Der Nachhauseweg glich diesmal der Aufwachphase nach einem langen Traum. Selbst wenn ich manchmal diesen ganzen Revenantkram vergaß, während ich mit Vincent zusammen war, so hatte ich dennoch stets das Gefühl, durch eine Fantasielandschaft von Salvador Dali zu laufen. Mamies und Papys Welt war nach vierundzwanzig Stunden in einem surrealistischen Gemälde eine regelrechte Erholung.

»Und?«, fragte Georgia beim Abendessen. »Was läuft da jetzt zwischen Vincent und dir? Konntet ihr denn bei eurer kleinen Pyjamaparty all eure Schwierigkeiten aus der Welt schaffen?« Sie grinste mich wissend an und steckte sich ein Stück Brot in den Mund.

Mamie tippte ihr tadelnd auf den Arm und sagte: »Katya erzählt uns, was sie will und wann sie will.«

»Schon in Ordnung, Mamie. Georgia hat schließlich kein nennenswertes eigenes Leben, da muss sie sich durch mich ausleben«, stichelte ich.

»Ha!«, sagte Georgia.

Papy rollte mit den Augen und fragte sich wohl, wie sich sein friedliches Heim so schnell in ein Mädcheninternat hatte verwandeln können.

»Und?«, fragte Georgia nun bettelnd.

»Sieht ganz so aus, als hätten wir das Problem gelöst«, sagte ich. An Mamie gewandt fragte ich: »Wäre es okay, wenn er morgen zum Abendessen vorbeikommt?«

»Natürlich«, antwortete Mamie mit einem breiten Lächeln.

»Cool«, freute sich Georgia. »Kate verkriecht sich nicht länger vor Kummer in ihrem Zimmer. Ich sollte zu ihm gehen und ihm persönlich dafür danken.«

»Das reicht jetzt, Georgia«, sagte Papy.

»Du kannst dich ja morgen bei ihm bedanken«, sagte ich und wechselte schnell das Thema.

Am nächsten Abend um halb acht bekam ich eine Nachricht von Vincent:

Guten Abend, ma belle. Verrätst du mir euren Türcode?

Ich schickte ihm den sechsstelligen Code aus vier Ziffern und zwei Buchstaben. Eine Minute später klingelte es. Ich drückte auf den Öffner, um die Tür zum Treppenhaus zu entriegeln. »Zweites OG, links«, sagte ich durch die Gegensprechanlage.

Mein Puls beschleunigte sich, als ich unsere Wohnungstür öffnete, um im Hausflur auf ihn zu warten. Er hatte die drei Stockwerke im Nu erklommen. In der einen Hand trug er ein riesiges Blumenbouquet, in der anderen eine Papiertüte. »Die sind für deine Mamie«, sagte er, dann gab er mir einen schnellen, weichen Kuss auf den Mund.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Vincent hob vielsagend seine Augenbrauen. »Willst du mich hereinbitten oder ausprobieren, ob ich auch ohne eine Einladung über deine Schwelle treten kann?« Dann flüsterte er: »Ich bin ein Revenant, kein Vampir, chérie.« Sein Blick war so spöttisch, dass ich vergaß, wie nervös ich war. Ich nahm seine Hand und führte ihn in die Wohnung.

»Da ist Mamie auch schon«, sagte ich, als sie uns aus der Küche entgegenkam. Sie war am Morgen noch in ihrem Salon gewesen und sah wahnsinnig elegant aus in ihrem eng anliegenden schwarz-weißen Wollkleid und den zehn Zentimeter hohen Absätzen.

»Sie müssen Vincent sein«, sagte sie und begrüßte ihn mit zwei Küsschen. Ihr Parfum roch nach Gardenia und umgab uns wie eine großmütterliche Umarmung. Sie machte einen Schritt zurück, um ihn anzuschauen. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bekam er eine Eins.

»Die sind für Sie«, sagte er und gab ihr das gigantische Blumengebinde.

»Von Christian Tortu«, sagte sie anerkennend, als sie die Karte des Floristen am Strauß entdeckte. »Wie reizend.«

»Ich nehme deinen Mantel«, sagte ich. Vincent schälte sich aus seiner Jacke und zum Vorschein kam ein Hemd, blau wie ein Drosselei, das in einer dunklen Cordhose steckte.

