uns.

»Er ... er ist nicht hier«, stotterte ich.

»Oh, wie süß. Sie versucht, ihren Zombiefreund zu beschützen. Aber ich weiß leider, dass du lügst, kleine Kate. Charles hat mir erzählt, dass Vincent ruht. Einer meiner Kollegen hat mir vorhin durchgegeben, dass Jean-Baptiste und sein Gefolge inklusive Vincents Geist bei meiner kleinen Feier in den Katakomben eingetroffen sind. Also hör auf mit den Spielchen und zeig mir, wo er ist.«

»Nein, das werde ich nicht tun«, sagte ich und trat zurück, um Georgia auszuweichen, die er in meine Richtung gedrückt hatte.

»Oh, doch. Das wirst du«, Lucien klang gelassen. Er hielt das Messer hoch, die Klinge funkelte gefährlich im Licht des Kronleuchters.

Georgia schrie: »Tu’s nicht, Kate. Er will ihn umbringen.«

»Schlampe«, knurrte Lucien. Er fuhr Georgia grob mit einer Hand in die Haare, riss ihren Kopf zurück und legte ihr die Klinge an die Kehle.

Ich schüttelte den Kopf. »Lieber sterbe ich, als dich zu Vincent zu bringen.« Doch als ich die Panik in Georgias Augen sah, schwand meine Überzeugung.

»Also gut«, sagte Lucien. »Eigentlich wollte ich die liebe Georgia wohlbehalten wieder mitnehmen nach diesem kleinen Besuch, aber ich kann meine Pläne gern den Umständen anpassen.« Das Messer blitzte, als er es über Georgias blassen Hals streifen ließ. Sie schrie, doch er ließ ihre Haare nicht los.

»Georgia!«, kreischte ich entsetzt, als ich das Blut sah, das aus der Schnittwunde quoll.

»Je länger du mich warten lässt, desto tiefer schneide ich«, sagte er. »Das hat doch nicht wehgetan, mein Schatz. Oder?«, fragte er zu Georgia schielend und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.

Georgias Augen starrten wild zu mir, ich brüllte: »Okay, okay. Hör auf damit, ich bring dich zu ihm.« Lucien nickte wartend, aber die Klinge drückte er weiter an Georgias überstreckten Hals.

Mein Verstand suchte panisch nach Auswegen. Ich könnte ihn in den ersten Stock oder in eins der anderen Zimmer führen, aber was würde das bewirken, außer ihn noch wütender zu machen?

»Los!«, befahl Lucien. Ich setzte mich in Bewegung und steuerte auf die Tür zum Dienstbotengang zu, während mein Kopf immer noch versuchte, eine Möglichkeit zu finden, wie ich Zeit schinden konnte. Ich ging so langsam ich konnte, aber mir wollte einfach kein Ausweg einfallen, der nicht direkt zur Folge hatte, dass Georgias Kehle durchgeschnitten wurde oder — was sogar noch viel wahrscheinlicher war — uns beide das Leben kostete. Mir blieb nichts anderes übrig, als leise um Vincents sofortige Rückkehr zu bitten. Aber ich wusste ja, dass das unmöglich war, er befand sich am anderen Ende der Stadt, um dort seinen Freunden zu helfen. Ich führte sie durch die Tür zu Vincents Zimmer und trat beiseite, um Lucien an mir vorbeizulassen. Sofort gab er Georgia frei und marschierte schnell zum Bett. Lachend kam er ihm näher. »Mensch, Vincent. Du siehst besser aus denn je«, sagte er. »Die Liebe bekommt dir wohl. Wie schade, dass sie nicht von Dauer sein wird.« Sein Blick streifte durch das Zimmer und blieb am Kamin hängen.

»Hinsetzen«, sagte er zu uns und deutete mit dem Messer auf die Couch. Dann schichtete er Feuerholz und Späne in den Kamin und hielt ein Streichholz daran.

Das Gesicht in den Händen vergraben, fing meine Schwester an zu schluchzen und lehnte sich gegen meine Schulter. »Kate, es tut mir so wahnsinnig leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.«

»Schhh, schon gut. Das ist doch jetzt egal. Ist alles in Ordnung mit dir?«, flüsterte ich. »Zeig mir mal deinen Hals.«

Sie hob ihren Kopf, ich berührte vorsichtig die Wunde. Sie war nicht tief, eigentlich nur ein kleiner Kratzer. »Ist gar nicht so schlimm«, sagte ich und wischte mit dem Finger einen Tropfen Blut weg.

