Gaspard entschuldigte sich und zog sich in die Bibliothek zurück, während Jeanne und ich langsam in die Küche gingen. Ich sah ihr dabei zu, wie sie die Spuren dieses schnellen Mahls beseitigte. Sie musste über die Jahre einiges miterlebt haben. Und ich brauchte Ablenkung. »Erzählen Sie mir was über Vincent?«

Jeanne steckte das Geschirrhandtuch in ihre Schürze. »Erst möchte ich, dass du mich duzt. Und dann mach ich dir einen Kaffee«, verlangte sie. »Wenn du so lange aufbleiben willst, bis sie zurückkommen, wirst du ihn brauchen.«

»Das wär toll, Jeanne. Danke. Trinkst du denn auch eine Tasse mit?«

»Nein, meine Liebe, das geht leider nicht. Ich muss nach Hause, meine Familie wartet auf mich.«

Sie hat Familie, dachte ich und fragte mich, warum mich das überraschte. Auch sie schien ihre Zeit unter Lebenden und Toten aufzuteilen. Zum ersten Mal fühlte ich mich mit ihr verbunden.

Sie stellte den Kaffee und ein Milchkännchen auf den Tisch und setzte sich zu mir. »Also, was kann ich dir über Vincent erzählen?«, grübelte sie. »Ich war sechzehn, als ich meine Mutter das erste Mal begleitet habe, um ihr zu helfen. Damals kümmerte ich mich ums Waschen und Bügeln. Das war vor«, sie rechnete kurz lautlos, »neununddreißig Jahren.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und kniff die Augen zusammen, als könnte sie so besser in die Vergangenheit zurückblicken. »Vincent war derselbe wie heute. Plus minus ein Jahr. Und sie passen sich ja immer alle der gerade herrschenden Mode an, damit sie nicht auffallen. Seine Haare waren etwas länger als jetzt. Oh, was fand ich ihn damals umwerfend.«

Sie beugte sich zu mir mit einem Glitzern in den Augen. »Finde ich übrigens immer noch. Obwohl er noch ein Jugendlicher ist und ich mittlerweile vierfache Großmutter.« Sie lehnte sich wieder zurück und lächelte gedankenverloren.

»Damals gab es noch mehr Revenants. Sie lebten über ganz Paris verteilt, in Häusern, die Jean-Baptistes Familie gehörten. Weil es nun nicht mehr so viele Revenants in Paris gibt, vermietet er die Häuser. Allein durch seine Immobilien verdient er ein Vermögen.«

Sie seufzte und blieb einen Moment lang still. »Jedenfalls kenne ich Vincent seit den 1970ern. Er war immer ein sehr schwermütiger Junge. Ich vermute, er hat dir mittlerweile von Hélène erzählt?«

Ich nickte und sie fuhr fort: »Nach ihrem — und natürlich seinem eigenen — Tod hat er sich emotional verschlossen und keine Gefühle mehr zugelassen. Nachdem Jean-Baptiste ihn gefunden hatte, übernahm er die Rolle eines Fußsoldaten. Nichts war ihm zu gefährlich, er suchte die Gefahr förmlich. So als könne er dadurch, dass er Hunderten Fremden das Leben rettete, wiedergutmachen, dass er diesen einen Menschen nicht hatte retten können. Und so ging es immer weiter. Er war wie ein Racheengel. Ein wunderschöner Racheengel, natürlich, aber dennoch ...«

Sie blinzelte und sah mich dann eindringlich an: »Vor ein paar Monaten kam er dann auf einmal mit diesem Funkeln in den Augen nach Hause. Ich konnte mir nicht vorstellen, was wohl passiert war. Aber wie sich herausstellte, lag das an dir.« Jeanne lehnte sich wieder zu mir und streichelte mir lächelnd mit ihrer Hand über die Wange.

