Wieder in seinem Zimmer angelangt, suchte Vincent sich ein paar saubere, frische Klamotten aus einem vertäfelten Schrank, der in eine der Wände eingelassen war. Er grinste mich an. »Wolltest du zugucken?« Ich wurde rot und wandte mich ab.
»Sag mal, Vincent«, sagte ich und tat so, als würde ich mir seine Fotosammlung ansehen, während ich hörte, wie er sich hinter mir anzog. »Hast du kommendes Wochenende Zeit, zu uns zum Essen zu kommen, um meine Großeltern kennenzulernen?«
»Endlich stellt sie die lang ersehnte Frage. Aber ich muss leider ablehnen.«
»Warum?«, entfuhr es mir überrascht. Ich drehte mich um, da kam er schon mit belustigter Miene auf mich zu.
»Weil ich am kommenden Wochenende alles andere als vorzeigbar sein werde. So gern ich deine Großeltern kennenlernen würde, aber ich werde weder sprechen, geschweige denn aufrecht sitzen können.«
»Oh, und wann genau ruhst du?« Meine Stimme verklang, als der fremde Satz über meine Lippen geglitten war.
Er schnappte sich sein Mobiltelefon und sah im Kalender nach. »Donnerstag, den Siebenundzwanzigsten.«
»Da ist Thanksgiving«, sagte ich. »Wir haben Donnerstag und Freitag schulfrei. Wie schade, dass du da keine Zeit hast.«
»Die Zeit macht vor niemandem halt, besonders nicht vor Wesen meiner Art. Tut mir sehr leid.«
»Und davor?«, fragte ich. »Heute ist Montag. Wie wär’s mit morgen Abend?«
Er nickte zustimmend. »Klingt gut. So machen wir das. Ich lerne also die Großeltern kennen? Was soll ich bloß anziehen?«, neckte er mich.
»Solang du keinen Leichensack trägst, bin ich mit allem einverstanden«, lachte ich und wandte mich wieder den Porträtaufnahmen zu.
Zwischen all den engelsgleichen Kindern, vom Kampf gezeichneten Soldaten und jugendlichen Gangstern entdeckte ich eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von einem jungen Mädchen. Sie hatte eine typische Frisur der 1940er und trug ein geblümtes Kleid. Sie steckte sich gerade ein Gänseblümchen hinter das Ohr. Ihre dunklen Lippen umspielte ein Lächeln. Sie sah atemberaubend aus.
»Wer ist das?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon wusste.
Vincent tauchte hinter mir auf und legte seine Arme um mich. Er roch frisch geduscht, nach Lavendelseife und ein bisschen nach Moschusshampoo. Ich ließ mich gegen ihn sinken und er umarmte mich fest. »Das ist Hélène«, sagte er leise.
»Sie ist wunderschön«, murmelte ich.
Er küsste sanft meine Schulter, bevor er sein Kinn darauflegte. »Ich habe es mir selbst nicht erlaubt, an eine andere Frau zu denken, bis ich dich das erste Mal sah. Seit Hélènes Tod habe ich mein Leben ausschließlich damit verbracht, ihren Tod zu rächen.«
Weil so viel Schmerz in seiner Stimme mitschwang, fragte ich: »Hast du je die beiden Soldaten gefunden, die sie getötet haben?«
»Ja.«
»Hast du ...?«
»Ja«, antwortete er, bevor ich die Frage zu Ende formulieren konnte. »Aber das hat nicht gereicht. Ich musste jeden blutdürstigen Verbrecher jagen. Selbst als die schlimmsten Besatzer und Kollaborateure erledigt waren, war ich noch nicht zufrieden.«
Es fiel mir schwer, mir Vincent dabei vorzustellen, wie er andere tötete, egal ob nun Menschen oder Revenants. Obwohl ich nun wusste, wie gut er kämpfen konnte. Ich war mir sicher, dass er und seine Anverwandten ein ganzes Heer niederstrecken konnten. Aber wer dachte ein halbes Jahrzehnt an nichts anderes als an Rache?
Dieser kalte, gefährliche Schimmer, der mich zwar angezogen, aber auch verunsichert hatte, als wir uns kennenlernten, hatte also einen Grund. Jetzt kannte ich ihn. Ich stellte mir sein Gesicht vor, vor Zorn verzerrt — und konnte bei dem Gedanken ein Schaudern nicht unterdrücken.
»Was ist los, Kate?«, fragte Vincent. »Soll ich ihr Foto abnehmen?« Ich starrte immer noch auf Hélènes Foto.
»Nein!«, sagte ich und drehte mich zu ihm um. »Nein, Vincent. Sie ist doch ein Teil deines Lebens. Es macht mir nichts aus, dass du noch an sie denkst.«
Während diese Worte über meine Lippen kamen, begriff ich jedoch, dass das gelogen war. Es machte mir sehr wohl etwas aus. Diese Frau war wunderschön. Und Vincents einzige Liebe. Selbst wenn ihre Frisur und Kleidung sie ganz klar und sicher auf ihren Platz vor siebzig Jahren verwiesen, so hatte die Erinnerung an sie dennoch seit ihrem Tod beeinflusst, was er getan oder eben nicht getan hatte.