»Wen interessiert schon dieser Schnitt?«, flüsterte sie. »Wir werden diese ganze Scheiße niemals überleben. Er hat gerade jemanden umgebracht. Und was stimmt mit Vincent nicht? Warum bewegt er sich nicht?«

»Er ist ... Er liegt im Koma«, antwortete ich.

»Was ist ihm denn passiert?«, fragte sie erschrocken.

»Georgia«, sagte ich und sah sie dabei fest an. »Hat Lucien dir nichts erzählt, als er dich hergebracht hat? Du weißt nicht, was sie sind?«

Sie schüttelte nur verwirrt den Kopf.

Mir blieb gar nichts anderes übrig, als sie einzuweihen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass wir diesen Abend vielleicht nicht überleben würden, fand ich die Vorstellung auch merkwürdig, ihr etwas vorzuenthalten, das so offensichtlich war. »Georgia, sie sind keine Menschen ... Vincent und Lucien.«

»Was sind sie denn dann?«

»Das kann ich gar nicht so leicht erklären«, fing ich an. Als ich sah, dass sich in ihren Augen vor Verwirrung schon Tränen bildeten, holte ich tief Luft und sagte: »Sie nennen sich Revenants. Sie sind Wiedergänger.«

»Das ... Das verstehe ich nicht.«

»Das macht nichts, Georgia«, beharrte ich, umfasste fest ihre Handgelenke und zwang sie, mir in die Augen zu sehen. Ich sprach langsam, um nicht nur ihr, sondern auch mir Mut zu machen. »Mir ist es egal, was Vincent ist. Wir müssen nur verhindern, dass Lucien ihn tötet.«

Ihre Augen studierten mein Gesicht. Ausnahmsweise war es mir mal egal, dass man in mir lesen konnte wie in einem offenen Buch. Die Verwirrung und Angst wich aus Georgias Zügen und wurde von einem Ausdruck grenzenloser Entschlossenheit abgelöst. Meine Schwester war immer für mich da gewesen und sie würde auch jetzt für mich da sein. Egal wie bekloppt die Worte klangen, die gerade aus meinem Mund gekommen waren, sie zweifelte nicht eine Sekunde daran.

»Was können wir tun?«, flüsterte sie. Ich schüttelte den Kopf und beobachtete für einen Augenblick Lucien, der mit einem Schürhaken die Scheite bewegte. Flammen züngelten an ihnen, dann fingen sie richtig Feuer und steigerten sich zu einem beachtlichen Lodern, während sich im gesamten Zimmer langsam der Geruch nach Lagerfeuer ausbreitete.

»Er will Vincents Körper verbrennen«, flüsterte ich. »Das dürfen wir nicht zulassen.«

So, als wolle er alles bestätigen, was ich Georgia gerade berichtet hatte, wandte sich Lucien an uns: »Es ist wirklich bedauerlich, dass ich die Leiche meines Erzfeindes beseitigen muss und ihm so die Chance entgeht, mit eigenen Augen dabei zuzusehen, wie ich seine Freundin töte. Es wäre eine so passende Rache dafür, dass meine Frau vor meinen Augen erschossen wurde.«

»Es war kein Zufall, dass du dir Georgia geangelt hast«, sagte ich schockiert, weil mir plötzlich alles klar wurde.

»Natürlich nicht! Es gibt keine Zufälle!«, grinste er. Georgia sog scharf die Luft ein. »Ich habe euch beide vor ein paar Monaten an der Seine gesehen. In der Nacht, als Vincent bedauerlicherweise dieses Mädchen gerettet hat, das von der Brücke gesprungen war.«

»Du warst einer der beiden Kerle, die uns mit ihrem Auto fast umgenietet haben!«, entfuhr es mir.

