Aber anstatt besser, ging es mir in der folgenden Woche immer schlechter. Am Freitag überfiel mich eine dumpfe Verzweiflung, weil sich ein schier endlos langes Wochenende vor mir erstreckte, an dem ich nichts, aber auch rein gar nichts geplant hatte.
Mittags schaltete ich mein Handy ein, um die üblichen Nachrichten von Georgia zu lesen.
Hast du dieses unglaubliche Nuttenoutfit von Du-weißt-schon-wem gesehen?
Rechnungswesen ist scheiße.
Geh heut Abend aus, kommste mit?
Ich zögerte. Dann zwang ich mich, auf ihre letzte SMS zu antworten:
Wohin?
Sie schrieb sofort zurück:
Sag ich dir nach der Schule.
Um vier Uhr erwartete mich eine ungläubige Georgia am Schultor. »Kann nicht sein, Katie-Bean. Du kommst nicht wirklich mit, oder?«
»Kommt drauf an«, sagte ich unbekümmert, um nicht so verzweifelt zu klingen, wie ich mich fühlte. »Wohin gehst du denn?«
»Zu einer Party in einem total angesagten Gewölbekeller. Der Klub-Besitzer ist ein sehr guter Freund von mir.« Sie lächelte verschlagen. Meine Schwester, die unverbesserliche Flirtqueen. »Im Ernst, das ist ziemlich cool da. Früher war das mal ein Weinkeller, jetzt ist es ein labyrinthartiger Klub, der unter mehreren Gebäuden in der Nähe der Metrostation Oberkampf verläuft. Da wimmelt es nur so von Musikern und Künstlern. Es wird dir gefallen.«
Obwohl Ausgehen nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte, war das mein einziges Freizeitangebot für dieses Wochenende. Für den ganzen Monat sogar, wenn ich ehrlich sein sollte. »Ich komm mit«, sagte ich. »Wann ziehen wir los?«
»So um neun.«
Wir fuhren mit dem Bus in die Stadt und stiegen dort in die Metro um. Als wir in unsere Straße bogen, sagte ich zu Georgia: »Ich will nicht gleich nach Hause. Ich geh noch ein bisschen spazieren. Fahr aber nicht ohne mich los.«
»Dann such ich dir schon mal was zum Anziehen raus«, erwiderte sie mit einem breiten Lächeln und ging weiter nach Hause. Ich schlug die andere Richtung ein, am geschäftigen Boulevard Saint-Germain vorbei, um durch die kleinen, verwinkelten Straßen zu streifen, die in der Nähe des Flusses verliefen.
An einer belebten Straßenecke befand sich ein Café mit einem großen Terrassenbereich. Dorthin hatte meine Großmutter mich als Kind oft mitgenommen, um Tarte Tatin zu essen. Das ist eine Apfeltarte, die verkehrt herum gebacken, aber richtig herum serviert wird, sodass die Äpfel sich in einer dicken Karamellschicht befinden. Das Café hieß La Palette, womit die Mischpalette von Malern gemeint war, denn seinen Namen hatte es vor vielen Jahren bekommen, als es noch das Stammlokal vieler ortsansässiger Maler und Bildhauer war. Es war zu weit weg von zu Hause, um mein Stammcafé zu sein, aber gelegentlich kam ich sehr gern hierher.
Ein eisiger Wind wehte durch die Straßen und die normalerweise schwer umkämpften Terrassenplätze waren fast leer. Ich drängte mich durch die Eingangstür in das warme Café, in dem es ganz wunderbar duftete. Ein Kellner hatte mich sofort erblickt und deutete auf einen leeren Tisch, der sich in einer kleinen Nische direkt hinter der Eingangstür versteckte. Perfekt. Genau das hatte ich gesucht.
Ich setzte mich, verstaute meine Tasche unter dem Tisch und schaute mich im Café um, während ich darauf wartete, dass der Kellner wieder zurückkam. Eine Gruppe Studenten unterhielt sich lautstark in einer Ecke. Ein paar Geschäftsleute beugten sich über ihre Akten. Eine auffallend schöne Frau, vermutlich Ende zwanzig, saß allein an einem Tisch. Ich sah sie mir genauer an. Dickes blondes, fast weißes Haar fiel über ihre Schultern. Die hohen Wangenknochen und hellblauen Augen gaben ihr ein leicht skandinavisches Aussehen.
Ein Mann näherte sich ihr von der Bar her. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, denn er hatte mir den Rücken zugewandt. Er setzte sich ihr gegenüber, nahm die Kaffeetasse, die vor ihm stand, und leerte sie in einem Zug. Dann legte er seine Hand auf ihre, die grazil auf der Tischplatte ruhte. Er sagte etwas zu ihr, woraufhin sie ihren Blick abwandte und auf die Tischplatte schaute. Eine Träne lief ihr über die anmutige Wange; der Mann hob sofort seine Hand, um die Träne sanft aufzufangen. Er strich ihr zärtlich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht, auf eine Art, die mir sehr bekannt vorkam.
Bei dieser plötzlichen Erkenntnis blieb mein Herz stehen. Ein kalter Schauer überlief mich. Hastig riss ich meine Tasche an mich und stieß dabei den gläsernen Salzstreuer vom Tisch, der laut scheppernd auf dem Boden landete. Die Frau warf einen Blick in meine Richtung und sagte etwas zu ihrem Begleiter. Dieser drehte sich zu mir um und erstarrte mit einem Ausdruck tiefster Erschütterung auf seinem schönen Gesicht. Ich hatte recht, es war Vincent.
Genau in diesem Augenblick erschien der Kellner wie aus dem Nichts mit einem Handfeger und Kehrblech. »Tut mir leid«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, schnappte mir meinen Mantel vom Stuhl und quetschte mich an dem Keller vorbei nach draußen.
Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Mein Gesicht war von der Kälte so taub, als hätte man mir Betäubungsmittel gespritzt. Ich hab ihn verlassen, sagte ich mir, nicht andersrum. Warum also sollte er keine Neue gefunden haben?
Sofort schoss mir durch den Kopf, dass er mich vielleicht doch angelogen hatte und er sich entgegen all seinen Beteuerungen seit seiner jugendlichen Romanze trotzdem verliebt hatte. Vielleicht war er sogar die ganze Zeit über mit dieser umwerfenden Blondine zusammengewesen. Mein gepeinigtes Herz sagte mir aber, dass das nicht stimmen konnte. Vincent würde mich nicht belügen. Und Charlotte auch nicht. Sie hatte ja ebenfalls gesagt, dass ich das erste Mädchen sei, in das Vincent sich verliebt habe, seit er ein Revenant geworden war.
Mein Zugeständnis, dass ihn absolut keine Schuld traf, weil ich diejenige gewesen war, die ihn verlassen hatte, linderte den Schmerz in meiner Brust jedoch kein bisschen.
Als ich zu Hause ankam, stürzte ich sofort in Georgias Zimmer, ohne vorher anzuklopfen. »Gehen wir«, sagte ich atemlos. Sie lächelte und hielt ein kurzes Spitzenkleid hoch.