Ich konnte kaum fassen, dass dieser gut aussehende Junge sich herausgeputzt und Blumen mitgebracht hatte, um meine Familie zu beeindrucken. Und das nur meinetwegen.

»Papy, ich möchte dir gern Vincent Delacroix vorstellen«, sagte ich, als mein Großvater aus seinem Arbeitszimmer auftauchte.

»Schön, Sie kennenzulernen, Monsieur«, sagte Vincent sehr förmlich, als sie sich die Hand gaben. Er hielt die Papiertüte hoch und sagte: »Die ist für Sie.«

Papy nahm sie entgegen. Er zog eine Flasche Wein heraus und staunte nicht schlecht, als er das Etikett las: »Ein Chateau Margaux von 1947? Wie sind Sie denn an den gekommen?«

»Das ist ein Geschenk von meinem Onkel, der mir berichtete, dass ihm schon die Ehre zuteilgeworden ist, Sie kennenzulernen, Madame«, sagte Vincent zu Mamie.

»Oh?«, entfuhr es Mamie verwundert.

»Er hat Ihnen kürzlich ein Gemälde zur Restaurierung vorbeigebracht. Monsieur Grimod de La Reynière.«

Mamies Augen weiteten sich. »Jean-Baptiste Grimod de La Reynière ist Ihr Onkel?«

Vincent nickte. »Ich wohne seit dem Tod meiner Eltern bei ihm.«

»Oh«, Mamies Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. »Es tut mir sehr leid zu erfahren, dass Sie und Katya das gleiche Schicksal teilen.«

Bevor sie noch tiefer gehende Fragen stellen konnten, nahm ich Vincents Hand und führte ihn ins Esszimmer. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Glas Champagner vielleicht?«, fragte Papy, während wir uns neben dem Kamin niederließen.

»Oh ja, gerne. Das ist sehr aufmerksam, vielen Dank«, sagte Vincent.

»Ich auch, bitte«, sagte ich und nickte Papy zu. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, kam Georgia herein.

Sie trug ein umwerfendes grünes Seidenkleid, neben dem mein einfaches schwarzes Kleid völlig trist wirkte. Vincent stand höflich auf. »Georgia«, setzte er an, »ich weiß, Kate hat sich in meinem Namen dafür entschuldigt, dass wir dich damals einfach allein in dem Restaurant zurückgelassen hatten. Aber ich wollte dir selbst noch mal sagen, wie leid es mir tut. Ich hätte das nie getan, wenn es Ambrose nicht plötzlich so schlecht gegangen wäre. Trotzdem ist es einfach unverzeihlich, ich weiß.«

»Ich halte mich für eine sehr verständnisvolle Person«, schnurrte sie und setzte dabei ein wenig ihren Südstaatenakzent ein. »Wenn du nicht so verdammt süß wärst, weiß ich nicht, ob ich dir das durchgehen lassen würde. Aber unter diesen Umständen ...«, sie verstummte allmählich, während sie ihm fast im Zeitlupentempo die bises auf die Wangen hauchte.

»Um Himmels willen, Georgia! Würdest du mir noch was von ihm übrig lassen?«, rief ich empört und schüttelte den Kopf.

»Ich nehme an, das heißt, du hast mir verziehen?«, fragte Vincent lachend.

In Frankreich dauert eine Mahlzeit gern mal ein paar Stunden. Ganz besonders, wenn man Gäste hat. Glücklicherweise hatten wir am nächsten Tag Schule, weshalb jeder Gang nur ungefähr eine halbe Stunde dauerte. Außerdem wollte ich nicht, dass meine Großeltern nach den ersten zurückhaltenden Fragen zu schnell mit den persönlichen Fragen anfingen, die sie sicher an unseren mysteriösen Gast hatten.

»Vincent, ich nehme an, Sie studieren?«, fragte Papy, als wir zur Hälfte durch die Horsd’œuvres waren. Vincent antwortete, dass er Jura studiere. »In Ihrem jungen Alter? Ich will ja nicht zu neugierig sein, aber wie alt ...?« Mein Großvater ließ die Frage unvollendet im Raum stehen, damit er sie nicht direkt stellen musste.