»Stets zu Diensten.« Lucien grinste böse und deutete eine Verbeugung an. »Als ich sah, wie du in Vincents Armen aus der Metrostation kamst, nachdem er mir den zweiten Selbstmord in Folge vermasselt hatte, war mir klar, dass du ihm etwas bedeutest. Es war superleicht, danach alles über dich herauszufinden — einschließlich der Info, dass deine partygeile Schwester eine regelmäßige Besucherin einiger meiner Klubs war. Das ist aber auch nicht weiter überraschend, schließlich gehört sie nicht gerade zu den wählerischsten Menschen, weder was die Locations angeht, noch was ihre Begleitung betrifft.«

Ich spürte, wie Georgia bei diesen Worten neben mir zusammensackte. Lucien schmunzelte, ihm gefiel ihre Reaktion. »Du hast mich benutzt, um an Kate ranzukommen«, murmelte sie, bestürzt von dieser Enthüllung.

Lucien lächelte und zuckte mit den Schultern. »Mach dir nichts draus, Schätzchen.«

»Aber woher wusstest du, dass ich hier bin? Und wie bist du darauf gekommen, Georgia mitzubringen und als deine lebendige Eintrittskarte zu benutzen?«

»Mir war klar, dass Charles mit einem Menschen sprach, als er Vincent angerufen hat. Wer außer dir sollte schon an Vincents Telefon gehen? Und außerdem hab ich deine Stimme erkannt. Das hat mich auf diese wundervolle Idee gebracht!« Er machte eine Geste, die Vincents Zimmer und Körper einschloss. »Wie hätte ich denn sonst ein erfolgreicher Geschäftsmann werden sollen, wenn ich nicht in der Lage wäre, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen?«

»Oh, mir würden da schon ein paar Dinge einfallen«, antwortete ich, angeekelt von seiner Coolness. »Durch Lügen, Intrigen und den einen oder anderen Mord vielleicht.«

»Du schmeichelst mir. Das klingt wie Musik in meinen Ohren.« Er knackte laut mit seinen Fingergelenken, als er an uns vorbei zum Bett ging. Dann lehnte er sich über Vincent, hob seinen steifen Körper hoch und sprach zu ihm, als wäre er anwesend.

»Es ist wirklich zu schade, dass du das Blutbad in deinem eigenen Zimmer verpassen musst. Das Ganze erinnert mich doch sehr an meinen eigenen Tod. Aber weil dein Geist an einem anderen Ort ist, während ich deinen Körper vernichte, hast du das große Vergnügen, für immer in dieser Form herumschweben und über alles nachsinnen zu dürfen.« Er schwankte leicht unter dem Gewicht von Vincents Leiche, hielt aber dennoch geradewegs auf den Kamin zu.

»Nein!«, schrie ich, sprang auf und baute mich zwischen Lucien und dem Feuer auf.

»Was hast du vor, kleine Kate? Willst du mir gegens Schienbein treten?«

Auch Georgia sprang jetzt auf, rannte zu ihm und krallte sich einen seiner Arme. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, als sie sich mit ihrem vollen Gewicht an ihn hängte, was ihn jedoch kaum verlangsamte. Auch ich rannte auf ihn zu und versuchte, ihn vom Kamin wegzustoßen. Obwohl ich meine ganze Kraft einsetzte, rührte er sich nicht vom Fleck.

»Ich werd nicht mehr. Der Angriff der Disney-Prinzessinnen!«, knurrte er genervt. Er legte Vincents Körper auf den Boden, schnellte dann herum und schleuderte Georgia ohne große Anstrengung mit einem Schlag seiner muskulösen Arme einmal quer durchs Zimmer.

Sie landete neben dem Bett, ihr Kopf krachte gegen einen der Bettpfosten. Er ging zu ihr, wartete, bis sie ihn ansah und sagte dann: »Es tut mir leid, dass ich das tun muss«, und trat dann mit seinem vollen Gewicht auf ihre Hand. Ich hörte noch, wie die Knochen brachen, bevor Georgia anfing zu schreien. »Vielleicht tut’s mir doch nicht so leid«, fügte er hinzu, legte den Kopf schief und sah zu, wie sie sich krümmte. Der Schmerz musste unvorstellbar sein: Ihre Augen verdrehten sich und sie sank bewusstlos zusammen.

Ich schnappte mir den schweren Schürhaken, rannte zu ihm und knallte ihm das Ding mit voller Kraft auf den Rücken.