»Du schönes Kind. Du hast meinem Vincent neues Leben eingehaucht. Er mag ja entschlossen und mutig sein, aber er hat eine sehr zarte Seele. Und du hast etwas in ihm berührt. Seit ich ihn kenne, war sein Antrieb immer die Rache und Pflichttreue gewesen. Vielleicht gehört er deshalb zu den wenigen Überlebenden. Und jetzt hat er ...« Sie zögerte, überlegte sich gut, was sie als Nächstes sagen wollte und entschied sich für: »... dich.«

Sie lächelte mitfühlend. »Das wird sicher keine leichte Beziehung für dich, Kate. Aber halte durch. Er ist es wert.«

Jeanne hängte ihre Schürze über den Griff an der Ofentür, gab mir einen Kuss auf die Wange und schnappte sich ihre Sachen. »Ich bring dich noch zur Tür«, schlug ich ihr vor. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich dann in diesem riesigen Haus allein sein würde — die einzige Gesellschaft bestand aus einem hundertfünfzigjährigen Revenant und der Leiche meines Freundes.

»Kommst du allein klar?«, fragte Jeanne.

»Ja«, log ich. »Kein Problem.« Wir steuerten auf den Granitbrunnen zu, der in der Mitte des Hofs stand. Ich setzte mich auf den Rand und winkte Jeanne hinterher, die durch das vordere Tor auf die Straße verschwand. Es schloss sich leise hinter ihr. Ich schaute zu der Statue hinauf, dem Engel, der eine Frau trug.

Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, wusste ich noch nicht, wer Vincent tatsächlich war. Damals hatte ich noch nie von Revenants gehört — weder von den blutrünstigen noch denen, die ihr ewiges Leben der Rettung der Menschheit verschrieben haben. Doch schon damals hatte ich den Brunnen als wahnsinnig unheimlich empfunden.

Während ich nun die himmlische Schönheit der beiden miteinander verbundenen Körper auf mich wirken ließ, stach mir die Symbolik der Skulptur förmlich ins Auge. Der gut aussehende Engel hielt eine Frau in seinen ausgestreckten Armen und wandte ihr sein Antlitz zu. Seine Züge wirkten hart und dunkel, wohingegen die Frau aus purem Licht und Milde geschaffen schien. Der Engel war ein Revenant, aber war er ein guter oder ein böser? Und war die Frau in seinen Armen tot oder schlief sie nur? Ich ging einen Schritt näher heran, um auch die Feinheiten der Statue betrachten zu können.

Das Gesicht des Engels spiegelte Verzweiflung wider. Doch da war noch etwas anderes. Besessenheit. Aber auch Zärtlichkeit. Als würde er von ihr erwarten, dass sie ihn rettet, nicht umgekehrt. Plötzlich kam mir in den Sinn, wie Vincent mich nannte: mon ange. Mein Engel. Ein Schauer überlief mich, aber nicht, weil es kalt war.

Jeanne hatte gesagt, mich kennenzulernen hätte Vincent verwandelt. Ich hätte ihm »neues Leben« geschenkt. Aber erwartete er von mir auch, dass ich seine Seele rettete?

Ich sah mir die Frau genauer an. Sie strahlte eine vornehme Stärke aus. Ihre Haut reflektierte das Mondlicht und warf einen hellen Schein auf das Gesicht des Engels. Er wirkte wie geblendet von diesem Licht. Ich kannte den Gesichtsausdruck des Engels: Er lag auch auf Vincents Zügen, wenn er mich ansah.

Ich war überwältigt, so vieles strömte auf einmal auf mich ein. Die Verwunderung darüber, dass Vincent ausgerechnet in mir gefunden hatte, wonach er suchte. Die Sorge, ob ich stark genug war, diese Last zu tragen. Noch stärker spürte ich das Verlangen, ihm zu geben, was er sich wünschte. Für ihn da zu sein. Vielleicht war ich ja dazu auserkoren, Vincent zu zeigen, dass es für ihn noch etwas anderes gab als Rache. Dass Liebe auf ihn wartete.

Fast rannte ich durch die gespenstisch erleuchteten Flure zurück in Vincents Zimmer, schwang mich auf sein Bett und rutschte näher, bis ich neben ihm lag. Auf seinem kalten Gesicht zeigte sich nichts, sein makelloser Körper war nichts als eine leere Hülle.