»Ich bin neunzehn. Mein Onkel hat mir jedoch Privatunterricht geben lassen, deshalb habe ich ein paar Jahre Vorsprung.«

»Sie Glücklicher«, nickte Papy anerkennend.

Danach verhinderte Vincent erst mal weitere Fragen an sich, indem er selbst welche stellte. Papy erzählte ihm mit großer Begeisterung und ausschweifend von seinem Antiquitätengeschäft und von den Reisen, die er unternommen hatte, um so manches besondere Objekt aufzutreiben. Schließlich war er ja auf außerordentliche Einzelstücke spezialisiert. Manche seiner Reisen hatten ihn bis in den Nahen Osten und sogar nach Nordafrika geführt.

Vincent erwähnte sein Interesse an Antiquitäten und an historischen Waffen. Allein diese Unterhaltung brachte uns mühelos durch den Hauptgang, der aus Rinderfilets bestand, die weich wie Butter waren.

Als wir beim Nachtisch angelangt waren, sprachen und lachten Vincent und meine Familie zusammen, als würden sie sich schon ewig kennen. Georgia und er zogen sich gegenseitig auf und sie beide mich. Mamie warf immer wieder verstohlene Blicke zu Vincent und mir und offensichtlich gefiel ihr, was sie sah.

Nachdem wir es uns mit entkoffeiniertem Espresso und einem Tellerchen voller Schokoladentrüffeln in den Sesseln im Wohnzimmer bequem gemacht hatten, fragte Mamie Vincent, ob er auch in zwei Wochen zum Essen vorbeikommen wolle. »Am neunten Dezember wird Kate siebzehn. Und weil sie uns strengstens verboten hat, eine Party für sie zu organisieren, machen wir stattdessen ein kleines, informelles Essen hier zu Hause.«

»Das ist ja mal eine interessante Information«, sagte Vincent und lächelte mich breit an.

Ich versteckte mein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. »Ich mag es einfach nicht, wenn aus meinem Geburtstag eine große Sache gemacht wird«, maulte ich.

»Na, was für ein Pech für dich, dass es uns da anders geht!« Vincents Kommentar wurde von wohlwollendem und einhelligem Nicken begleitet.

»Dann ist es also abgemacht?«, fragte Mamie und warf mir einen Blick zu.

Ich verzog das Gesicht, nickte aber.

»Wo wir schon bei Einladungen sind, möchtest du mich und Kate am Freitag zu einer Party begleiten, Vincent?«, fragte Georgia.

»Das würde ich liebend gern, aber da hab ich leider schon was vor.« Er zwinkerte mir zu.

»Aber nicht mit dir, Kate!«, kreischte Georgia empört. »Sie hat meinem Freund Lucien versprochen, zu einer Party in einem seiner Klubs mitzukommen. Soweit ich informiert bin, solltest du sie lieber begleiten, er hat nämlich groß damit getönt, dass er für alle Singlefrauen eine Menge gut aussehender Freunde ...« Georgia verstummte, weil sich Vincents Gesicht plötzlich extrem verdunkelt hatte.

»Sprichst du von Lucien Poitevin?«, fragte er.

Georgia nickte. »Kennst du ihn?«

Vincent lief innerhalb von Sekunden knallrot an. Er sah aus wie ein Schnellkochtopf kurz vorm Explodieren. »Ich hab schon von ihm gehört. Und um ehrlich zu sein, selbst wenn ich noch keine Pläne hätte, würde ich dankend ablehnen.« Es war offensichtlich, wie sehr er sich bemühen musste, Ruhe zu bewahren.

»Vincent!«, flüsterte ich. »Was ...« Ich sprach nicht weiter, weil er unauffällig meine Hand genommen und unabsichtlich (das hoffte ich zumindest) so fest gedrückt hatte, dass es mir wehtat. Das muss wirklich ernst sein, dachte ich.

»Wer ist dieser Lucien Poitevin?«, wollte Papy wissen und sah Georgia streng und fragend an.

»Er ist ein sehr guter Freund von mir!«, erwiderte sie scharf und starrte Vincent zornig an.