»Verdammt noch mal, Mädchen, gib das her«, brüllte er, riss mir die improvisierte Waffe aus der Hand und warf sie in die Ecke, als wäre sie ein Streichholz. »Wenn du dich abreagieren willst, dann hilf mir, deinem Lover den Kopf abzuhacken.«

Er griff nach einem der Schwerter, die über dem Kaminsims hingen. Das zweite Schwert knallte auf den Boden. Ich flitzte hin und nahm es mit beiden Händen hoch. Weil es so schwer war, taumelte ich ein bisschen rückwärts.

Lucien stand neben Vincents Körper und hielt sein Schwert mit ausgestrecktem Arm über ihn. Er musterte mich amüsiert. Ich bemühte mich, die Spitze meines Schwerts in die Höhe zu kriegen und zielte dann zitternd auf ihn.

»Keine Bewegung«, sagte ich.

»Oder was?«, frotzelte er. »Wenn du unbedingt zuerst sterben willst, weil du nicht mit ansehen möchtest, wie ich deinen Freund enthaupte, hättest du ja nur was sagen müssen. Darf ich mich vorher etwas aufwärmen? Es ist schon so lange her, seit ich eigenhändig eine Frau getötet habe.«

Er machte einen Satz auf mich zu und streifte meine rechte Schulter mit seiner Klinge. Ein kleiner Blutstrahl spritzte durch den Schnitt in meinem Shirt und lief meinen Arm hinunter. Ich starrte einen Moment lang auf die Wunde und mir wurde flau. Dann fiel mein Blick auf Vincent, der leblos auf dem Boden lag, und sofort kehrte meine Kraft zurück. Mit aller Gewalt riss ich das Schwert wieder hoch.

»Genau so geht das«, sagte er sarkastisch. »Du musst deine Muskeln einsetzen.« Er spielte mit mir. Ich hätte ihm dafür dankbar sein sollen, denn sobald er sich ein bisschen mehr Mühe geben würde, wäre ich tot. Aber statt mich einzuschüchtern, brachte mich seine herablassende Art zur Weißglut.

Durch meine Wut gestärkt, schwang ich das riesige Schwert in einem großen Bogen nach ihm, doch er trat behände beiseite, sodass die Waffe mit voller Wucht auf die Terrakottafliesen krachte. Der Aufprall war so heftig, dass ein paar davon zerbrachen und ein großer Splitter in die Luft katapultiert wurde. Luciens Schwert blitzte im Feuerschein, danach spürte ich einen brennenden Stich in meinem Bein. Ich sah an mir hinunter. In meiner Jeans klaffte ein Loch und Blut strömte aus einer offenen Wunde auf der Außenseite meines Oberschenkels, gerade unterhalb der Hüfte.

»Allmählich macht mir das Spaß!«, sagte Lucien mit einem Glitzern in den Augen. »Du bist ja noch leidenschaftlicher als deine Schwester. Das hätte ich nie gedacht. Es wäre eine Schande, dich umzubringen, bevor ich herausgefunden habe, wie leidenschaftlich du sein kannst. Vielleicht nehm ich dich und Vincents Kopf doch einfach mit zu mir nach Hause, damit wir noch ein bisschen Spaß miteinander haben können.«

Ich versuchte, das Schwert wieder hochzuwuchten, aber es gelang mir nicht. Meine Arme gehorchten mir nicht mehr. Ich hatte all meine Kraft in diesen einen Hieb gesteckt. Meine Muskeln hatten sich in Pudding verwandelt.

»In einer Sekunde ist die ganze Sache gegessen. Wenn du dich auch nur einen Zentimeter bewegst, spalte ich dir mit diesem Schwert dein schönes Köpfchen«, warnte er, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Vincents Körper zu. Georgia stöhnte. Ihre Augen waren halb geöffnet, aber sie lag noch immer reglos auf dem Boden.

Ich kämpfte innerlich gegen eine Welle der Verzweiflung. Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es mir egal war, ob er mich tötete oder nicht. Ich würde mich weiter gegen ihn stellen, selbst wenn das meinen sicheren Tod bedeutete und es am Ende keinen großen Unterschied machen würde. Lieber wollte ich bei dem Versuch sterben, Vincent zu retten, als diesen Albtraum zu überleben, nur um dann ein langes Leben voller Reue zu führen, in dem mir nichts als die Erinnerung an ihn blieb. Ich nahm jedes letzte bisschen Kraft zusammen und stemmte das Schwert noch einmal in die Luft.

