Mamie hatte gefragt, ob wir uns ein traditionelles Essen zu Thanksgiving wünschten, doch weder Georgia noch mir war danach, den Tag groß zu feiern. Alles Amerikanische erinnerte mich zu sehr an zu Hause. Und zu Hause erinnerte mich an meine Eltern. Also fragte ich Mamie, ob wir nicht so tun könnten, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Sie war einverstanden.
Deshalb verbrachte ich Thanksgiving lesend im Bett und versuchte, nicht an meinen Freund zu denken, der nur ein paar Häuserblocks entfernt tot auf seinem Bett ruhte.
Freitagmorgen lief ich die fünf Minuten von mir bis zu Jean-Baptistes Haus. Ich tippte den Türcode ein, den Vincent mir mal per SMS geschickt hatte, und schon schwang das Tor auf.
Als ich vor der Eingangstür stand, war ich mir nicht sicher, ob ich anklopfen oder einfach reingehen sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und Gaspard stand vor mir. Nervös knetete er seine Hände.
»Mademoiselle Kate«, sagte er und verbeugte sich ungeschickt dabei. »Vincent hat mir gesagt, dass du hier bist. Komm herein, komm herein.« Er sah nicht im Geringsten so aus, als wolle er mich mit bises begrüßen. Weil ich fürchtete, dass schon meine bloße Anwesenheit ihn an den Rand eines Herzinfarkts brachte, bestand ich auch nicht darauf.
»Gibt’s was Neues?«, fragte ich.
»Leider nein«, antwortete Gaspard. »Komm doch mit in die Küche. Vincent bittet mich, dich zu fragen, ob du einen Kaffee möchtest.«
»Nein, vielen Dank, ich habe gerade erst gefrühstückt.«
»Gut. Vincent sagt, dass du dann gleich zu ihm ins Zimmer kommen kannst, damit er dir helfen kann ... bei Trig...« Gaspard sah verwirrt aus.
»Trigonometrie«, erklärte ich und lachte. In die Luft sagte ich: »Danke, Vincent, aber Mathe habe ich zu Hause gelassen. Du darfst mir heute bei Englisch und Geschichte über die Schulter gucken.«
Jetzt lachte Gaspard nervös. »Vincent sagt, dass ich dir dabei viel besser helfen könnte. Da hat er wahrscheinlich recht, ich habe einen nicht unermesslichen Teil der Geschichte selbst miterlebt. Aber ich würde dich ungern mit meinen Erzählungen langweilen.«
Da mich das Gefühl nicht losließ, dass einer Jugendlichen bei ihren Hausaufgaben zu helfen mit zum Letzten gehörte, was Gaspard an diesem Morgen tun wollte, lehnte ich dankend ab, zu seiner sichtlichen Erleichterung.
»Charlotte ist unterwegs. Aber ich richte ihr aus, dass du da bist, sobald sie zurückkehrt«, sagte er. Schon waren wir vor Vincents Tür angelangt.
»Vielen Dank«, erwiderte ich.
Vincents Zimmer sah genauso aus wie beim ersten Mal, als ich hier war. Die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Das Kaminfeuer war erloschen — so wie jedes Leben in Vincents Körper. Wieder überlief mich ein Schauer, als ich seine leblose Silhouette dort hinter dem seidenen Vorhang auf dem Bett liegen sah.
Ich zog die Tür hinter mir zu, deponierte meine Tasche auf der Couch und ging zum Bett. Dort lag er, völlig unbeweglich. Keine Spur von Leben in sich. Er sah komplett anders aus als jemand, der einfach nur schläft und dessen Brustkorb sich regelmäßig hebt und senkt, weil er ein- und ausatmet. Ich zog die Vorhänge beiseite, setzte mich zu ihm aufs Bett und starrte ihn an. Selbst tot war er überwältigend schön.
»Irgendwie komme ich mir ziemlich blöd dabei vor, so mit dir zu sprechen«, sagte ich. »Ich rechne die ganze Zeit damit, dass du jeden Moment aus dem Schrank springst und mich auslachst.«
Im Zimmer war es still.
Zögernd fuhr ich mit meinen Fingern über seinen kalten Arm und hatte große Mühe, meine Hand nicht einfach zurückzureißen, weil seine Haut sich so unnatürlich anfühlte. Dann legte ich ihm ganz langsam meinen Daumen auf den Mund. Seine Haut war kalt, aber weich. Es war ein aufregendes Gefühl, den Schwung seiner perfekt geformten Lippen nachzuzeichnen. Ich streichelte über sein dickes gewelltes Haar, bevor ich ihn ganz sachte auf den Mund küsste. Ich spürte nichts, Vincent war nicht da.
