21. Kapitel
Am darauf folgenden Montag stand gegen Mittag völlig unerwartet William vor der Tür. Sie hatte ihn damit beauftragt, das Haus von Charly zu verkaufen und das Geld für Charlott anzulegen. Außerdem hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie nun bei Josh wohnte.
"Hallo William! Schön dich zu sehen." William nickte steif und sie ließ ihn ein.
"Kann ich dir etwas anbieten?" Er schüttelte den Kopf. Er war blass und er sah aus, als wäre im nicht ganz wohl, hier zu sein. Sie bemerkte, dass er seine Aktentasche so fest umfasste, dass seine Knöchel weiß hervor traten. Hatte er Angst? Vor ihr?
"Was ist los?" Er sah ihr flehentlich in die Augen.
"Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?" Sie nickte und führte ihn in den Salon, gegenüber vom Eingang.
"Setzt dich bitte. Ich muss dir etwas sagen." Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte auch er sich.
"Ist etwas passiert? Stimmt etwas nicht mit Charlott? Oder das Haus? Niemand möchte es kaufen, richtig?"
Er atmete tief ein und ließ dann die Bombe platzen.
"Ich hab gehört, dass Derek als Rudelführer der Silver-Spring-Wölfe entlassen wurde." Cassandra sah ihn mit großen Augen an.
"Du weißt das wir... ich..." Er lehnte sich nach vorne und sah ihr tief in die Augen.
"Ja, ich weiß das du ein Wolf bist. Deshalb bin ich hier." Nach ein paar Minuten, indem sie das gesagte verarbeitete, platze ihr ungeduldig hervor: "Dann spann mich nicht länger auf die Folter." Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, Cassandra immer im Blick.
"Carla, deine Mutter, ist eine enge Freundin von mir, wir haben zusammen studiert. Als sie damals schwanger wurde, hat sie mich aufgesucht, um für eure Zukunft zu sorgen." Sie sprang auf die Füße und wurde mit einem Mal rot.
"Du kanntest meine Mutter?" Er hob eine Hand und sah sie flehentlich an.
"Ja. Bitte lass mich ausreden." Cass setzte sich wieder, obwohl sie am liebsten, genau wie er, auf und ab gegangen wäre.
"Sie hielt es für zu gefährlich euch bei sich zu behalten und hat mich damit betraut, eine gute Pflegefamilie für euch zu finden. Die Weedmans waren ebenfalls Klienten von mir und schon seit Jahren Kinderlos. Ich habe arrangiert, dass ihr zu ihnen kommt." Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Ihre Pflegeeltern hatten ihr von Anfang an gesagt, dass sie adoptiert waren. Aber das hatte das Band zwischen ihnen nie beschatten können. Sie liebten ihre Pflegeeltern und andersherum war es genauso.
"Warum erzählst du mir das alles?" Nach kurzem Zögern sagte er leise, fast flüsternd: "Da Derek keine Gefahr mehr ist, kann ich dir den Aufenthaltsort deiner Mutter anvertrauen." Cass wurde leichenblass, sprang wieder auf und stützte sich an der Lehne des Sofas ab. Dann setzte sie sich wieder hin. Ihre Beine zitterten, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Als sie ihre Hände im Schoß zusammen faltete, bemerkte sie, dass auch diese zitterten.
"Aber sie ist doch Tot." William schüttelte langsam den Kopf und sah sie mitleidig an.
"Derek hatte damals wohl angenommen, dass sie tot wäre, aber sie hat es überlebt. Willst du sie sehen?" Cass verschränkte immer wieder ihre zitternden Hände im Schoß und sah zu Boden. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Tränen der Erleichterung, immer noch eine Mutter zu haben und Tränen des Zorns, da sie sie so lange allein und im Unwissen gelassen hatte. Sie hatte mittlerweile damit angeschlossen. Seit Derek das erste Mal gesagt hatte, dass ihre Mutter tot war, war sie das auch in Cassandras Gedanken. In ihrem Herzen. Die Nachricht, dass sie noch lebte, überforderte nun ihren Verstand.