Im Zimmer wurde es still. Vincent wandte sich schließlich an sie und sagte, so diplomatisch er konnte: »Ich würde das nicht laut aussprechen, wenn ich es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit wüsste, aber Lucien Poitevin verdient es nicht, mit dir im gleichen Raum zu stehen, Georgia. Noch weniger verdient er es, zu deinen Freunden zu zählen.«

In diesem Moment fiel uns allen die Kinnlade runter. Georgia war ausnahmsweise mal sprachlos. Sie sah aus, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst. Und ihr danach einen Eimer voller Eiswürfel über den Rücken gekippt.

Mamie und Papy tauschten einen Blick aus, der sehr deutlich machte, dass sie sich schon Sorgen gemacht hatten über Georgias nächtliche Aktivitäten.

Georgia warf sowohl mir als auch Vincent einen tödlichen Blick zu, dann stand sie abrupt auf und rannte wutentbrannt aus dem Zimmer.

Mamie brach das Schweigen. »Vincent, könnten Sie noch ein wenig deutlicher werden, wieso Georgia nicht mit diesem Mann verkehren sollte?«

Vincent starrte auf den Couchtisch. »Ich hoffe, Sie können mir verzeihen, dass dieser schöne Abend jetzt so bitter endet. Ich habe nur so furchtbare Dinge über diesen Mann gehört und würde gern verhindern, dass jemand, der mir am Herzen liegt, etwas mit ihm zu tun hat. Aber ich habe schon genug gesagt. Es tut mir wirklich sehr leid, Ihre Enkelin so verstimmt zu haben.«

Papy schüttelte den Kopf und hob eine Hand, was wohl bedeuten sollte, das alles sei nicht der Rede wert. Mamie stand auf, um die Tassen wegzuräumen, und ich half ihr dabei. »Machen Sie sich keine Sorgen, Vincent. Wir unterstützen und begrüßen ein gesundes Maß an Offenheit und Ehrlichkeit in diesem Hause. Ihre Bemerkungen sind also nicht unwillkommen. Ich bin mir sicher, Georgia wird sich bei Ihnen entschuldigen, sobald sie sich beruhigt hat.«

»Verlass dich besser nicht drauf«, flüsterte ich ihm zu.

Darauf nickte Vincent grimmig. »Ich sollte mich auf den Weg machen«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass Sie alle morgen einen langen Tag vor sich haben.«

»Ich begleite dich noch vor die Tür«, sagte ich, weil ich ihn natürlich in die Mangel nehmen wollte, sobald wir außer Hörweite waren.

Papy holte Vincents Mantel. Nachdem er sich bei meinen Großeltern für den Abend bedankt hatte, trat Vincent in den Hausflur. Ich folgte ihm, meinen Mantel in der Hand, und schloss die Tür hinter uns.

»Was ...«, fing ich an.

Vincent legte mir einen Finger auf die Lippen. Ein angespanntes Schweigen lag zwischen uns, bis wir auf der Straße angekommen waren. Als die Tür hinter uns zufiel, fasste er mich bei den Schultern und sah mir angespannt in die Augen. »Deine Schwester ist in Gefahr.«

Angst löste meine Verwirrung ab. »Wovon sprichst du? Was stimmt nicht mit diesem Lucien?«

»Er ist mein Erzfeind. Er ist der Anführer der Numa hier in Paris.«

Ich hatte das Gefühl, als hätte mich jemand hochgehoben und gegen eine Wand geschleudert. »Bist du sicher, dass wir denselben Lucien meinen?«, fragte ich, weil ich das nicht glauben wollte. »Als ich ihn getroffen habe ...«

»Du hast ihn getroffen?« Vincent schluckte schwer. »Wo?«

»In diesem Klub, wo ich mit Georgia tanzen war.«

»Da, wo du Charles gesehen hast?«

»Ja, Charles hat sich sogar mit ihm unterhalten, als ich gefahren bin. Ich verstehe nicht ...«

»Oh, nein. Das ist ja furchtbar«, sagte Vincent und schloss seine Augen.

