»Gehen wir ein Stück«, sagte Vincent, half mir auf und bot mir seinen Arm zum Unterhaken. Wir spazierten weiter und betrachteten die vorbeifahrenden Boote, die grüne Wellen mit Schaumkronen hinter sich herzogen, die bald darauf gegen das Ufer schlugen.

»Wie bist du ... gestorben? Ich meine das erste Mal«, fragte ich.

Vincent räusperte sich. »Ist es in Ordnung für dich, wenn ich dir das ein andermal erzähle?«, fragte er und klang, als wäre es ihm unangenehm. »Ich möchte dich nicht mit Geschichten aus einer Zeit vergraulen, in der ich noch ganz anders war als heute — nicht bevor du Gelegenheit dazu hattest, mich so kennenzulernen, wie ich jetzt bin.« Er lächelte mich unbeholfen an.

»Dann muss ich dir also auch nichts über meine Vergangenheit erzählen?«, schoss ich zurück.

»Nein«, er seufzte. »Ich fange gerade erst an, dich zu verstehen.« Er machte eine Pause. »Können wir uns so einigen: Ich beantworte dir die Frage noch, nur nicht jetzt gleich. Fällt dir noch was anderes ein, das du wissen möchtest?«

»Hm, wie wär’s mit einer Erklärung dafür, warum ein Foto von mir auf deinem Nachttisch steht«, versuchte ich es.

»Fandest du das gruselig?«, fragte er lachend.

»Ja, ein bisschen«, gab ich zu. »Obwohl ... eigentlich war der Gruselfaktor schon recht hoch, schließlich hab ich es gesehen, unmittelbar nachdem ich dich tot auf deinem Bett gefunden hatte.«

»Charlotte und ich haben ein bisschen um das Bild gestritten«, sagte er. »Sind dir die anderen Fotos an meinen Wänden aufgefallen?«

»Ja, auch bei Charlotte im Zimmer. Sie hat gesagt, das waren alles Leute, die sie gerettet hat.«

Er nickte. »Das stimmt. Und weil wir beide dich gerettet haben, hatten wir beide Anspruch auf dein Bild.«

»Das versteh ich nicht«, sagte ich verwirrt.

»Erinnerst du dich noch an den Tag im Café, als du fast ein Stück Pariser Geschichte geworden wärst?«

Ich nickte.

»Charlotte hat dich weggelockt, weshalb das Fassadenteil dich nicht getroffen hat. Aber ich habe sie gewarnt, dass es passieren wird.«

»Du warst auch da?«, ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an.

»Ja, als Geist. Ich war als Geist anwesend, nicht körperlich«, sagte Vincent und zog mich weiter.

»Als Geist? Aber ihr hattet mir doch gesagt, ihr seid keine Gespenster?«

Vincent legte seine Hand auf meine und schon durchströmte mich wieder eine Beruhigungswelle.

»Jetzt lass das doch mal mit diesem Beruhigungszauber. Erklär's mir einfach. Ich komm schon klar.« Vincent ließ seine Hand, wo sie war, aber das warme Gefühl verschwand. Er grinste schuldbewusst, als hätte ich ihn beim Abschreiben erwischt.

Ohne mich selbst zu sehr loben zu wollen, aber ich fand, ich schlug mich ganz gut. Nachdem ich verdaut hatte, dass der Junge, den ich mochte, unsterblich war, steckte ich auch alle weiteren Informationen irgendwie weg. Ich war nicht durchgedreht. Nicht übermäßig zumindest. Mal abgesehen von dem Zwischenfall, als ich gesehen hatte, wie Jules starb. Oder als ich Vincent »tot« auf seinem Bett gefunden hatte. Und das waren alles ziemlich gute Gründe, um durchzudrehen, versicherte ich mir selbst.

Vincent nahm seinen Faden wieder auf und ich versuchte, mich zu konzentrieren. »Ich erklär dir das mit dem Geiststadium gleich noch. Dass ich mit Charlotte und Charles unterwegs war, ist eine ganz typische Konstellation. Wir Revenants gehen immer zu dritt, wenn wir auf ... Patrouille sind. Das macht es leichter, wenn etwas passiert ...«

»Wie in der Metro, als Jules verunglückt ist?«

»Genau. Die anderen verständigen dann Jean-Baptiste, der dafür sorgt, dass wir die Leiche bekommen.«

»Und wie macht er das? Hat er Verbindungen zu den örtlichen Leichenhäusern?«

Das sollte eigentlich ein Witz sein, doch Vincent lächelte und nickte. »Und zur Polizei, um noch ein anderes Beispiel zu nennen.«

»Wie praktisch«, sagte ich und versuchte, nicht überrascht auszusehen.