William reichte ihr einen Zettel.
"Ich habe dir die Adresse notiert. Sie weiß nicht, dass ich heute hier war. Sie hätte es mir sicherlich verboten. Ich muss wieder los." Cass rührte sich nicht vom Fleck. Sie saß nach wie vor völlig steif auf dem Sofa und starrte ins Nichts. William legte den Zettel auf den Tisch und ging zur Tür.
"Sie hatte wirklich große Angst. Nicht nur um sich selbst, sondern vor allem um euch. Bis bald." Damit schloss er leise die Tür.
Am späten Nachmittag saß Josh gedankenverloren in seinem Schlafzimmer am Schreibtisch und kontrollierte die angefallenen Rechnungen, als sein Telefon klingelte. Er sah die Nummer und nahm lächelnd das Telefonat an.
"Hallo Richard. Was gibt es?" Richard erklärte, dass sie Dereks Unterlagen durchgesehen und ein seltsames Dokument gefunden hatten, dass Josh interessieren könnte. Ein von einer Hexe unterschriebenes Dokument. Eine Vorhersage. Josh gab Richard seine Faxnummer und ließ sich das Dokument durchfaxen.
Abaddon, die stärkste Kriegerin aller Zeiten,
wird im jungfräulichen Alexandria das Licht der Welt erblicken.
Keine lebendige Frau wird es gebären, aber das Kind wird die
Lieblinge des Herren in den letzten Krieg führen. P.S. Ich hab
meine Abmachung eingehalten. Lass mich also in Ruhe. Jeanette
Jungfräuliches Alexandria? Das war sein
Revier!
Alexandria in Virginia. Wie lange wusste Derek schon davon? Hatte
er deswegen seine Männer in Joshs Revier geschickt? Jetzt wurde ihm
auf einmal alles Klar. Aus diesem Grund hatte er auch auf Josh
geschossen. Ihm war es egal, wen er traf. Sowohl ihn, als auch
Cassandra wollte er los werden. Und alles nur um dieses Kind zu
finden? Abaddon.
Von keiner lebendigen Frau geboren. Wie sollte
das funktionieren?
Er musste diese Hexe finden um Antworten zu bekommen.Verwunderte sah sich Josh im Raum um und bemerkte, dass Cass noch nicht wieder ins Zimmer zurück gekommen war. Er sah bei Emily nach, im Trainingsraum und dann in der Bibliothek, wo er sie in letzter Zeit auch schon öfter angetroffen hatte. Aber er konnte sie nirgendwo finden.
"Wenn du Cassandra suchst, findest du sie unten im Salon. Sie hat Besuch." Mark kam gerade von oben und setzte seinen Weg ins Spielzimmer fort. Josh stieg die Treppen wieder hinunter und klopfte an den Salon.
"Cass?" Er öffnete die Tür und sah sich im Raum um. Cass saß auf dem Sofa. Sie sah nicht auf, als er eintrat. Sie reagierte überhaupt nicht. Das ist nicht gut. Wieder schlechte Nachrichten?
"Alles in Ordnung? Ich hab dich überall gesucht." Wieder keine Reaktion. Er schloss die Tür hinter sich und ging auf sie zu. Er bemerkte den Zettel auf dem Tisch und las die Adresse. Soweit er sich erinnerte, was das ein altes Kloster, hier in Alexandria.
"Was ist das?" Nun stand er direkt vor ihr und sah in ihr tränenüberströmtes Gesicht. "Cassandra! Was zum Teufel ist los?" Die Antwort war nicht mehr als ein Flüstern.
"Sie lebt!" Josh runzelte die Stirn.
"Wer lebt?" Sie sah zu ihm auf und ihre smaragdgrünen Augen sprühten förmlich vor Überraschung. "Meine Mutter. Sie lebt." Er sank vor ihr auf die Knie.
"Das ist doch eine gute Nachricht. Warum weinst du denn dann?" Wieder senkte sie den Kopf und starrte auf den Boden.
