18. Kapitel
Cassandra lag quer über Joshs Brust und hörte auf seinen Herzschlag.
"Mit dir ist es so schön. Und damit meine ich nicht nur den Sex." Er strich ihr mit der Hand durch das seidige Haar. Er war auch verwundert, wie gut sie doch zusammen passten, auch wenn ihre Meinungsverschiedenheiten immer wieder im lautstarken Streit endeten. Sie mussten halt noch etwas daran arbeiten.
Plötzlich tönte ein lauter Schrei durch das Haus. Cassandra hob ruckartig ihren Kopf und sah mit weit aufgerissenen Augen zu Josh.
"Was ist denn das für ein Geschrei?" Josh sah ihr beklommen in die Augen.
"Das war Sylvester." Sie legte ihren Kopf schief.
"Dein Bruder?" Er nickte.
"Was ist mit ihm?" Außer einem Schulterzucken brachte er keine andere Regung zustande.
"Seit dem Tod dieser Frau ist er dem Wahnsinn nahe. Niemand dringt mehr zu ihm durch. Entweder ist er apathisch oder er schreit herum." Er sah, wie sie die Stirn runzelte.
"Wo ist er denn jetzt?" Sie würde ihn für die Antwort verdammen, dass wusste er jetzt schon.
"Im Keller." Plötzlich saß sie aufrecht im Bett.
"Das ist doch nicht dein Ernst." Doch Josh sagte darauf nichts.
"Du kannst doch nicht deinen eigenen Bruder im Keller einsperren." Er setzte sich ebenfalls auf, sah ihr aber nicht in die Augen. Er wollte nicht ihre Verachtung sehen, denn er verachtete sich selbst schon genug dafür.
"Was sollte ich denn sonst tun? Er ist eine Gefahr für alle im Haus." Daraufhin verstummte sie. Ihm war auch nicht wohl bei dem Gedanken, dass ein Mensch irgendwo in einem dunklen Keller in Ketten lag und seinen Schmerz über den Verlust einer geliebten Person nicht verarbeiten konnte. Sie legte ihm zärtlich eine Hand an die Wange und gab ihm einen Kuss. Kein leidenschaftlicher, sondern ein tröstender. Er hatte mit Streit oder zumindest einer lautstarken Auseinandersetzung gerechnet, aber nicht mit Verständnis ihrerseits. Noch während sie ihn küsste, setzte sie sich auf seinen Schoß und umarmte ihn.
"Es tut mir Leid wegen deinem Bruder. Ich hatte gedacht, dass er sich in der Zwischenzeit wieder etwas beruhigt hätte." Josh schüttelte traurig den Kopf und zog sie stärker in seine Umarmung. "Ich wünschte, es wäre so." Sie vergrub ihre Hände in seinen Haare und begann seinen Kopf zu kraulen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund beruhigte ihn diese Berührung.
"Wisst ihr schon etwas über diese Maya? Wir müssen ihre Familie darüber informieren, was passiert ist." Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter und genoss die Wärme ihres nackten Körpers.
"Wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, aber es ist, als hätte diese Maya nie existiert." Sie blieben noch eine ganze Weile in dieser einvernehmlichen Ruhe sitzen und kuschelten sich dicht aneinander.
Plötzlich setzte sie sich wieder auf.
"Ich muss Charly noch Bescheid sagen, dass ich wieder da bin." Josh umschlang sie mit seinen starken Armen und drückte sie an sich.
"Warum machst du das nicht morgen?" Sie kicherte und er liebte dieses Geräusch von Minute zu Minute mehr.
"Wir haben für uns noch so viel Zeit. Charly werde ich nur noch ein paar Jahrzehnte sehen." Er sah die Entschlossenheit in ihren Augen und gab seufzend nach.
"Aber Evan fährt dich und bringt dich auch wieder zurück." Als Cass einen Einwand einwerfen wollte, schnitt er ihr mit einem Kuss das Wort ab.
"Keine Widerrede. Und nun geh schon." Cass lächelte voller freudiger Erwartung übers ganze Gesicht und zog sich an. Als sie ihren Rock angezogen hatte, knurrte er erregt.
"Den werde ich dir nachher so schnell vom Leib reißen, dass du nicht mal halt sagen kannst." Cassandra grinste und schloss die letzten Knöpfe der Bluse.
"Du kleiner Schelm. Wart nur ab, was ich mit deiner Hose mache." Sein Lächeln war göttlich, als er antwortete: "Ich werde aber keine Hose tragen." Wieder musste Cass grinsen und verließ mit einem Handkuss das Zimmer.
Auf dem Weg zur Garage traf sie Evan.
"Hallo Süße. Der Chef meinte, ich soll dich chauffieren." Cass verdrehte sie Augen.