»Das ist lange her, Kate. Manchmal fühlt es sich an wie gestern, manchmal, als wäre es Ewigkeiten her. Und es ist ja auch Ewigkeiten her. Hélène ist schon lange tot. Und ich hoffe, du glaubst mir, wenn ich dir sage, dass du keinerlei Konkurrenz hast. Weder von ihr noch von jemand anders.«
Er sah aus, als wollte er noch mehr sagen, wusste aber nicht wie. Ich drängte ihn nicht. Für mich war es völlig in Ordnung, das Thema Ex-Geliebte erst mal ruhen zu lassen. Ich nahm seine Hand und zog ihn mit. Und obwohl wir uns von den Fotos entfernten, ließ das ungute Gefühl in mir nicht nach.
»Mach’s dir bequem, ich bin gleich wieder da«, sagte Vincent und ging aus dem Zimmer. Ich schaute mir derweil seine Bücherregale an. Darin standen Bücher in allen möglichen Sprachen wild durcheinander. Die meisten englischsprachigen Titel kannte ich. Wir haben den gleichen Geschmack, was Lesestoff angeht, dachte ich mit einem Lächeln.
Auf einem der unteren Regalböden sah ich ein paar dicke Fotoalben. Ich zog eins heraus und klappte es auf. »1974-78« war von Hand auf die Innenseite geschrieben worden. Ich musste kichern, als ich es langsam durchblätterte. Vincent hatte auf den Bildern lange Haare, Koteletten und steckte in echten Hippieklamotten. Doch obwohl diese »Mode« so witzig aussah, war er doch genau derselbe schöne junge Mann, den ich heute kannte. Er hatte sich nicht verändert, nur das, was er trug, hatte sich dem heutigen Geschmack angepasst.
Auf der nächsten Seite standen Ambrose und Jules nebeneinander, der eine mit größerem Afro als der andere. Noch eine Seite weiter erkannte ich Charlotte, geschminkt im Twiggy-Style mit einem Mikro-Minikleid, neben ihr Charles, der einer jugendlichen Variante von Jim Morrison glich: zottelige Haare, nackter Oberkörper, zahlreiche Perlenketten um den Hals. Ich konnte nicht anders, als laut darüber zu lachen.
»Was ist denn so lustig?«, fragte Vincent und schloss die Tür hinter sich. Er stellte eine Flasche Wasser und Gläser auf den Tisch, dann kam er zu mir. »Aha, du hast mein Geheimversteck mit den Erpressungsfotos gefunden.«
»Zeig mir noch mehr, die sind ja unbezahlbar«, sagte ich und schob das Album wieder an seinen Platz.
Als ich mich aufrichtete, stand er direkt neben mir. »Hm, ich weiß nicht, Kate. Wenn ich meinen Stolz runterschlucke und dich noch mehr Bilder anschauen lasse, auf denen ich wie ein Clown aussehe — und das über den Zeitraum von so ziemlich dem ganzen zwanzigsten Jahrhundert —, dann kostet dich das vielleicht was.«
»Wie viel?«, hauchte ich, völlig gelähmt, weil er plötzlich so nah war. Unbewusst fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen.
»Lass mal überlegen«, flüsterte er. Er legte seine Hände um meine Hüften und zog mich fest an sich. Dann massierte er sanft meinen unteren Rücken und schon gaben meine Knie nach.
»Vielleicht ein paar Küsse hier ...«
Er neigte seinen Kopf vor. Als sein Mund nur noch wenige Millimeter von meinem Ohr entfernt war, spürte ich seinen warmen Atem auf meiner Haut. Ein wohliger Schauer durchlief mich, der sich zu einer Gänsehaut steigerte, als er seinen Kopf weiter sinken ließ und mich sanft auf den Hals küsste.
Ich zitterte leicht und seufzte instinktiv, während er sich mit kleinen, zärtlichen Küssen langsam zu der Kuhle zwischen meinen Schlüsselbeinen vorarbeitete. »Vielleicht auch hier ...«
Ich schlang ihm die Arme um den Hals und er zog mich näher an sich. Vincent küsste sich Millimeter für Millimeter über mein Kinn bis zu meinem Mund vor.
»Oder hier«, sagte er und hielt kurz inne, bevor sich unsere Lippen leicht streiften. So leicht, dass mein ganzer Körper zu kribbeln anfing. Ich wartete, doch es passierte nichts weiter. Ich öffnete meine Augen, seine waren geschlossen. Auf seinem Gesicht lag ein konzentrierter Gesichtsausdruck, Entschlossenheit krümmte seine Augenbrauen. Dann löste er sich langsam von mir.