"Sie hätte uns die ganze Zeit sehen können! Sie war nur ein paar Kilometer entfernt. Sie wollte uns nicht sehen. Verstehst du?" Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sagte mit zärtlicher Stimme: "Nach allem, was uns Richard und die anderen erzählt haben, wissen wir doch, wie Derek sie gehasst hat. Glaubst du, wenn sie euch bei sich behalten oder versucht hätte euch zu sehen, wäre ihm das entgangen?" Schniefend schüttelte sie den Kopf.
"Ich hab mir immer gewünscht meine richtige Mutter zu treffen. Ich wollte sie fragen, warum sie uns weggegeben hat. Warum sie uns nicht wollte." Josh setzte sich zu ihr aufs Sofa und zog sie in seine Arme.
"Das kannst du doch jetzt nachholen." Die Tränen begannen wieder zu fließen und er hielt sie einfach nur fest.
Cass nahm Joshs Hand und ging durch das große Tor des Klosters. Sie sahen sich um und Josh konnte ihr Zittern spüren. Eine Nonne blieb plötzlich vor Cassandra stehen und betrachtete sie neugierig.
"Carla?" Ihr rutschte das Herz in die Hose.
"Meine... Mutter. Kennen sie sie?" Die Nonne nickte zögernd.
"Ich bin Schwester Beate, die Klostervorsteherin. Kommen sie." Die Drei gingen zusammen in den Garten des Klosters. Er war wunderschön. Ein im Kreis angelegter Garten, in der Mitte ein Brunnen und darum vier Steinbänke. Plötzlich blieb Cass wie angewurzelt stehen. Als Josh in die Richtung sah, in die sie starrte, bemerkte er eine Frau in der Nonnenkluft, die auf einer der Bänke saß und ein Buch las. Ihr Profil glich dem von Cassandra als wären sie Zwillinge. Die Nonne, die Cassandra hier her begleitet hatte, legte ihr eine Hand auf die Schulter.
"Darf ich kurz mit ihnen sprechen?" Cass nickte benommen. Schwester Beate führte sie in ein kleines Büro und bedeutete ihnen Platz zu nehmen.
"Sie sind ihre Tochter?" Cass nickte.
"Ich bin Cassandra Weedman. Das ist mein Verlobter, Josh Caviness." Josh nickte der Frau zu und setzte sich, als auch die Nonne Platz genommen hatte.
"Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten." Cassandra beugte sich nach vorne und legte ihre Hände auf den Tisch.
"Bitte! Ich hab meine Mutter heute zum ersten Mal gesehen. Ich dachte sie wäre tot. Warum kann ich nicht einfach zu ihr?" Die Frau sah Cassandra mitleidig an.
"Sie sollen verstehen, dass ihre Mutter wahrscheinlich keine andere Wahl hatte, als sie wegzugeben." Cass stand wieder auf und sah sie ungeduldig an.
"Das soll sie mir selbst erklären." Die Nonne sah bedrückt auf die Papiere vor sich, ohne sie genau anzusehen.
"Ich bitte sie nur um fünf Minuten." Josh nahm Cassandras Hand und sie setzte sich wieder, allerdings zeigte ihre Miene Ungeduld. Schwester Beate atmete tief ein und begann dann zu erzählen: "Wir kamen damals aus der Suppenküche, wo wir oft bis spät in die Nacht halfen. In einer Gasse sahen wir Carla liegen. Zuerst dachten wir, sie wäre Tod, doch der Notarzt meinte, sie hätte noch schwache Lebenszeichen. Sie war sehr schlimm zugerichtet. Ihr Gesicht war geschwollen und blutig. An ihrem Hals hatte sie Würgemale und der Arzt sagte, sie hätte mehrere Knochenbrüche erlitten. Außerdem musste sie wohl vor kurzem entbunden haben. Wir kamen jeden Tag zu der Frau ins Krankenhaus. Als es ihr besser ging, erzählte sie uns, dass sie ihre Babys - Zwillinge - hatte weggeben müssen, weil ihr Mann gewalttätig war. Er war es auch, der sie fast getötet hätte. Doch sie wollte der Polizei nichts sagen und auch keine Anzeige erstatten. Sie kam - nachdem sie genesen war - mit zu uns ins Kloster und wurde Nonne. Einmal im Jahr kommt ein Anwalt zu ihr. Wir wussten nie, warum. Vor etwa einem halben Jahr stand er plötzlich wieder vor unserer Tür und als er das Gespräch mit ihr beendet hatte, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Sie hat mir anvertraut, dass eine ihrer Töchter bei einem Unfall gestorben war. Seitdem hat sie mit niemanden mehr als zwei, drei Worte gewechselt. Bitte seien sie behutsam mit ihr. Sie hat sie sehr geliebt. Der Anwalt hat ihr jedes Jahr Fotos und Informationen über sie beide gebracht." Ohne etwas zu antworten nickte Cass und stand auf. Sie sah so verletzlich aus, wie er sie noch nie gesehen hatte. Angst beschlich ihn.