"Wohl eher überwachen." Sie und Evan lachten herzlich und gingen in die Garage.
Nachdem Evan vor Charlys Haus gehalten hatte, drehte sich Cass zu ihm um und sah ihm ernst in die Augen.
"Das wird sicher etwas dauern." Evan grinste verschmitzt.
"Josh sagte, ich soll dich fahren und auch wieder Heim bringen." Sie stöhnte genervt auf.
"Evan, bitte! Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich ruf Josh an wenn ich fertig bin." Evan überlegte kurz und sah prüfend zum Haus.
"Ich weiß nicht..." Cassandra verdrehte die Augen. Da mussten wohl schärfere Geschütze ran.
"Ich bin bald deine... wie heißt das dann eigentlich? Rudelführerin?" Evan grinste.
"Chefin." Sein grinsen war ansteckend. Er brach sicher die Herzen aller Frauen in dieser Stadt. "Gut. Ich bin bald deine Chefin und ich würde für diesen Gefallen schon mal bei ein paar kleineren Fehltritten ein Auge zudrücken." Er ließ sich nicht erweichen.
"Bitte! Ich hab so viel mit meinem Schwager zu bereden und wenn ich weiß, dass du auf mich wartest, kann ich mich nicht entspannen." Er legte seinen Kopf schief und sah sie eindringlich an.
"Dir ist hoffentlich klar, dass Josh mich umbringen wird." Sie lachte entzückt auf und öffnete die Tür. Evan hielt sie am Arm zurück und sah sie dieses Mal sehr ernst an.
"Bitte ruf bei der kleinsten Ungereimtheit an. Du bist sein Leben. Ich will nicht wissen, wie er reagiert wenn dir etwas passieren sollte. Dein Verschwinden war schon hart genug für ihn." Ihr Herz erwärmte sich sofort, als sie spürte, wie viel ihm sein Chef bedeutete. So loyale Männer traf man nicht oft. Mit einem Nicken stieg sie aus dem Wagen und ging die Auffahrt zum Haus hoch. Erst als sie zur Tür herein getreten war, hörte sie, wie Evan davon fuhr.
"Charly?" Cass kam in den Flur und ging gleich ins Wohnzimmer, wo Charly normalerweise immer mit Charlott spielte. Aber dort war er nicht. Dann hörte sie von der Küche her ein leises Wimmern.
Charlott!
Ohne nachzudenken rannte sie über den Flur in die Küche. Als sie
die große Blutlache auf dem Boden sah, drehte sich ihr der Magen
um."Charly? Oh mein Gott! Charly!" Sofort fiel sie auf die Knie und drehte ihren Schwager auf den Rücken. Quer über seine Kehle hatte er einen tiefen Schnitt. Sehr tief. Sein Kopf hing nur noch an der Haut seines Nackens. Seine glasigen Augen starrten ausdruckslos an die Decke. Galle stieg in ihr hoch und für einen Moment tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen.
Nein. Sie würde jetzt nicht ohnmächtig
werden.
"Er war nicht sehr kooperativ." Cass erstarrte und wollte für einen Moment nicht glauben, wessen Stimme sie da gerade hörte. Nach Sekunden der Stille sah sie auf und entdeckte Derek, der mit Charlott im Arm auf einem der Küchenstühle saß. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. "Wieso?" Derek zuckte mit den Schultern.
"Er wollte die Kleine nicht raus rücken. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er auch ein Wolf ist. Aber wenn er keiner gewesen wäre, würde dieses Ding nicht existieren. Es gibt eindeutig zu viele, die nicht wissen, was sie sind." Ungläubig starrte sie wieder zu Charly.
"Er war auch einer?" Daher der ständige Duft nach frischem Regen. Sie konnte es nie richtig verstehen, dass sie ihn ohne Vorbehalte akzeptierte, nachdem sie die anderen Freunde ihrer Schwester immer vergrault hatte. Das er auch ein Wolf war, könnte ein Grund gewesen sein. Wenn Carmen und sie zur Hälfte ein Wolf waren, fühlten sie sich in deren Gegenwart sicher. Carmen hatte immer von einem tiefen und festen Band zwischen ihr und Charly gesprochen. Jetzt verstand sie es, weil sie das Gleiche bei Josh spürte.
"Ja, aber er war nicht sehr stark. Ich habe nicht lange gebraucht, um meinen Standpunkt zu bekräftigen." Sie sah wieder in Charlys leere Augen. Alles vor ihren Augen verschwamm, als ihr immer wieder Tränen in die Augen stiegen und ihr die Wangen herunter liefen.