Auf einmal hörte ich die statisch rauschenden Wörter: Ich bin wieder da. Meine Augen weiteten sich. Schnell blickte ich durchs Zimmer, um sicherzustellen, dass die Stimme wirklich nur in meinem Kopf war. »Vincent?«, flüsterte ich.

Schnell, Kate. Lässt du mich ein?

Für den Bruchteil einer Sekunde begriff ich gar nichts, dann wurde mir mit einem Mal klar, was er meinte, und ich sagte: »Ja.«

Plötzlich gehörte mir mein Körper nicht mehr. Es fühlte sich an, als wäre eine Hintertür in meinem Kopf geöffnet worden. Ein heftiger Energiestrom wirbelte durch mich hindurch und füllte mich langsam aus, bis ich zu platzen drohte.

Mein Bewusstsein war zwar noch völlig klar, aber meine Körperteile bewegten sich ganz von allein, ohne mein weiteres Zutun. Ich hob mit Leichtigkeit das wuchtige Schwert und schwang es mit beiden Händen in einem großen elliptischen Bogen. Für einen Moment stand es fast in der Luft, bis ich es kraftvoll zu Luciens linkem Arm hinuntersausen ließ, in das es säuberlich einschnitt wie in ein Stück Butter.

Er brüllte vor Schmerz und ließ sein Schwert fallen, um sich die Hand auf die Wunde zu pressen. Er wirbelte herum und starrte mich schockiert an. Dann machte er einen Satz auf mich zu, sein verletzter Arm baumelte reglos an seiner Seite. Blut spritzte aus der Wunde auf die Fliesen.

Ich sprang elegant wie eine Katze zur Seite, riss das Schwert hoch, sodass es gerade über mir stand und krümmte mich kurz, bevor ich auf Lucien losstürmte, der dorthin zurückgetaumelt war, wo er sein Schwert hatte fallen lassen. Mein Hieb traf ihn auf der rechten Seite, unterhalb seines ausgestreckten Oberarms. Er fuhr brüllend herum, das Schwert wieder in der Hand.

Einen Moment lang glotzte er mich verständnislos an, während Blut aus seiner Seite quoll. Dann stürmte er auf mich zu, verfehlte mich jedoch, weil er gegen Vincents Leiche gestoßen war und dadurch das Gleichgewicht verloren hatte.

Ich hüpfte nach rechts, fort von ihm, machte dann einen schnellen Satz nach vorn und hielt diesmal auf seinen Kopf zu, verfehlte ihn jedoch, weil er sich rechtzeitig wegduckte. Er sprang aus seiner hockenden Position ein Stück zur Seite und blinzelte mich an. Überrascht weiteten sich seine Augen. »Vincent, bist du das etwa?«, fragte er ungläubig.

Ich spürte, wie ich lachte. Dann kamen Vincents Worte aus meinem Mund — in meiner eigenen Stimme: »Lucien, mein Erzfeind.«

»Nein«, sagte Lucien. Er schüttelte den Kopf und hielt das Schwert mit seinem gesunden Arm vor sich, um sich zu schützen. »Das ist nicht möglich. Du bist in den Katakomben.«

»Tja, da liegst du wohl falsch«, sprach Vincent durch mich. »Aber du warst ja noch nie einer der hellsten Zombies des Friedhofs.«

Lucien brüllte und holte zu einem erneuten Schlag gegen mich aus, doch ich trat flink beiseite, sodass er große Mühe hatte, nicht gegen das Bett zu stoßen.

»Was genau hattest du hier eigentlich vor?«, fragte meine Stimme ruhig. »Wolltest du mit meinem Kopf zu Jean-Baptiste gehen und dann den Rest meiner Sippe auslöschen?«

»Ich begleiche nur eine alte Rechnung«, zischte Lucien. »Deine Sippschaft interessiert mich nicht im Geringsten. Aber du bringst mich da auf eine Idee. Vielleicht gebe ich einen kleinen Grillabend für meine befreundeten Revenants, sobald ich Kate getötet habe. Dann nehm ich euch mit und benutze deinen Kopf, um das Feuer zu entfachen.«

»Ich vermute mal, dein Vorhaben, Kate zu töten, wird sich schwierig gestalten«, hörte ich mich selbst sagen, als ich auf ihn zustürmte mit einer Kraft, die zehnmal stärker war als ich selbst. Lucien erwartete mich mit erhobenem Schwert, aber ich war so schnell bei ihm, dass er gar nicht mehr reagieren konnte.