"Soll ich dich begleiten?"
Cass blieb einen Meter vor ihrer Mutter stehen. Als diese auf sah, fiel ihr das Buch aus der Hand, in dem sie gerade gelesen hatte.
"Himmel!" Carla stand auf und wich einen Schritt zurück, eine Hand an ihrem Hals, die andere auf ihrem Bauch.
"Hallo." Carla streckte die Hand nach ihr aus und berührte Cass im Gesicht. Es fühlte sich an wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
"Ca... Cassandra!" Mit Tränen in den Augen schloss sie ihre Tochter liebevoll in die Arme. Dann gaben die Beine unter ihr nach und sie gingen zusammen auf die Knie.
"Ich dachte... Ich habe immer geglaubt, ich könne dich nie im Arm halten." Dann wich sie plötzlich zurück und stand auf. Ängstlich sah sie sich um und bemerkte Josh, der immer noch am Eingang zum Garten stand.
"Das ist Josh. Mein Verlobter." Carla sah ihn unbehaglich an.
"Er ist auch ein Wolf!" Cass nickte und ging einen Schritt auf ihre Mutter zu.
"Er hat geholfen Derek zu entmachten." Carlas Augen wurden groß.
"Ist er tot?" Cassandra schüttelte langsam den Kopf.
"Leider nicht. Er ist geflohen." Carla beruhigte sich etwas und setzte sich wieder auf die Bank. "Wer führt das Rudel jetzt? Soweit ich weiß, hat sich Derek keine neue Frau genommen." Cass setzte sich dicht neben sie und versuchte, alle sichtbaren Züge ihrer Mutter in sich aufzunehmen.
"Ich habe Richard die Rudelführung übergeben und die Anderen waren einverstanden." Carla wurde von einem Moment zum anderen zuerst blass und dann rot.
"Richard lebt noch?" Tränen der Erleichterung liefen ihr über die Wangen.
"Ich habe damals gedacht, er hätte ihn getötet. William hat gesagt, er hat Richard nicht mehr außerhalb des Hauses gesehen." Sie sah die Seelenpein auf dem Gesicht ihrer Mutter. Sie schien Richard immer noch zu lieben.
"Er wurde in den Kerker gesperrt. Derek wusste nicht, dass Richard mit dir eine Beziehung hatte. Richard hat sich nur gegen ihn aufgelehnt, als du..." Carla lächelte sie unter Tränen an.
"Ich war froh, dass Derek dachte ich wäre tot. Aber ich habe es gehasst, euch nur auf Fotos sehen zu können. Ich hab eure ganze Kindheit verpasst und Carmens Hochzeit. Die Geburt von Charlott. Einfach alles." Cass nahm Carlas Hand in ihre und stand auf.
"Wir können so vieles nachholen. Jetzt bist du nicht mehr an dieses Versteck gebunden. Du kannst wieder mit nach Hause kommen." Carla wurde kreidebleich und rührte sich nicht von der Stelle. Dann sah sie Cass tief in die Augen und entzog ihr ihre Hand.
"Ich kann nicht hier weg. Hier bin ich sicher." Cass nahm ihre Hand wieder fest in ihre.