»Vincent, sag mir, was los ist«, drängte ich. Ein schlechtes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Wenn Lucien ein Monster war, was hieß das dann für meine Schwester? Es schüttelte mich, weil ich an den Kuss denken musste, den sie einander gegeben hatten, als ich sie im Klub gesehen hatte. Sie wusste offenbar nichts von seinem dunklen Geheimnis. Mit Georgias Menschenkenntnis war es nicht weit her. Meine Mutter hatte mal klagend geäußert, nachdem einer von Georgias Freunden wegen Diebstahls verhaftet worden war: »Sie sieht nie das Schlechte in anderen Menschen, sondern vertraut ihnen blind. Deine Schwester ist nicht dumm, aber sie besitzt einfach nicht das geringste bisschen Intuition.« Diesmal könnte dieser Fakt sie das Leben kosten, dachte ich beklommen.

Vincent kramte sein Handy aus der Tasche. »Jean-Baptiste? Charles ist bei Lucien. Ja, ich bin mir sicher. ... Gut, ich bin gleich da.«

»Bitte, sprich doch mit mir!«, flehte ich ihn an.

»Ich muss sofort nach Hause. Kannst du mitkommen?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. Daheim wartete die schwere Aufgabe auf mich, Schadensbegrenzung zu betreiben.

»Ich muss los«, sagte er.

»Aber ich begleite dich noch bis zu dir«, beharrte ich, »und du kannst mir auf dem Weg erzählen, was los ist.«

»In Ordnung«, sagte er. Hand in Hand machten wir uns auf den Weg. »Kate, du weißt, dass es in jeder Geschichte einen Bösewicht gibt, oder?«

»Ich schätze schon.«

»Lucien ist der Bösewicht in meiner Geschichte.«

»Was meinst du damit? Deine Geschichte?«, fragte ich beunruhigt. »Geht es nur darum, dass ihr auf verschiedenen Seiten kämpft? Du für das Gute, er für das Böse?«

Vincent schüttelte den Kopf. »Nein. Wir kämpfen direkt gegeneinander. Und das schon sehr lange.«

»Moment mal, heißt das ...«, langsam setzten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammen. »Heißt das, er ist dieser mysteriöse Mann, über den ihr immer gesprochen habt?« Ich dachte kurz nach. »Hast du Lucien im Village Saint-Paul gesehen? Und hat Jules euch vor ihm gewarnt, kurz bevor Ambrose verletzt wurde?«

Vincent nickte.

»Was hat er denn verbrochen?«

»Im Zweiten Weltkrieg gehörte er der Milice française an, der französischen Miliz, einer paramilitärischen Organisation. Die von den Deutschen beeinflusste französische Regierung hatte sie ins Leben gerufen, um gegen die Résistance vorzugehen.«

»Die Vichy-Regierung?«

Vincent nickte. »Neben der Hinrichtung und Ermordung von Mitgliedern der Résistance half die Miliz auch dabei, die Juden zur Deportation zusammenzutreiben. Die Mitglieder waren berüchtigt für ihre Foltermethoden. Jeder, der von ihnen gefangen genommen wurde, gab Informationen preis oder gestand. Um ehrlich zu sein, war die Miliz gefährlicher als die Gestapo und die SS, weil ihre Handlanger unsere Sprache sprachen und sich im Land wahnsinnig gut auskannten. Außerdem waren sie Freunde oder Nachbarn von denen, die sie verrieten.« Vincent sah mir in die Augen. »Das war ein finsteres Kapitel in Frankreichs Geschichte.«

Ich nickte, sagte aber nichts. Wir überquerten eine Allee und hielten weiter auf sein Zuhause zu.

»Lucien hat Hunderte direkt und Tausende indirekt in den Tod getrieben und sich durch alle Folterungen und Morde bis an die Spitze der Organisation vorgekämpft. Er war bald einer der führenden Kräfte innerhalb des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, das dem Vichy-Regime unterstand. Im Juni 1944 drang eine Gruppe von Résistance-Kämpfern verkleidet als Mitglieder der Miliz in das Ministerium ein, wo Lucien und seine Frau zu ihrem eigenen Schutz untergebracht worden waren. Es war spät in der Nacht. Die Gruppe fand das Paar im Bett vor und tötete beide.«

Mein Mund blieb offen stehen. Das klang so, als hätte er das alles selbst erlebt. »Warst du einer von ihnen?«, fragte ich.