"Du hast ihn umgebracht! Warum?" Er grinste sie an und dieses schöne Gesicht, von dem sie einst gedacht hatte, es gehörte einem längst vergessenen Verwandten, widerte sie nur noch an.
"Ich wollte eigentlich nur die Kleine. Sie ist mir im Weg und muss genau wie Carmen verschwinden." Er hob seine rechte Hand, in der er ein blutiges Messer hielt. Damit hatte er Charly getötet. Als es sich immer weiter Charlott näherte, die sich in seinen Armen wand, schrie Cass gequält auf: "Nein! Nicht Charlott. Sie ist doch noch ein Baby." Derek lachte sie mit einer grausamen Grimasse an.
"Wenn du keine Probleme machst und freiwillig mitkommst, könnte ich mich überreden lassen, die Kleine zu verschonen." Sie sah zu Charlott, die immer noch in seinen Armen wimmerte und sich vergeblich nach ihren Vater streckte. Eine eisige Kälte verbreitete sich in Cassandras Körper und sie fühlte sich wie Tot geweiht. Wenn sie jetzt mit ihm gehen würde, wären sie beide Tot. Aber besser, als gleich hier zu sterben. Neben Charly auf dem Küchenboden.
"Gib mir dein Wort, dass du sie in Ruhe lässt!" Er erwiderte mit ungerührter Miene: "Ich gebe dir mein Wort." Was wohl nicht viel bedeutet. Aber es war immerhin etwas, worauf sie sich für diesen Moment stützen konnte. Sie musste Zeit gewinnen, damit Josh ihr helfen konnte. Ihr und Charlott. Sicher konnte er sie über ihr Handy orten. Cassandra stand auf und ging schwankend zu ihm hinüber. Ihre Beine fühlten sich taub an und sie wusste, dass sie leichenblass war. Sie streckte ihre Arme aus und er gab ihr Charlott ohne Wiederworte. Als die Kleine in Cassandras Armen lag, seufzte sie kurz und fiel in einen tiefen Schlaf. Sie musste sehr erschöpft sein.
Wie viel sie wohl schon von den Geschehnissen
mitbekam und verstand?
Cass zerriss es fast das Herz. Erst ihre Mutter und jetzt auch noch
ihr Vater.
Nun war sie eine Waise.
Wie Carmen und sie damals. Derek legte ihr den Arm auf den Rücken
und schob sie Richtung Tür."Meine Tasche!" Er schien zu ahnen, was ihr durch den Kopf ging.
"Die bleibt hier. Ich werde garantiert nicht das Risiko eingehen, dass dein Freund uns aufspüren kann." Ein letzter, tränenschwerer Blick fiel auf Charlys Körper, dann ging sie mit einem leisen Schluchzen voraus.
Am späten Nachmittag machte sich Josh langsam Sorgen um Cass. Sie wollte doch nur kurz zu ihrem Schwager. Evan war, nachdem er sie bei Charly abgesetzt hatte, zu ihm gekommen und hatte von ihrer Sturheit erzählt. Josh machte ihm keinen Vorwurf. Er kannte Cassandra mittlerweile viel zu gut, um zu glauben, dass sie sich wie ein kleines Kind überwachen ließ. Aber sie war schon bedeutend zu lange weg.
Ob sie sich nur mit Charly verquatscht
hatte?
Er zog sein Handy heraus und rief sie an.
Niemand nahm ab.
Als er es ein zweites Mal versuchte, war ihr Handy ausgeschaltet.
Wollte sie nicht mit ihm reden oder war nur der Akku alle? Dann
wählte er Charlys Nummer. Aber auch dort nahm niemand ab. Waren sie
irgendwohin gegangen? Aber dann hätte Cassandra ihm sicher Bescheid
gegeben. Sie wusste, dass er sich Sorgen machen würde. Er suchte
über das integrierte Internet die Nummer von Charlys Arbeit heraus
und rief dort an. Sein Magen zog sich immer mehr zusammen und ein
ungutes Gefühl beschlich ihn.
Das war nicht gut.
Als endlich eine Schwester an das Telefon ging und er nach Charly
fragte, antwortete diese nur: "Nein, Dr. Cunningham ist noch nicht
da. Wir warten schon seit einer Stunde auf ihn. Zuhause geht
niemand ran und auf seinen Pager reagiert er auch nicht." Josh
bedankte sich und ging sofort zur Garage. Unterwegs schaltete er
die Handyortung von Cassandras Mobiltelefon ein, dass sich immer
noch in Charlys Haus befand. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar
nicht.
Hatten sie sich gestritten? War etwas mit dem
Baby?