»Das ist für alle Unschuldigen, die du in den Tod getrieben hast«, sagte ich und hieb tief in seine schon verletzte rechte Seite.

Sein Schwert fiel klirrend zu Boden, er brüllte vor Schmerz und stürzte zum Kamin. Blut tropfte ins Feuer, als er sich vorbeugte und auf die Knie ging, um den Dolch aufzunehmen, den er am Kamin hatte liegen lassen. Dann sprang er unfassbar schnell auf die Füße und schleuderte das Messer in Richtung meines Kopfs. Ich sprang beiseite, jedoch nicht schnell genug, sodass sich die Klinge tief in meine rechte Schulter bohrte.

Ich schrie nicht. Dazu blieb gar keine Zeit. Ich nahm das Schwert in die rechte Hand und zog mit der Linken das Messer aus meiner Schulter. Ohne das kleinste Zögern schleuderte ich es mit der Kraft eines Superhelden zurück zu ihm. Es riss ihn einen Schritt rückwärts, als das Messer tief in sein linkes Auge bis zu seinem Gehirn eindrang. »Und das ist für all meine Anverwandten, die du auf dem Gewissen hast«, hörte ich mich sagen. Luciens rechtes Auge verdrehte sich himmelwärts, sein Mund stand offen und er stolperte wie in Zeitlupe auf mich zu.

Ich wandte mich ab und sprang auf den Couchtisch. Mit beiden Händen riss ich das Schwert hoch in die Luft und zielte mit voller Wucht auf seinen Nacken. Ich spürte, dass das Schwert seinen Körper glatt durchtrennte, sein Kopf flog in einem blutigen Bogen durch die Luft.

Der kopflose Körper blieb noch einen Moment stehen, bevor er auf dem Boden zusammensackte. »Jetzt kannst du in der Hölle schmoren«, sagte Vincent, als ich den Kopf beim Schopf packte und damit zum Kamin ging.

Genau in diesem Augenblick flog die Tür krachend auf und Ambrose stürmte herein. Er brüllte wie ein Verrückter und schwang eine Streitaxt in einer Hand. In seinem anderen Arm klaffte eine furchterregende Fleischwunde, Blut rann aus einer Kopfwunde über sein Gesicht und auch seine zerfetzten Kleider waren blutgetränkt.

Sein wilder Blick blieb an Luciens enthaupteter Leiche hängen und schnellte dann zu Vincents Körper, der in der Nähe vom Kamin lag. Dann sah er mich nur ein paar Meter entfernt stehen, in der einen Hand mühelos ein gigantisches Schwert, in der anderen Luciens Kopf. Er nickte stumm, ich nickte bestätigend. Dann drehte ich mich zu dem brausenden Feuer und warf den Kopf in die lodernden Flammen.

»Die Leiche«, sagte ich. Ambrose und ich fassten Lucien bei den Armen und Beinen. Mit einem kleinen Schwung wuchteten wir seine Leiche auf die brennenden Scheite.

»Vincent, bist du das?«, fragte Ambrose, trat einen Schritt zurück und sah mich an. Mein Kopf nickte. »Das will ich schwer hoffen, weil ... wenn das nur du bist, Katie-Lou, dann hab ich hochoffiziell Schiss vor dir.« Ich lächelte ihn an, er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Komm raus da, Vin, du machst mir Angst«, sagte er.

Bereit?, fragte Vincent mich.

»Ja«, antwortete ich und spürte sofort, wie die ganze Energie wieder zischend durch die Hintertür in meinem Kopf verschwand. Mein Körper fühlte sich an wie ein Ballon, aus dem alle Luft entwich. Ambrose machte schnell einen Schritt auf mich zu, um mich aufzufangen. Er setzte mich vorsichtig auf den Boden.

Kate! Bist du in Ordnung?, hörte ich sofort Vincents Stimme.

Ich nickte. »Ja, mir geht’s gut.«

Und deinem Kopf? Keine Irritation? Panik?

»Vincent, ich bin ganz die Alte, mal davon abgesehen, dass ich mich sicher eine Woche lang nicht werde bewegen können, so erschöpft wie ich bin.«

Unglaublich.