»Sehr sogar«, stimmte Vincent zu. »Die halten Jean-Baptiste wahrscheinlich für einen Verbrecher oder Nekrophilen. Aber das viele Geld, das er für ihre Dienste zahlt, hält sie davon ab, irgendwelche Fragen zu stellen.«

Ich blieb stumm und dachte darüber nach, wie kompliziert dieses ganze ›Wir-Untote-retten-Leben-Ding‹ für die Revenants sein musste. Und dass ich ihnen völlig unabsichtlich in die Quere gekommen war. Kein Wunder, dass Jean-Baptiste nicht gerade begeistert war von meinem plötzlichen Erscheinen.

»Charlotte hat dir doch erklärt, dass unser Geist, während unsere Körper ruhen, sehr aktiv ist.«

Ich nickte.

»Das war stark vereinfacht. Am ersten Tag des Ruhezustands ruht sowohl unser Körper als auch unser Geist. Nichts funktioniert, wie bei einer typischen Leiche eben. Am zweiten Tag wacht unser Verstand auf und wir sind nur noch körperlich tot. Wenn wir uns verletzt haben seit dem letzten Ruhezustand, heilen sich unsere Körper in diesem Stadium selbst. Für zwei Tage kann sich unser Bewusstsein sozusagen von unseren Körpern lösen und sich frei bewegen. Und wir können miteinander kommunizieren.«

Ich konnte es nicht fassen. Es gab also noch mehr ›Revenantregeln‹. Merkwürdiger kann es kaum mehr werden, dachte ich. »Ihr könnt unsichtbar rumschweben? Jetzt kapier ich, warum Charles gesagt hat, ihr seid Gespenster.«

Vincent lächelte. »Wir sagen dazu, dass wir volant sind.«

»Volant? Bedeutet das nicht ›fliegen‹?«

»Genau. Und während wir volant sind, haben wir einen ziemlich feinen siebten Sinn. Das hat nichts mit Wahrsagerei zu tun, wir können dann einfach erspüren, dass etwas passieren wird und die anderen warnen, damit sie jemanden retten können. Es ist ein bisschen so, wie in die Zukunft sehen zu können, aber nur eine oder zwei Minuten — und nur in der unmittelbaren Umgebung.«

Streich den letzten Kommentar, es geht doch noch merkwürdiger.

Vincent hatte wohl bemerkt, dass ich plötzlich zögerlicher ging und daraus ganz richtig geschlussfolgert, dass mich das alles zu überwältigen drohte. Er zog mich zu einer der Steinbänke, die die Promenade säumten, und setzte sich zu mir, während er mir Zeit ließ, diese neuen Informationen zu verarbeiten. Vor uns zitterten die Spiegelungen der gegenüberliegenden Gebäude auf der Wasseroberfläche.

»Das muss sehr komisch für dich klingen, Kate. Aber das ist eine der Gaben, die wir Revenants besitzen. Eine unserer wenigen Superkräfte, wie du sie nennst. Als du Jules und mich in der Metro gesehen hast, waren wir genau genommen zu dritt. Ambrose war volant und hat uns informiert, unmittelbar bevor der Mann gesprungen ist. Jules sagte, er übernehme das. Ich sollte derweil versuchen, dass du nichts davon mitbekommst.«

Ein verlegenes Lächeln umspielte seinen Mund. »Ambrose ist übrigens auch dafür verantwortlich, dass wir dich im Musée Picasso getroffen haben. Er hatte dich von draußen gesehen und schlug Jules vor, uns eine kleine Lektion über Kubismus zu geben.«

»Woher wusste Ambrose denn, wer ich bin?«, fragte ich ungläubig.

»Ambrose fand die Idee witzig, dass wir uns in die Arme laufen. Ich hatte den anderen nämlich schon von dir erzählt, noch bevor wir dich gerettet haben.« Er hob ein Blatt auf und zerrieb es zwischen den Fingern.

»Echt?«, staunte ich. »Was hast du ihnen denn erzählt?«

»Ja, das wüsstest du gern, was?« Er lächelte verschlagen. »Ich wär ja wohl ganz schön blöd, wenn ich all meine Geheimnisse gleich beim ersten Mal preisgeben würde. Lass mir doch wenigstens ein winziges bisschen Würde!«

Ich verdrehte die Augen und wartete ab, was er als Nächstes erzählen würde. Aber insgeheim freute ich mich riesig über dieses Geständnis.