Eine Sekunde verging. Dann riss ich voller Verzweiflung sein Gesicht an mich. Als sich unsere Lippen diesmal trafen, presste ich mich an ihn und schlang fest meine Arme um seinen Hals. Er stolperte leicht und suchte mit ausgestreckter Hand halt an der Wand. Ich spürte das Regal im Rücken und ließ mich dagegensinken, ihn mit mir reißend.
»Hoppla«, sagte er, als es ihm gelang, sich aus meinem Griff zu befreien. Er trat einen Schritt zurück, schnaufte und hielt mich eine Armlänge von sich. »Kate, ich lauf doch nicht weg«, seine Stimme klang gespielt tadelnd. »Vielleicht solltest du nicht gerade in meinem Schlafzimmer über mich herfallen. Hier bin ich am schwächsten, mein Bett steht doch gleich da drüben.«
Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht so recht, wieder in die Realität zurückzukehren. »Und du bist so verlockend«, sagte er nicht mehr ganz so atemlos, »dass es mir sehr schwerfällt, dich nicht jetzt sofort in mein Bett mitzunehmen.«
Er ging schnellen Schritts zum Fenster, riss die Vorhänge zur Seite und öffnete es, um ein bisschen kalte Novemberluft hereinzulassen. Ihre kalten Finger kühlten meinen überhitzten Kopf und ich rutschte am Regal entlang auf den Boden.
»Hier drüben ist es vielleicht bequemer«, sagte Vincent, hob mich schwungvoll mit seinen starken Armen hoch und setzte mich auf seine Couch. Dann stellte er ein Glas Wasser vor meine Nase. »Etwas, um Ihre Leidenschaft abzukühlen, Mademoiselle?«, murmelte er amüsiert.
Ich nickte dankbar und trank das Wasser in großen Schlucken. Als ich ihm das Glas zurückgegeben hatte, rollte ich mich zur Rückenlehne und versuchte, mein Gesicht zu verstecken. Mein Gott, was hab ich bloß getan?, dachte ich entsetzt. Ich zuckte beim bloßen Gedanken daran zusammen, wie ich mich auf ihn gestürzt und mich praktisch an seinem Gesicht festgesaugt hatte, gerade als er ganz deutlich gezeigt hatte, dass es für ihn schon genug war.
»Was ist los, Kate?«, schmunzelte Vincent und zog die Hände von meinem roten Gesicht.
»Entschuldige«, sagte ich mit brüchiger Stimme. Ich räusperte mich. »Entschuldige, dass ich so über dich hergefallen bin. Das ist mir noch nie ...«
»Schon gut«, unterbrach Vincent mich. Er sah aus, als müsste er sich mit Mühe das Lachen verkneifen.
»Nein, ist es nicht. Ich bin noch nie über jemanden hergefallen. Ich habe bisher vielleicht mit drei Jungs rumgeknutscht, aber so was ist mir noch nie passiert. Das ist mir einfach irgendwie peinlich. Und es überrascht mich.«
Vincent ließ seinem Lachen nun freien Lauf. Dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Das war eine schöne Überraschung, Kate. Ich freu mich schon auf das nächste Mal. Aber vielleicht sollte das besser nicht hier sein, sondern irgendwo, wo’s sicherer ist. Auf dem Eiffelturm vielleicht? Wenn wir zwischen hundert japanischen Touristen stehen ...«
Ich nickte und war insgeheim froh darüber, dass er es langsam angehen wollte. Obwohl ich mich gleichzeitig fragte, warum das sein Wunsch war.
Vincent hatte meine Gedanken gelesen. »Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen, weiter zu gehen. Ganz im Gegenteil, glaub mir.« Seine Augen glühten. Mein Herz reagierte sofort und schlug schneller. »Aber ich möchte dich erst besser kennenlernen dürfen, bevor wir ... zum Wesentlichen kommen.« Er legte mir seinen Finger ans Kinn, folgte zärtlich seinem Verlauf meinen Hals hinunter. »Das Warten wird schön, auch wenn es nicht leicht wird.«
Wieder führte er seinen Mund zu meinem. Ich hatte das Gefühl, den Jackpot geknackt zu haben. Er war der perfekte Freund. Obwohl ich es gerade lieber hätte, er wäre nicht so perfekt, dachte ich. Mir wurde immer wärmer. Die Berührung, die Küsse. Jetzt löste er sich wieder von mir. Um mich abzulenken und um zu verhindern, dass ich spontan in Flammen aufging, setzte ich mich gerade hin und nestelte an meinen Haaren und Klamotten herum.
»Lass uns lieber woanders hingehen, bevor ich all das, was ich gerade gesagt habe, über den Haufen werfe. Ich begleite dich nach Hause«, sagte er und schnappte sich unsere Mäntel und meine Tasche. Dann öffnete er die Tür und wartete auf mich.
»Ich muss zugeben, dass ich so eine Ahnung hatte«, sagte er kryptisch.
»Was für eine Ahnung?«, fragte ich.
»Dass sich hinter deiner altmodischen Fassade eine wilde Bestie verbirgt«, lachte er.
Ich biss mir auf die Lippe und ging an ihm vorbei in den Flur.