»Nutze ich deinen wehrlosen Zustand aus?«, flüsterte ich und fragte mich, ob er mich wohl hören konnte. »Weil du nicht mal Nein sagen kannst, selbst wenn du das wolltest?«
Obwohl es im Zimmer weiterhin still war, überfiel mich das seltsamste Gefühl. Als würde jemand etwas in meinen Verstand schreiben wie auf eine Tafel. Es war sehr anstrengend, so als würde etwas mit großem Gewicht hin und her bewegt. Dann erschienen plötzlich diese drei Wörter in meinem Kopf: Ich gehöre dir.
»Vincent, warst du das?«, fragte ich überrumpelt. Mein Körper fühlte sich an wie ein über und über mit Lichterketten behängter Baum, deren Lichter alle auf einmal eingeschaltet worden waren.
»Jedenfalls, wenn du das warst, hast du mich ganz schön erschreckt, was aber nicht weiter schlimm ist. Wenn du es allerdings nicht warst, dann dreh ich wohl langsam durch, weil ich zu viel Zeit mit einem toten Kerl verbringe. Vielen Dank für die Gefährdung meines Seelenheils«, sagte ich und versuchte, Sarkasmus vorzutäuschen — was mir aber nicht wirklich gelang, weil ich fürchterlich zitterte.
Ich hatte den Eindruck, dass ich so etwas wie Belustigung im Zimmer spürte, aber nur sehr schwach, weshalb ich befürchtete, mir das nur einzubilden. »Jetzt werd ich langsam paranoid«, sagte ich. »Bevor ich hier noch eine Johanna-von-Orleans-hört-Stimmen-Nummer abziehe, fang ich lieber mal mit meinen Geschichtshausaufgaben an.«
Stille.
Ich ließ den Bettvorhang offen, sodass ich Vincent von der Couch aus sehen konnte, kramte meine Bücher aus der Tasche und breitete sie auf dem Couchtisch aus.
Da erst fiel mir der Umschlag auf, der auf Vincents Nachttisch an der Vase lehnte. Mein Name stand in seiner wunderschönen Handschrift darauf. Ich holte ihn mir und zog ein Stück dickes Papier hervor. Die Initialen VPHD waren mittig an den unteren Rand geprägt, Wein und Blätter rankten sich darum. Gespannt begann ich zu lesen.
Kate,
da ich mich dir gegenüber selten gut ausdrücken kann, nutze ich die Gelegenheit, dass ich nicht reagieren kann, während du dies hier liest, weil so eine Chance besteht, dass ich nicht sofort wieder alles vermassle.
Ich möchte mich bei dir dafür bedanken, dass du mir eine Chance gibst. Schon als ich dich das erste Mal sah, wusste ich, du bist etwas Besonderes. Seit diesem Tag wünsche ich mir nichts mehr, als so viel Zeit wie nur möglich mit dir zu verbringen.
Dann kamen die Wochen, in denen ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich war hin- und hergerissen zwischen zwei Wünschen: Einerseits wollte ich dich zurückgewinnen, andererseits wollte ich nur das Beste für dich — dich glücklich zu sehen, war das Wichtigste für mich. Aber dass es dir so schlecht ging in diesen Wochen, hat mir die Kraft gegeben, um uns zu kämpfen ... einen Weg für uns beide zu suchen. Jetzt merke ich, wie glücklich du bist, seit wir wieder zusammen sind und bin mir sicher, es war die richtige Entscheidung.
Ich kann dir leider keine gewöhnliche Beziehung versprechen, Kate. Ich wünschte, ich könnte mich in einen normalen Mann verwandeln und jeden Tag für dich da sein, ohne dir die Last mit aufbürden zu müssen, ein lebendiger Toter zu sein. Da das leider nicht möglich ist, möchte ich dir noch einmal versichern, dass ich alles daransetzen werde, dich dafür zu entschädigen. Dir mehr zu bieten, als ein normaler Freund das könnte. Zwar weiß ich noch nicht, was genau das sein wird, aber ich freue mich schon darauf, es herauszufinden. Mit dir an meiner Seite.
Danke, dass du für mich da bist, meine Schöne. Mon ange. Meine Kate.
Ganz dein
Vincent
Was macht man, nachdem man den romantischsten Liebesbrief seines Lebens bekommen hat? Auch wenn es genau genommen der erste bisher war ...
Ich ging zu Vincents Bett, kletterte zu ihm auf die hohe Matratze und setzte mich neben ihn. Ich nahm sein kaltes Gesicht in meine warmen Hände. Dann fuhr ich ihm mit einer Hand wieder und wieder durch die Haare und fing an zu weinen.