Sämtliche Alarmglocken schrillten in seinem Kopf los und er spürte,
wie eine leise Panik ihn überkam. Sein Herz krampfte sich so stark
zusammen, dass er meinte, jeden Moment könnte es aufhören zu
schlagen. Sein Wagen brauste durch den Stadtverkehr und er hoffte,
dass nirgendwo eine Polizeistreife auf ihn aufmerksam wurde. Er
hatte Glück und kam unbehelligt bei Charlys Haus an. Seinen Wagen
parkte er neben Charlys roten Geländewagen in der Auffahrt und ging
dann zur Haustür.Wie schon beim letzten Mal, waren die Türen nicht verschlossen. Im Haus war es still. Josh trat in den Flur und witterte sofort Blut.
Viel Blut.
Als er in die Küche kam, bemerkte er das ganze Massaker. Charly lag
auf dem Boden, fast komplett Enthauptet. Blut überströmt. Er kniete
sich zu ihm und schloss seine Augenlider. Dann bemerkte er etwas
neben ihm. Anscheinend hatte Cass ihm einen Hinweis
überlassen.DEREK
Sie hatte es in Charlys geronnenes Blut geschrieben, sodass man es erst beim genaueren hinsehen erkennen konnte.
"Verdammt!" Josh sprang auf und rief bei seinem Rudel in der Villa an. Emily meldete sich.
"Sag bitte Erik, dass Cassandra und das Baby entführt wurden. In ihrem Haus liegt die Leiche ihres Schwagers. Kümmert euch darum." Emilys Stimme zitterte, als sie fragte: "Was machst du jetzt?" Es gab nur eine Möglichkeit, um Cassandra zurück zu holen. Er musste in das fremde Revier der Silver-Spring-Wölfe.
"Ich weiß wo sie ist. Ihr haltet euch raus. Das ist meine Angelegenheit." Damit legte er auf und setzte sich in sein Auto. Dann fuhr er Richtung Potomak River. An der Brücke stellte er sein Auto ab und rannte los. Er konnte nicht riskieren, das Auto auf der anderen Seite abzustellen, da es ein Beweis für das Übertreten der Grenzen gewesen wäre. Dereks Leute hatten bis jetzt noch keine Beweise hinterlassen, also konnte Josh keinen Krieg beginnen. Aber Derek hätte damit freie Hand und Joshs Rudel war zur Zeit geschwächt. Das konnte er nicht riskieren.
Cassandra saß mit Charlott in einem feuchten, kalten und noch dazu dreckigen Keller. Sie wagte es nicht sich zu rühren.
Überall Schmutz.
Es schüttelte sie. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Wohnung. Der
Geruch nach Farbe und Desinfektionsmittel. Dann versuchte sie sich
an den Geruch von Joshs Bett zu erinnern. Waschmittel und Stärke.
Als sie an Josh dachte, lief ihr ein kleiner Schauer über den
Rücken.Plötzlich bewegte sich das kleine Energiebündel in ihren Armen heftig auf und ab. Charlott war seit der Ankunft wieder wach und sah sich neugierig um. Ihr schien der Dreck nichts auszumachen. Wie gern hätte sie jetzt zumindest ihre Desinfektionstücher. Die Bluse, mit Charlys Blut, klebte an ihrer Haut und als sie daran dachte, wie er dort auf dem Küchenboden lag, brach sie in Tränen aus. Das war einfach alles zu viel. Aus heiterem Himmel fing auch Charlott an zu weinen.
"Schhh. Tut mir Leid. Ich werde für dich stark sein. Ich bin jetzt deine Familie." Charlott hörte abrupt auf. Mit großen Augen sah die Kleine zu Cassandra auf und streckte ihre kleinen, pummeligen Händchen nach ihrem Gesicht aus.
Ich werde stark sein.
In diesen Moment ging die Tür auf und ein Mann trat ein.
"Derek will dich sehen. Die Kleine auch."
Ich hätte sie auch garantiert nicht in diesem
Dreckloch gelassen.
Mit wackeligen Beinen und besorgt irgendetwas anzufassen, rappelte
sie sich langsam auf. Als sie sich der Tür näherte, kniff der Mann
feindselig die Augen zusammen."Keine Mätzchen. Im Haus schlafen schon alle." Sie nickte und ließ sich von ihm am Arm anfassen und durch die Gänge geleiten. Alles war so ruhig. Man hätte denken können, im Haus wäre niemand außer ihnen.
Wer konnte wohl für so ein Scheusal wie Derek
arbeiten?
Charlott schmiegte sich enger an Cassandra.Im ersten Obergeschoss blieb der Mann stehen und öffnete ihr eine Tür. Dann schob er sie hinein und schloss sie wieder. Vor ihr am Schreibtisch saß Derek.
"Hallo Cassandra. Schön dich wieder zu sehen."