»Gaspards Leiche liegt draußen«, sagte ich an Ambrose gerichtet.

»Wir haben ihn gefunden. Jean-Baptiste kümmert sich um ihn, der wird schon wieder.«

»Wie geht’s den anderen?«, fragte ich, den Blick auf das Blut auf seinem Hemd gerichtet.

Er nickte. »Wir haben’s alle geschafft.«

Ich atmete erleichtert auf. »Und Charles?«

»Wir haben seine Leiche«, antwortete Ambrose. Mit einer Geste Richtung Bett fragte er: »Was macht deine Schwester hier?«

»Ach, du meine Güte, Georgia!«, schrie ich und sah zu ihr hinüber. Mit allerletzter Kraft krabbelte ich zu ihr und legte ihr meine Hand auf das blasse Gesicht.

»Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Ich glaub schon. Mir tut nur jede Bewegung weh«, antwortete sie mit schwacher Stimme.

»Sie braucht Hilfe«, sagte ich mit Nachdruck zu Ambrose. »Sie hat vielleicht eine Gehirnerschütterung. Sie ist mit großer Wucht gegen den Bettpfosten geknallt und war eine Weile bewusstlos. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Hand gebrochen ist.«

Ambrose hockte sich über sie und zog sie, so vorsichtig es ging, ohne ihren Hals zu sehr zu bewegen, aus ihrer zusammengerollten Position und legte sie flach auf den Boden.

»Sie muss ins Krankenhaus«, sagte ich.

»Sie ist nicht die Einzige, die ärztliche Hilfe braucht«, erwiderte Ambrose und deutete auf meine Schulter.

Ich schaute an mir hinunter. Mein Hemd war blutgetränkt. Plötzlich kroch ein brennender Schmerz meinen Arm entlang, bis er an der offenen Wunde explodierte. Ich fasste mir schnell an die Schulter und ließ dann genauso schnell meine Hand wieder sinken, als ein weiterer Schmerz mich durchfuhr.

Im Korridor näherten sich laufende Schritte. Ich schaute gerade auf, als Jules durch die Tür geschossen kam. »Kate?«, fragte er, Panik in der Stimme.

»Ihr geht’s gut«, sagte Ambrose, »ein paar ordentliche Kratzer an der Schulter und am Bein, aber sie lebt.«

Er blickte sich wild im Zimmer um. Kaum dass er Vincents Körper in der Nähe vom Kamin sah, fiel er vor Erleichterung auf die Knie. Den Kopf in den Händen, sagte er leise in die Luft: »Oh Mann, Vince. Was bin ich froh, dass du noch da bist.«

Scharfer, beißender Rauch quoll aus dem Kamin, als Luciens Leiche Feuer fing. Ambrose sagte mit Blick zur Feuerstelle: »Wir sollten schnellstmöglich hier raus, wenn wir nicht ersticken wollen.«

Jules stand auf, öffnete die Fenster und hockte sich dann zu uns. »Wie geht’s ihr denn?«, fragte er und nickte in Georgias Richtung.

»Sie lebt«, sagte ich nur.

»Und wie geht’s dir?«, fragte er und nahm mein Gesicht in beide Hände.

Mir traten Tränen in die Augen. »Mir geht’s gut«, sagte ich und wischte sie schnell weg.

»Oh, Kate«, sagte er und schlang seine Arme um mich. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Ein bisschen menschliche Wärme. Okay, nicht menschlich, aber das war auch egal. Vincent konnte mich gerade nicht in den Arm nehmen und Jules war mehr als nur irgendein Ersatz.

»Danke«, flüsterte ich.

»Krankenhaus«, sagte Ambrose knapp und stand auf, um ein Handy aus seiner Tasche zu holen. Er ging in eine andere Ecke des Zimmers, um zu telefonieren. Jules ließ mich los und wollte, dass ich ihm folgte.

Ich sah meine Schwester an. Sie wirkte benommen. »Wir fahren ins Krankenhaus. Alles wird gut.«

»Wo ist er? Lucien?«, fragte sie matt.

»Tot«, sagte ich.

Sie schaute mich an und fragte: »Was ist passiert?«

»Wie viel hast du mitbekommen?«, fragte ich zurück.

Sie lächelte mich schwach an und sagte: »Genug, um zu wissen, dass meine Schwester arschkrass mit dem Schwert kämpfen kann.«