Ich weinte um mein früheres Leben. Um die Morgen, an denen ich in meinem damaligen Zimmer aufgewacht und dann hinunter in die Küche gegangen war, wo meine Mutter und mein Vater am Frühstückstisch saßen und auf mich warteten. Ich weinte, weil ich sie nie Wiedersehen würde und mein Leben nie wieder so sein würde wie damals.
Ich dachte darüber nach, dass ich nach all diesen Wochen voller Trauer jemanden getroffen hatte, der mich liebte. Er hatte es zwar noch nicht ausgesprochen, aber ich hatte es in seinen Augen gelesen, genau wie zwischen den Zeilen, die er mir geschrieben hatte. Die Welt, die ich kannte, war untergegangen, und das aus mehr als nur einem Grund. Aber das Glück wartete in einer neuen Welt auf mich. Einer Welt, die vielleicht besser in Science-Fiction- oder Horrorfilme passte, aber in der ich Zärtlichkeit, Freundschaft und Liebe finden konnte.
Obwohl ich mich noch immer nach meinem alten Leben sehnte, wusste ich, dass dies hier eine zweite Chance war. Sie hing wie eine reife Frucht direkt vor meiner Nase, ich musste einfach nur meine Hand ausstrecken und sie abpflücken. Aber zuerst musste ich loslassen, was ich noch so fest umklammert hielt, dass meine Fingerknöchel ganz weiß waren: meine Vergangenheit.
Mir wurde ein neues Leben im Tausch gegen mein altes angeboten. Es fühlte sich an wie ein Geschenk. Ich fühlte mich hier zu Hause. Ich öffnete meine Hände und ließ los. Und dann weinte ich, bis mir die geschwollenen Augen zufielen und ich erschöpft einschlief.
Als ich eine Stunde später wieder aufwachte, wusste ich einen Moment lang nicht, wo ich war. Dann spürte ich Vincents kalten Körper an meiner Seite und schon durchflutete mich ein überwältigendes Gefühl von Ruhe und ich fühlte mich stärker als jemals zuvor.
Ich hörte ein Geräusch, drehte mich um und sah, dass Charlotte ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. »Ich war vorhin schon mal hier, aber da hattest du noch geschlafen. Bist du jetzt wach?«
»Ja«, sagte ich und rutschte vom Bett.
»Schön«, sie schlüpfte herein und schloss die Tür hinter sich. »Du hast geweint«, sagte sie, nachdem sie meine beiden Wangen geküsst hatte.
Ich nickte. »Aber es ist alles in Ordnung. Du siehst allerdings auch nicht gerade wie das blühende Leben aus.«
Charlotte, die sonst vor Freude strahlte, wirkte leer. All ihre Lebendigkeit war verschwunden. Sie sah müde und traurig aus. »Es ist wegen Charles«, sagte sie.
»Er hat sich noch immer nicht gemeldet?«, fragte ich und zog sie mit mir zum Sofa.
Sie schüttelte mutlos den Kopf.
»Ich hab ihn sicher tausendmal angerufen und ihm Dutzende Nachrichten hinterlassen. Wir überwachen alle Lokale, von denen wir wissen, dass sie von den Numa betrieben werden, haben all unsere Informanten abgeklappert und sogar eine alte Lagerhalle gestürmt, in der wir ihn vermutet haben. Aber wir haben nichts herausgefunden.«
»Das tut mir sehr leid.« Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte, also legte ich ihr tröstend eine Hand auf den Arm.
»Er ist mein Zwillingsbruder, Kate. Wir waren noch nie voneinander getrennt, außer in unseren Ruhephasen. Es fühlt sich an, als wäre ein Teil von mir selbst verschwunden. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihn.«
Ich nickte. »Vincent hat mir erzählt, was er vermutet.«
»Ich verstehe das einfach nicht«, flüsterte sie kopfschüttelnd.
Sie lehnte sich an mich und ich nahm sie in den Arm.
»Vincent hat uns bis gerade eben allein gelassen, würde sich aber jetzt gerne in unser Gespräch mit einklinken.«
»In Ordnung«, sagte ich.
Sie nickte. Während sie ihm zuhörte, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich.
»›Wir alle hier sind verlorene Seelen. Es ist gut, dass wir einander haben.‹«
Vincent hat recht, dachte ich. Auch wenn ich kein Revenant bin, passe ich doch ziemlich gut dazu. Ich suchte nach einer Packung Taschentücher und reichte Charlotte eins.