"Bei unserem Rudel bist du genau so sicher. Wir können dich beschützen." Carla schüttelte den Kopf.
"Ich habe hier meinen Frieden gefunden. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich liebe dich über alles, aber er hätte mich beinahe umgebracht. Diese Angst und die Schmerzen kann ich nicht noch einmal ertragen." Ihre Mutter zitterte am ganzen Leib, aber Cassandra wollte nicht aufgeben. "Aber du lebst! Bitte komm mit. Ich hab dich gerade erst gefunden und möchte mit dir zusammen sein. Du bist meine Mutter!" Aber Carla wandte sich ab und stand auf.
"Es tut mir Leid." Mit diesen Worten hob sie ihr Buch auf und verließ den Garten. Als sie an Josh vorbei kam flüsterte sie: "Kümmere dich gut um mein Mädchen." Damit war sie verschwunden.
Josh ging langsam zu Cassandra, die von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Es brach ihm fast das Herz, sie so zu sehen. Er nahm sie in die Arme und ließ sie weinen. Nach einer ganzen Weile hatte sie sich wieder etwas beruhigt und schlenderte mit Josh Richtung Ausgang.
"Ich dachte sie würde sich freuen mich zu sehen. Aber sie will mich nicht bei sich haben." Josh drückte ihre Hand und erwiderte: "Cassandra. Deine Mutter liebt dich. Sie hat die ganze Zeit versucht dich zu beschützen, aber sie hat Angst. Er hat sie fast umgebracht. Versuch sie zu verstehen." Innerlich wusste sie, dass er recht hatte, aber das verletzte Kind in ihr sträubte sich gegen die Wahrheit.
"Ich muss Richard noch Bescheid sagen, dass sie lebt. Vielleicht kann er sie umstimmen." Josh sah sie unbehaglich an. Ihr Gesicht war von ihren Haaren bedeckt und er wusste nicht, ob es sie freute oder ärgerte, dass Carla vielleicht auf einen Geliebten hörte, aber nicht auf die eigene Tochter. Seine eigene Mutter hätte sich eher ein Bein ausgerissen, als eines ihrer Kinder wegzugeben. Aber er verstand auch Carlas Standpunkt. Sie war verantwortlich für diese kleinen Wesen gewesen und hatte ihrer Ansicht nach das Richtige getan. Cassandra konnte das jetzt noch nicht verstehen, dazu war sie einfach zu verletzt. Aber in ein paar Wochen, wenn sie genug Zeit zum nachdenken gehabt hatte, würde sie es begreifen. Da war er sich sicher.
Cass nahm das Telefon in die Hand uns sah zu Josh.
"Ich will nur noch kurz mit Richard reden. Dann komm ich runter." Er nickte und verließ das Zimmer. Sie starrte das Telefon an. Sollte sie Richard wirklich anrufen? Vielleicht wollte ihre Mutter es gar nicht. Aber sie hatte eindeutig noch Gefühle für den charismatischen Mann, der noch vor ein paar Tagen im Kerker saß. Und er wohl auch für sie, so wie er Cass angesehen hatte, als er dachte sie wäre Carla. Entschlossen wählte sie seine Nummer.
"Hallo Cassandra." Sie schmunzelte.
"Hallo Papa. Es klingt komisch, oder?" Richard lachte ebenfalls und erwiderte: "Nicht mehr lange und wir kennen uns besser. Dann wird dir das Papa nicht mehr so stockend von den Lippen gehen. Was gibt es?" Cass holte tief Luft und sagte: "Ich war heute bei meiner Mutter." Schweigen. Richard räusperte sich und erwiderte kleinlaut: "Ich wusste nicht, dass sie ein Grab hat. Wo ist es?" Am liebsten hätte sie gelacht, aber seine Stimme klang aufrichtig und traurig.
"Es gibt kein Grab. Carla lebt noch." Sie hörte ein poltern und kurz darauf war Richard wieder am Hörer.
"Wie bitte?"