Vincent nickte. »Mit ein paar anderen Revenants, der Rest waren Menschen, die nicht wussten, wer beziehungsweise was wir waren.«

»Aber damals muss Lucien noch ein Mensch gewesen sein. Du hast doch mal gesagt, dass Revenants keine Menschen umbringen, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Unser Befehl lautete, Lucien gefangen zu nehmen, bis sein Fall vor einem Gericht verhandelt werden konnte. Aber einer der Menschen aus unserer Gruppe hatte durch ihn seine ganze Familie verloren und konnte sich nicht bremsen. Er hat sie beide erschossen.«

Es schüttelte mich, als sich diese furchtbaren Informationen in meinem Kopf in lebhafte Bilder verwandelten. Natürlich wollte man bei solchen Zusammenhängen immer, dass der Böse verliert. Aber wenn ich mir das vorstellte: Er wurde mit seiner Frau erschossen, in seinem Bett. Es war einfach viel zu schrecklich, darüber nachzudenken.

»Lucien hat unsere Gesichter nie vergessen. Seit er als Revenant aufgewacht ist, hat er uns gejagt. Er konnte die meisten menschlichen Mitglieder unserer Gruppe aufspüren und töten und hat letzten Endes sogar die beiden anderen Revenants getötet, die an seiner Ermordung beteiligt waren. Ich bin der Einzige, der noch übrig ist. Wir haben uns schon mehrfach gegenübergestanden, aber es ist ihm noch nicht gelungen, mich zu töten. Und umgekehrt auch nicht.«

»Warum um alles in der Welt hat Charles dann mit ihm gesprochen?«, wollte ich wissen.

»Eins muss dir im Hinblick auf Charles klar sein: Er ist kein schlechter Junge. Er hat nur ein ernsthaftes Problem. Ich hab dir doch erzählt, wie schwer es ihm immer noch fällt, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Es ist nicht leicht, immer wieder zu sterben. Wenn man jemanden rettet und diese Person danach dann ein schönes Leben führt, bekommt man das Gefühl, dass es sich gelohnt hat. Aber manchmal läuft es eben anders.

Manchmal gelingt es dem Selbstmörder, den man einmal gerettet hat, dann beim zweiten Mal. Der Jugendliche, den man vor seinem Tod an einer Überdosis bewahrt hat, bekommt die Kurve nicht und landet wieder genau da, wo er vorher war. Das ist der Grund, weshalb Jean-Baptiste uns einen zu engen Kontakt mit den Menschen verbietet, die wir gerettet haben.

Aber das Schlimmste ist und bleibt, wenn man es versucht und dann scheitert. Charles konnte diesem kleinen Mädchen nicht helfen. Er hat das andere Kind gerettet, aber das bedeutet ihm nichts. Er ist wie besessen von seinem Versagen. Und den Konsequenzen, die das für die Mutter des Mädchens hat. Er hat ein gutes Herz«, fuhr er leise fort.

»Vielleicht ein zu gutes Herz. Das war jedenfalls der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Der einzige Grund, der mir einfällt, wieso Charles sich an Lucien gewendet hat, ist, dass er mit unserem Schicksal einfach nicht mehr klarkommt. Dass er sterben will. Wenn er sich in ihre Hände begibt, müssen sie nichts weiter tun, als ihn töten und danach seinen Körper verbrennen. Und den Wunsch erfüllen sie ihm sicher mit dem größten Vergnügen.«

»Er will sich umbringen?« Ich blieb schockiert stehen. Bei dem Gedanken, dass Charles sich selbst dem Tod ausliefern wollte, gefror mir das Blut in den Adern.

»Es sieht ganz danach aus.« Vincent nahm meinen Arm und zog mich weiter. Wir waren fast da.

»Wenn Lucien ein brutaler Mörder ist, was ... was passiert dann mit Georgia?« Das mit Charles war herzzerreißend, trotzdem galt meine ganze Sorge meiner Schwester. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Gefahr Georgia schwebte.

»Wie stehen die beiden zueinander?«, fragte Vincent.