»Zurück zum Thema. An dem Tag, als du fast von dem Fassadenteil zerquetscht wurdest, war ich volant und mit Charlotte und Charles unterwegs. Ich sah das Stück eine Minute eher aus der Fassade brechen, als es das wirklich tat, und sagte Charlotte, dass sie dich dringend dort weglocken müsse. Deshalb hat sie dich herangewinkt und dann haben wir darüber gestritten, wer dein Foto zu seiner Kollektion hängen darf.« Er lächelte und blickte von dem nun zerbröselten Blatt in meine Augen, um darin zu lesen, was in mir vorging.

»Wozu macht ihr denn die Fotos? Sind das eure ...«, es schüttelte mich, »eure Trophäen?«

»Nein, nein. Wir brüsten uns nicht damit. Und es ist auch kein Wettbewerb oder so was. Der Grund dafür ist ein anderer«, sagte Vincent. Sein Lächeln wich einer besorgten Miene. »Uns fällt es oft schwer, nicht besessen zu sein von den Menschen, die wir gerettet haben. Besonders in den Fällen, in denen wir für jemanden gestorben sind. Immer wieder zu sterben, fällt keinem von uns leicht. Da ist es schwierig, sich nicht dafür zu interessieren, was aus den Menschen wird, die wir gerettet haben. Ob die Nahtoderfahrung ihr Leben verändert hat. Ob das Opfer, das wir erbracht haben, so etwas wie einen Schmetterlingseffekt auf diese Person hatte, auf ihre Familie, auf ihre Bekannten und so weiter.«

Er lachte nervös. »Wenn wir nicht aufpassen, kann das sogar manchmal an Stalking grenzen. Ist schon vorgekommen. Es passiert schnell, wenn man nicht vorgewarnt wird. Unser Glück war, dass Jean-Baptiste schon ein paar Jährchen Erfahrung auf dem Buckel hat. Er sorgt dafür, dass wir uns an sein Drei-Schritte-Programm halten.« Vincent schmunzelte. »Wir dürfen die gerettete Person einmal aufsuchen und fotografieren. Dann dürfen wir im volanten Zustand höchstens zweimal zurückkehren und nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Von mehr wird strengstens abgeraten. Danach können wir nur noch nach Lust und Laune nach der Person googeln.«

»Diese Regel hat Ambrose also vorsätzlich über Bord geworfen, als er dich ins Museum gelotst hat.«

Er lächelte. »Die Regeln lagen in deinem Fall von vornherein anders. Wie ich schon gesagt hatte, mein Interesse an dir setzte schon lange vor dem Zwischenfall mit dem Fassadenstück ein.«

Nun vermied er den Blickkontakt mit mir. Er warf die letzten Reste des Blatts ins Wasser und legte dann seine Hand auf meine. Eine Alarmglocke schrillte irgendwo in meinem Kopf los, während ich über das nachdachte, was er mir da gerade erzählt hatte. Dann machte es klick.

»Vincent, soll das heißen, dass du von mir besessen bist, obwohl du nicht mal für mich gestorben bist, sondern nur mein Leben gerettet hast?«

»Besessener als vorher«, stimmte Vincent zu, sah mich aber immer noch nicht wieder an.

»Wenn diese Besessenheit eine unvermeidbare Folge ist, wie kannst du dir dann sicher sein, dass es bei mir was anderes ist? Vielleicht magst du mich ja nur, weil ich um die Ecke wohne und wir uns häufiger begegnet sind, als das sonst mit anderen der Fall ist. Du hast mich gerettet, aber anstatt aus deinem Leben zu verschwinden, bin ich andauernd wieder aufgetaucht und hab deine Besessenheit geschürt. Wie kannst du dir sicher sein, dass das nicht der einzige Grund ist?«

Er blieb still.

»Es ist der einzige Grund, nicht wahr?« Ich schüttelte bestürzt den Kopf. Mein Bauch krampfte sich vor Verzweiflung zusammen. »Ich hab mich von Anfang an gefragt, wie jemand wie du sich für jemanden wie mich interessieren kann. Wieso du mich auf einmal nicht mehr wie ein dummes Mädchen behandelt, sondern in mir plötzlich deine Traumfrau gesehen hast. Das ist die Antwort. Es hat gar nichts mit mir zu tun. Es ist bloß eine unnatürliche Sucht, die durch das Lebenretten bei euch Revenants ausgelöst wird.«

Ich wusste, dass das alles zu schön war, um wahr zu sein, schoss es mir durch den Kopf.