Sie trocknete ihre Augen. Dann sah sie mich überrascht an. »Vincent sagt, er hat heute Morgen mit dir gesprochen und du hast ihn gehört!«
»Also habe ich mir das doch nicht eingebildet?«, fragte ich überrascht. »Frag ihn, was er gesagt hat.«
»›Ich gehöre dir‹.«
»Genau!«, rief ich und sprang auf. Zum tausendsten Mal schaute ich in seine Richtung, bevor mir wieder einfiel, dass das ja nur sein Körper war. »Aber wie ist das möglich?«, wollte ich wissen. »Er hat mir erzählt, dass ein Revenant, wenn er volant ist, nur über einen anderen Revenant mit einem Menschen kommunizieren kann.«
Charlotte hörte eine Weile zu, ehe sie wieder zu sprechen begann. »Vincent sagt, dass er sich noch mal schlau gemacht hat. Es ist zwar selten, dass so etwas vorkommt, aber wenn ein Mensch und ein Revenant viele Jahre zusammengelebt haben, dann kann so etwas durchaus passieren. Geneviève ist der einzige Revenant, den wir kennen, dem das geglückt ist. Ihr Mann kann allerdings keine einzelnen Wörter verstehen, sondern hat nur ein Gefühl, was sie ihm ungefähr mitteilen möchte.«
»Aber wir sind noch keine Jahre, sondern erst ein paar Wochen zusammen«, warf ich zweifelnd ein. »Wie ist das also möglich?«
»Er sagt, er weiß es nicht, möchte es aber noch einmal probieren«, antwortete Charlotte aufgeregt.
»In Ordnung«, sagte ich und ging zu seinem Bett.
»Nein, bleib besser hier«, meinte Charlotte. »Das lenkt dich nur ab, wenn du seinen Körper dabei siehst. Er sagt, du sollst deine Augen schließen und an nichts denken. So, wie du das immer im Museum machst.«
Ich lächelte, als mir wieder einfiel, dass er mich in meinem tranceähnlichen Zustand im Musée Picasso gesehen hatte. Ich schloss die Augen, atmete ruhig und ließ die Ruhe im Zimmer durch meinen Körper strömen. Langsam meldete sich wieder das Gefühl, das ich am Morgen schon hatte. Als würde jemand versuchen, etwas in meinen Verstand zu schreiben.
»Hörst du etwas?«, fragte sie.
»Nein, aber ich sehe etwas ... So, als würde jemand einzelne Wörter schreiben.«
»Er sagt, dass du zu bildlich denkst. Nimm nicht dein inneres Auge, sondern dein inneres Ohr. So, als würdest du versuchen, Musik zu hören, die sehr leise und weit weg gespielt wird. Konzentrier dich darauf.«
Ich versuchte es. Und dann hörte ich ein Rauschen, das klang wie der Wind, der durch Bäume raschelt. Oder ein statisches Rauschen im Radio.
»Du sollst dich dabei nicht verkrampfen, sagt er. Lass es einfach auf dich wirken«, hörte ich Charlottes Worte zu mir durchdringen.
Ich entspannte mich. Das Rauschen wurde zu einem Knistern, das mich an eine Plastiktüte erinnerte, die vom Wind durch die Luft getragen wurde. Und dann hörte ich etwas. Pont des Arts.
»Pont des Arts?«, sagte ich laut.
»Die Brücke, die über die Seine führt?«, fragte Charlotte irritiert. Dann nickte sie. »Laut Vincent ist dort etwas sehr Wichtiges passiert.«
Ich lachte. »Ähm, ja. Dort haben wir uns zum ersten Mal geküsst.«
Charlottes trauriges Gesicht hellte sich ein bisschen auf. »Mein Gott. Ich wusste, dass Vincent total romantisch sein kann, wenn er nur das richtige Mädchen trifft.« Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und faltete die Hände über ihrem Herzen. »Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, Kate.«
Wir schulten noch eine halbe Stunde lang meine Fähigkeit, Nachrichten von Untoten zu empfangen. Charlotte bog sich vor Lachen, wenn ich mal wieder völlig daneben lag, weil Vincent sich statt eines gewöhnlichen Übungssatzes völligen Unsinn ausgedacht hatte.
»Die Acht hat einen ... unebenen Knoten?«, fragte ich verwirrt.
»Nein, falsch. Die Nacht der lebenden Toten!« Charlotte lachte schallend.
Schließlich verstand ich fast alles richtig, obwohl die Stimme, die ich hörte, absolut nicht wie Vincents klang. Es tauchten einfach Wörter aus dem Nichts auf. Und immer nur ein paar auf einmal.
»Geht was essen!?«, fragte ich.