»Ich glaube, sie sind zusammen.«

»Meinst du, es ist was Ernstes?«

»Was Ernstes ist nicht Georgias oberste Priorität.«

Vincent dachte kurz nach. »Lucien umgibt sich immer mit Frauen. Er hat keinen Grund, Georgia umzubringen. Solange sie nicht in seinen Clan und dessen Machenschaften hineingezogen wird, ist das schlimmste Risiko, dass sie von ihm benutzt und dann fallen gelassen wird.«

Na, das ist ja tröstlich, dachte ich überhaupt nicht getröstet. Sie macht mit einem gemeingefährlichen Verrückten rum, aber solange sie sich nicht zu sehr verstrickt, hat sie gute Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen. Obwohl ich mir noch immer große Sorgen machte, hatten Vincents Worte mich ein wenig beruhigt. Es stimmte ja, Georgia interessierte sich im Endeffekt nur für sich selbst.

Endlich standen wir vor dem Tor zu Jean-Baptistes Haus. Vincent nahm meine Hand in seine. »Hör mal, es tut mir sehr leid, dass ich das heute Abend so vermasselt habe. Aber ich konnte nicht einfach da sitzen und nichts sagen, nachdem deine Schwester dieses ... Monster erwähnt hatte.«

»Nein, du hast ja völlig recht. Und ich glaube nicht, dass ihre Reaktion anders ausgefallen wäre, wenn du unter vier Augen mit ihr gesprochen hättest.«

»Du musst mit ihr reden«, drängte er. »Selbst wenn das zwischen Lucien und ihr bald wieder vorbei ist, befindet sie sich in sehr gefährlicher Gesellschaft.«

Ich nickte. »Ich geb mein Bestes.«

Mir war inzwischen klar, dass hinter jeder Ecke Gefahren auf Vincent und seine Anverwandten lauerten. Aber jetzt war auch eins meiner Familienmitglieder bedroht, das machte alles viel wirklicher. Und dadurch fühlte ich mich Vincent noch einmal näher — wir hatten nun einen gemeinsamen Feind. Doch ich hoffte sehr, dass Georgia auf mich hören und sich von dieser Bedrohung abwenden würde.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich.

»Ich trommle die anderen zusammen und dann geht die Jagd auf Lucien los.« Vincents Stimme sank eine Oktave, Wut loderte in seinen Augen. Und er wirkte bereit, bis zum Letzten zu gehen.

»Versprich mir, vorsichtig zu sein«, sagte ich, als mir mit Schrecken bewusst wurde, was das alles bedeuten konnte.

»Ich würde ihn gleich heute Nacht umlegen, wenn ich könnte. Aber es gibt einen Grund dafür, dass mir das bisher noch nicht gelungen ist. Solange er nicht gefunden werden will, können wir ihn auch nicht aufspüren. Er hält die Karten in der Hand.«

Als er meinen Gesichtsausdruck sah, wich ein bisschen die Härte aus ihm. »Mach dir keine Sorgen, Kate. Komm einfach morgen nach der Schule vorbei, wenn du kannst.«

»Lebst du dann noch?«

»Ja«, sagte sein Mund. In seinen Augen las ich etwas anderes. Er würde alles tun, um seinen Feind zu töten. Es war offensichtlich, dass seine eigene Sicherheit für ihn nicht an erster Stelle stand.

»Es tut mir sehr leid, dass unser Abend so zu Ende geht«, sagte Vincent, zog mich an sich und presste seine Lippen auf meine. Jeder noch so kleine Punkt, an dem wir uns berührten, löste Funken in mir aus, die durch meinen ganzen Körper stoben. Wirkt Gefahr triebsteigernd?, schoss es mir durch den Kopf. Mir wäre es lieber, er wäre in Sicherheit, als dieses Feuerwerk in mir zu spüren. Aber weil ich daran ja nichts ändern konnte, umarmte ich ihn fester und gab mich ganz diesem Kuss hin.

Viel zu früh löste er sich. »Ich muss los.«

»Ich weiß. Gute Nacht, Vincent. Und pass auf dich auf.«

»Gute Nacht, mon ange.«

Ich klopfte leise an Georgias Tür. Eine Sekunde später wurde sie grob aufgerissen und meine Schwester sah aus wie eine wild gewordene Furie. »Was zur Hölle sollte das denn?«, brüllte sie mit blitzenden Augen und knallte die Tür hinter mir wieder zu.