"Hast du eben das Telefon fallen lassen?" Ohne auf ihre Frage einzugehen, bestürmte er sie seinerseits mit Fragen.
"Carla lebt noch? Wo ist sie? Wie geht es ihr?" Er klang ehrlich besorgt und verzweifelt.
"Sie lebt seit damals in einem Kloster. Sie ist sehr in sich gekehrt und ziemlich wortkarg. Aber es scheint ihr gut zu gehen." Hoffnungsvoll, ja fast vor Freude jauchzend, erwiderte er: "Ich komm sofort zu euch." Sie wollte nicht seine Hoffnungen zerstören, aber sie konnte ihn nicht belügen.
"Ich glaub du hast mich nicht verstanden. Sie ist immer noch im Kloster." Eine kurze Pause entstand.
"Warum?" Cass seufzte.
"Sie hat Angst. Egal was ich gesagt habe, sie wollte partout nicht das Kloster verlassen." Eine kurze Pause entstand.
"In welchem Kloster ist sie?" Er klang entschlossen. Cass gab ihm die Adresse und stellte dann eine Frage, die ihr schon lange auf der Seele brannte: "Ich dachte immer, Wölfe wären unsterblich. Warum hat Derek dann angenommen, dass er Carla erwürgt hat?" Wieder entstand eine kleine Pause.
"Carla war damals erst dreiundzwanzig. Weibliche Wölfe treten erst mit fünfundzwanzig in die Unsterblichkeit ein. Vorher sind sie genau so sterblich wie jeder Mensch." Sie runzelte die Stirn.
"Wie konnte sie das überleben? Die Schwestern haben gesagt, dass sie sehr schlimm zugerichtet war." Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein Knurren.
"Sie hatte schon immer einen sehr starken Willen. Ich wünschte, ich könnte Derek töten. Er hat so viele Leben zerstört. Er macht mich wahnsinnig zu wissen, dass er einfach so davon kommt." Cass konnte es ihm nachempfinden. Auch sie hätte alles dafür getan, sich an Derek zu rächen. Schon allein der Gedanke an Carmen ließ ihr Blut kochen.
"Er kann uns nichts mehr anhaben. Ich muss zum Abendessen. Tschüss Papa." Wieder schmunzelte sie.
"Bis bald, Cassandra. Und danke, dass du es mir erzählt hast." Wie er ihren Namen sagte glich jedes Mal einer Liebesbekundung. Auch wenn sie ihn erst vor kurzem kennengelernt hatte, verband sie doch etwas weit stärkeres. Sie spürte es tief in sich, eine Verbundenheit, wie sie sie auch immer bei Carmen gespürt hatte. Mit einem Lächeln legte sie auf.
Später saßen sie zusammen mit Joshs Familie am Tisch und aßen zu Abend. Die Stimmung war heiter, aber Cass konnte sich nicht richtig begeistern. Ihr sonst so fröhliches und temperamentvolles Gemüt war wie ausgelöscht. Ständig hatte sie nur im Kopf, dass ihre Mutter nicht da war. Sie aß fast nichts und Josh schenkte ihr etwas Lavendelwein ein. Eine beliebte Spezialität unter Wölfen.
"Der wird dich etwas ablenken."
Sollte sie ihm sagen, dass Alkohol ihr nichts ausmachte? Nein. Besser nicht. Sie trank ein Glas nach dem anderen, es schmeckte sehr gut. Ihr Blickfeld engte sich ein und die Stimmen der Anderen traten in den Hintergrund. Ihre Glieder wurden bleiern und sie konnte die Augen kaum noch offen halten. Nachdem sich die Anderen alle zurück gezogen hatten, saßen nur noch Josh und Cass im Esszimmer. Eigentlich war es mehr ein Speisesaal. Die Wände waren mit hellgrünem Stoff bespannt und der riesige Esstisch war aus schwerem Eichenholz. Und diese Stühle. Sie waren so bequem, dass man gar nicht mehr aufstehen wollte.