»Richtig. Und eine fantastische Idee. Vincent sagt, es ist Zeit für eine Mittagspause. Und dass Jeanne uns erwartet.«
Als wir in der Küche ankamen, stopften Ambrose und Jules bereits mächtige Portionen von gegrilltem Hähnchen und Pommes in sich hinein. Jeanne saß bei ihnen und hörte sich gebannt an, was sie auf ihrer morgendlichen Suche erlebt hatten. Sie sprang gleich auf, als sie uns sah, und deutete auf die Teller, die sie schon für uns gedeckt hatte.
»Stellt euch vor, Jungs, Vincent kann mit Kate sprechen. Jetzt, während er volant ist«, sagte Charlotte mit einem selbstzufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht.
Alle hielten in ihren Bewegungen inne und starrten mich an. Die Erste, die ihre Worte wiederfand, war Jeanne. »Das überrascht mich jetzt nur ein kleines bisschen. Ich hab euch auch immer gesagt, dass ich euch spüren kann, wenn ihr volant hier herumschwirrt. Ich weiß sogar, wer von euch gerade da ist. Aber ihr wolltet mir ja nie glauben.«
»Das ist unmöglich!«, rief Ambrose überrascht aus. In die Luft sagte er: »Niemals, Vincent!«
»Es ist nicht völlig unmöglich«, erwiderte Jules. »Vincent hat mir erzählt, dass er Gaspards Aufzeichnungen zu Beziehungen zwischen Menschen und Revenants durchgegangen ist. Dabei ist er auf ein paar nicht weiter belegte Fälle gestoßen, in denen genau davon berichtet wird.«
»Ich weiß«, sagte Ambrose. »Das hat er mir auch erzählt. Aber das waren nur Gerüchte oder abgefahrene Geschichten. War ja klar, dass Vincent bis an die Grenze geht und es selbst ausprobiert.«
Neugierig fragte ich: »Gibt es noch mehr nicht weiter belegte Gerüchte? Irgendwas, wovon ich wissen sollte?«
Ambrose steckte sich eine Pommes in den Mund und grinste hinterhältig. »Versuch mal, dich an die schaurigsten Geschichten zu erinnern, Katie-Lou, an alle Altweibergeschichten und Märchen, die dir je zu Ohren gekommen sind. Jetzt stell dir vor, dass sie alle ein Körnchen Wahrheit enthalten, dass alle eine wahre Geschichte zum Ursprung hatten. Sei einfach froh, dass du dich nicht in einen Vampir verliebt hast.« Er schob sich eine letzte Pommes in den Mund, stand dann auf, streckte sich, wobei sich deutlich seine beeindruckenden Brust- und Armmuskeln abzeichneten, und sagte schließlich: »Wie sieht’s aus Jules, Lust, dich mit mir in ein Abenteuer zu stürzen?«
Jules wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, stand ebenfalls auf und brachte seinen Teller zur Spüle. »Danke, Jeanne. Ein Festessen, wie immer.« Jeanne strahlte. »Vincent, kommst du mit?«
Kommst du ohne mich klar? Dieser Satz erschien in meinem Kopf. Ich lächelte.
»Ja, begleite sie ruhig. Sieht so aus, als könnten die beiden gut jemanden brauchen, der auf sie aufpasst«, antwortete ich schmunzelnd.
»Nee, oder? Hat er grad mit dir gesprochen?«, fragte Ambrose mit offenem Mund.
Ich nickte und konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken.
»Er ist ein Glückspilz«, sagte Jules zu mir und küsste meine Wangen. »Was würde ich dafür geben, in deinem Kopf zu sein!« Statt der sonst üblichen Luftküsschen, küsste er diesmal jede Wange sehr zärtlich.
»Jules!«, schnaufte ich und lief rot an.
Er richtete sich auf und nahm beide Hände in die Luft, als würde er sich ergeben. »Schon gut, schon gut. Ich hab ja verstanden, Finger weg! Aber wir haben so selten schöne junge Menschen im Haus. Um ehrlich zu sein, eigentlich nie.« Er wandte sich zum Gehen, warf mir aber noch einen Blick über die Schulter zu. »Tschüss, Kate. Und vergiss nicht, ich stehe dir die nächsten Tage komplett zur Verfügung, schließlich ist Vincent ja anderweitig beschäftigt.« Er zwinkerte. Mein Gesicht brannte. Ich ignorierte ihn geflissentlich, während er die Küche verließ.
»Was sollte das denn?«, wollte Charlotte neugierig wissen.
»Ganz im Ernst: Ich habe nicht den blassesten Schimmer«, seufzte ich.