Ich hockte mich auf die Bettkante, während sie sich bäuchlings auf einen flauschigen weißen Teppich fallen ließ und mich wütend anstarrte.

»Es tut mir leid, dass Vincent dich vor Papy und Mamie so bloßgestellt hat. Aber es klingt wirklich so, als solltest du dich besser von Lucien fernhalten.«

Georgia fauchte: »Ach ja? Was hat Vincent denn noch gesagt?«

»Dass Lucien bekanntlich Teil einer mafiaähnlichen Vereinigung ist.« Ich versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, wie Vincent mir die Numa in dem Restaurant im Marais beschrieben hatte. »Und man erzählt sich, dass seine Partner an illegalen Geschäften beteiligt sind.«

»Was für illegalen Geschäften?«

»Prostitution, Drogen ...«

»Ach, verschon mich!« Georgia rollte mit den Augen. »Du hast ihn doch selbst kennengelernt. Lucien ist Unternehmer. Ihm gehören Bars und Klubs in ganz Frankreich. Warum sollte er in so etwas verwickelt sein?« Sie sah mich angewidert an.

»Ich glaube wirklich nicht, dass Vincent sich das ausdenken würde«, sagte ich.

»Ach nein?«, fragte sie bitter. »Woher kennt er ihn denn?«

»Er kennt ihn nicht persönlich«, log ich. Das Letzte, was ich wollte, war eine Verbindung zwischen Lucien und Vincent herzustellen, in deren Mitte Georgia und ich standen. »Er kennt nur den Ruf, der ihm vorauseilt.«

Ich zögerte, weil ich nicht wusste, wie weit ich gehen sollte. »Er hat gesagt, dass Luciens Partner sogar ein paar Morde auf dem Gewissen haben sollen.«

Für einen Augenblick sah Georgia schockiert aus, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann mir gut vorstellen, dass es in Luciens Berufswelt zu dem einen oder anderen dubiosen Geschäft kommt. Das lässt sich sicher nicht immer vermeiden in dieser Branche. Aber zu behaupten, dass er mit Mördern kooperiert ... Tut mir leid, aber das kann ich einfach nicht glauben.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Du musst es ja nicht glauben. Aber musst du ihn denn wirklich Wiedersehen?«

»Kate, wir sehen uns doch kaum. Das ist nichts Ernstes. Wir treffen uns nie privat, immer nur, wenn wir ausgehen. Ich bin mir sicher, dass er noch andere Sachen laufen hat. Genau wie ich. Das ist ja keine große Sache.«

»Wenn es sowieso keine große Sache ist und sogar die Gefahr besteht, dass er in krumme Dinge verwickelt ist, kannst du ihn dann nicht einfach ... ich meine ... kannst du ihn nicht einfach fallen lassen? Bitte, Georgia. Ich mach mir sonst Sorgen um dich.«

Für den Bruchteil einer Sekunde, weil sie den flehenden Ton in meiner Stimme gehört hatte, sah sie unschlüssig aus. Dann legte sich ein sturer Ausdruck auf ihr schönes Gesicht. »Ich muss ihn nicht Wiedersehen. Aber ich werde es tun. Ich glaube kein einziges Wort von dem, was du und Vincent über Lucien gesagt habt. Warum mischt ihr euch überhaupt plötzlich in mein Privatleben ein?«

Mit nichts, was ich jetzt noch sagen würde, hätte ich sie umstimmen können. Was sollte ich auch noch sagen? »Mein Freund hasst deinen Freund, weil Vincent ein guter Zombie und Lucien ein böser Zombie ist?« Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass sie das Interesse an Lucien verlieren würde, bevor etwas Schlimmeres passierte.

Jetzt war sie richtig wütend. Ihre niedlichen Sommersprossen verschwanden fast, weil sie vor Zorn rot anlief. Ich kannte meine Schwester. Wenn sie an diesem Punkt war, konnte man mit ihr nicht mehr vernünftig reden. Ich erhob mich, doch sie kam mir zuvor, sprang auf und öffnete ihre Zimmertür. Sie deutete auf den Flur und sagte: »Verschwinde.«