Vincent ließ das Gesicht in seine Hände sinken und blieb eine Weile so sitzen, seine Schläfen massierend. Dann sagte er: »Kate, ich habe Hunderten von Frauen das Leben gerettet, aber für keine nur annähernd etwas Ähnliches empfunden wie jetzt für dich. Ich fand dich doch schon vorher interessant. Natürlich muss ich zugeben, dass die Rettung dich wirklich unvergesslich gemacht hat. Aber das Ganze hat mich nur darin bestärkt, dass ich dich kennenlernen wollte. Vielleicht hab ich mich bei unserem ersten Gespräch wie ein Idiot verhalten, aber es ist seit so langer Zeit das erste Mal, dass ich überhaupt Gefühle für jemanden zulasse. Ich bin ein bisschen aus der Übung, was das angeht. Das musst du mir einfach glauben.«

Ich suchte in seinem Gesicht nach Hinweisen, ob er mich belog. Aber er wirkte durch und durch aufrichtig. »Dann musst du mir eins versprechen, Vincent«, sagte ich. »Wenn dir irgendwann bewusst wird, dass ich doch nichts weiter als eine Gerettete bin, der du einfach sehr nahegekommen bist, dann will ich das sofort wissen.«

»Das verspreche ich dir hoch und heilig, Kate. Ich werde dich niemals anlügen.«

»Und mir nichts vorenthalten, das ich wissen sollte.«

»Ich geb dir mein Wort.«

Ich nickte. Die Sonne ging schon unter, in den Häusern wurde Licht eingeschaltet, es tanzte wie Funken auf der Wasseroberfläche.

»Kate, wie geht es dir jetzt?«

»Ganz ehrlich?«

»Ganz ehrlich.«

»Ich hab Angst.«

»Dann bring ich dich jetzt am besten nach Hause«, sagte Vincent, in seiner Stimme lag Bedauern. Er stand auf und half mir auf die Füße.

Nein!, dachte ich. Laut stammelte ich: »Nein ... Noch nicht. Ich will nicht, dass unser Treffen so endet. Lass uns noch irgendwas machen. Irgendwas Normales.«

»Du meinst, irgendwas anderes, als über Tod, schwebende Geister und besessene Unsterbliche zu reden?«

»Das wäre wirklich schön«, sagte ich.

»Was hältst du von Essen gehen?«, fragte Vincent.

»Einverstanden. Ich muss nur gerade Georgia Bescheid sagen, dass ich nicht zum Essen nach Hause komme.« Ich holte mein Handy aus der Tasche und schrieb folgende SMS:

Gehe essen. Richtest du M & P aus, dass ich nicht allzu spät heimkomme?

Vincent nahm meine Hand und jagte mir Stoßwellen durchs Herz, indem er seine Finger zwischen meine schob. Mein Telefon klingelte, als wir oben am Treppenabsatz angelangt waren. Es war Georgia.

»Ja?«

»Und, mit wem gehst du essen?«

»Und warum willst du das wissen?«, ich grinste und warf einen verstohlenen Blick auf Vincent.

»Hm, vielleicht nehme ich meine Aufgabe als dein Vormund einfach sehr ernst«, schnurrte sie.

»Dass ich nicht lache!«

Georgia kicherte. »Mit wem bist du unterwegs?«

»Einem Freund.«

»V?«

»Genau genommen, ja.«

»Oh, mein Gott, wo geht ihr denn hin? Ich komm vorbei und tu so, als wär ich in der Nähe gewesen, damit ich ihn mir mal ansehen kann.«

»Auf gar keinen Fall. Und außerdem weiß ich noch gar nicht, wohin wir überhaupt gehen.«

Vincent lächelte mich verschwörerisch an. »Georgia?«, fragte er. Ich nickte und er griff nach dem Telefon.

»Hallo, spreche ich mit Georgia? Hier ist Vincent. Hätte ich diese Verabredung mit dir abstimmen müssen, bevor ich deine Schwester zum Essen einlade?« Er lachte, es war offensichtlich, dass Georgia schon jetzt ihren unwiderstehlichen Charme spielen ließ.

Zum Schluss sagte er: »Nein, ein großes Familientreffen war für heute Abend eher nicht geplant. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns bald kennenlernen werden. Warum nicht heute, willst du wissen?« Er zwinkerte mir zu und mich überlief ein wohliger Schauer. Unglaublich, welchen Einfluss er auf mich hatte. Gefährlich.

»Das musst du mit deiner Schwester besprechen. Sie bestimmt, wo es langgeht.«