Ich versuchte, ihn mir so vorzustellen, wie Jeanne ihn beschrieben hatte. Als brutalen, rachsüchtigen Soldaten. Und obwohl sich mir gleich dieses unwiderstehliche Lächeln aufdrängte, das er mir immer zuwarf, hatte ich ihn auch als wütenden Rächer vor Augen. Er hatte etwas Gefährliches an sich, so wie alle Revenants.

Sterbliche wurden vorsichtiger, wenn sie spürten, dass etwas bedrohlich wurde. Diese Fähigkeit besaßen Vincent und die anderen Revenants nicht mehr. Dass sie weder Verletzungen noch den Tod fürchten mussten, gab ihnen ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das gleichzeitig beeindruckend und Furcht einflößend war.

Ich fuhr mit einem Finger über sein Gesicht und erinnerte mich an das erste Mal, als ich ihn so gesehen hatte. Sein toter Körper hatte mich damals abgestoßen, doch nun wuchs in mir die Gewissheit, dass ich mit allem klarkommen konnte, was sich mir auch in Zukunft noch bieten würde. Um mit Vincent zusammen sein zu können, würde ich stark sein müssen. Mutig.

Mein Telefon piepste. Ich sprang schnell vom Bett, um nachzuschauen, von wem ich eine SMS bekommen hatte. Sie war von Georgia:

Nicht mehr bei Party. Muss dich sofort sprechen.

Ich: Alles in Ordnung?

Georgia: Nein.

Ich: Wo bist du?

Georgia: Vor Vincents Haus.

Ich: Was??? Woher wusstest du, dass ich hier bin?

Georgia: Hast du mir erzählt.

Ich: Nein, hab ich nicht.

Georgia: Ich muss dich sprechen. Gibst du mir den Türcode?

Was sollte das? Was wollte sie? Und was sollte ich jetzt tun? Sie brauchte mich ganz offensichtlich, aber ich konnte ihr doch nicht einfach den Code schicken.

Ich: Kann ich dir nicht sagen. Ich komm raus.

Es klingelte an der Haustür. Ich rannte durch den Korridor und drückte den Knopf, der die Überwachungskamera einschaltete. Das Licht über der Kamera ging an und meine Schwester blinzelte in die Linse.

»Georgia!«, brüllte ich in das Mikrofon. »Was machst du denn hier?«

Als sie meine Stimme hörte, rief sie: »Kate, mein Gott, Kate. Es tut mir so wahnsinnig leid!«

»Was ist passiert?«, fragte ich, Panik stieg in mir auf. Es war nicht zu übersehen, dass sie große Angst hatte.

»Es tut mir so leid, es tut mir so leid«, jammerte sie und riss ihre zitternden Hände vor den Mund.

»Was tut dir leid, Georgia? Sag doch was!«, schrie ich.

»Dass sie mich hierhergeführt hat«, sagte eine leise Stimme. Dann trat Lucien hinter Georgia ins Licht und hielt ihr ein Messer an die Kehle.

»Mach das Tor auf oder ich töte sie.« Die Worte trafen mich, als würde er direkt vor mir stehen und nicht hinter einem geschlossenen Tor und einer hohen Mauer.

»Es tut mir leid, Katie«, weinte Georgia leise.

Mein Zeigefinger bewegte sich auf den Knopf zu, auf dem ein Schlüssel abgebildet war.

Gaspard rannte hinter mir die Treppe herunter. »Tu’s nicht!«, schrie er.

»Er bringt sonst meine Schwester um!«

»Ich gebe dir drei Sekunden, bevor ich ihr die Kehle durchschneide«, dröhnte Luciens Stimme durch den kleinen Lautsprecher unterhalb des Monitors. »Drei ...«

»Ich habe nur das Stockschwert bei mir. Warte, bis ich eine richtige Waffe habe«, rief Gaspard, der nun den Treppenansatz erreicht hatte und auf mich zuraste.

»Zwei ...«

Ich schaute Gaspard verzweifelt an, während ich den Knopf drückte. Das Tor öffnete sich.

»Schließ hinter mir ab, Gaspard. Lass ihn auf gar keinen Fall rein. Du musst Vincent beschützen!«, brüllte ich. Dann schlüpfte ich schnell hinaus, schlug die Tür hinter mir zu und machte mich bereit, dem Teufel die Stirn zu bieten.