"Cassandra? Wollen wir uns auch zurück ziehen?" Sie nickte und kämpfte gegen die schweren Glieder, um sich vom Stuhl zu erheben. Sie schwankte gefährlich zur Seite und Josh hielt sie am Arm fest.
"Ich dachte mir schon, dass es zu viel Wein war." Zu viel Wein? Sie konnte doch bis jetzt immer trinken was sie wollte, ohne berauscht zu sein. Josh hob sie auf seine Arme und trug sie zur Tür. Cass lehnte ihren Kopf an seine Brust und döste, bis sie das weiche Bett unter sich spürte. Dann begann Josh sie langsam auszuziehen. Als er sie schließlich zudeckte und an sie zog, flüsterte er ihr tröstend ins Ohr: "Keine Sorge. Alles wird gut."
Carla trat in den kleinen Garten des Klosters und sah sich um. Dieser Geruch. Er brachte sie fast um den Verstand.
"Richard?" Es war nur ein Flüstern, ein kleines Gebet. Aber als sich zwei Arme um sie legten und an eine warme Brust zogen, wusste sie, dass ihre Träume wahr geworden waren. Er war zu ihr zurück gekommen.
"Richard!" Sie drehte sich um und schlang die Arme um seinen Hals. Tränen der Freude rollten über ihre Wangen und durchnässten sein Hemd.
"Hallo meine Liebste. Du glaubst nicht, wie sehr ich dich vermisst habe." Sie blieben eine Weile fest umschlungen stehen, bis sie nahende Schritte hörten.
"Schnell, komm mit." Carla zog ihn in die Räume des Klosters, direkt in ihr Zimmer. Als sie die Tür geschlossen hatte, ließ sie sich dagegen sinken.
"Weißt du eigentlich wie spät es ist?" Er schenkte ihr sein charmantestes Grinsen.
"Cassandra hat mir gesagt, dass du noch lebst. Glaubst du wirklich, ich würde auch nur eine Stunde darauf warten dich wieder zu sehen?" Er kam zu ihr und umarmte sie liebevoll.
"Seit über dreißig Jahren sehne ich mich nach diesem Gefühl, dass du wieder in meinen Armen liegst. Ich habe dich so sehr vermisst." Carla schmiegte sich an ihn und krallte sich in sein Hemd. Sein Geruch versetzte sie wieder zurück in ihre Jugend. In einen Garten, wo er ihr gestanden hatte, dass er sie liebte. An geheime Nächte, als er es ihr bewiesen hatte. Tränen liefen wieder über ihre Wangen.
"William hat dich nie wieder außerhalb des Herrenhauses gesehen. Deswegen dachte ich, du wärst tot. Ein Teil meines Herzens ist damals mit dir gestorben." Er sah sie mit leuchtenden Augen an. "Komm mit mir zurück. Cassandra hat die Rudelführung an mich weitergegeben und die anderen sind alle einverstanden. Ich kann dich beschützen. Du wärst bei mir sicher." Carla klammerte sich wieder an ihn. Diese Entscheidung zerriss ihr das Herz. Aber sie konnte nicht von hier weg. In den zweiunddreißig Jahren, die sie hier verbracht hatte, war die Klostermauer ihr Schutzschild geworden. Die anderen Frauen waren ihr wie richtige Schwestern ans Herz gewachsen. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen.
"Richard." Sie spürte, wie sich der Druck seiner Arme verstärkte.
"Ich kenne diesen Ton an dir. Du wirst mit mir kommen. Keine Widerrede." Sie drückte sanft gegen seine Schulter und er ließ sich etwas weg drücken, ohne sie aus seiner Umklammerung zu entlassen.
"Ich kann nicht. Und du kannst mich nicht zwingen. Ich habe mit meinem alten Leben abgeschlossen und hier meinen Frieden gefunden." Sein trauriger Blick durchbohrte sie wie tausend Messer. Ein zittriges "Carla" wich von seinen Lippen, bevor er sie los ließ und tief Luft holte.
"Ich liebe dich." Nach diesen letzten, verzweifelten Worten verließ er ihr Zimmer und Carla blieb schluchzend zurück.